Aktuarische Prognose: Unterschied zwischen den Versionen

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Der Begriff '''Aktuarische Prognose''' (von lateinisch ''actuarius'' - "Schnellschreiber" oder "Buchhalter" und griechisch πρóγνωσις - "Vorwissen" oder wörtlich "Voraus-Kenntnis") bezeichnet einen methodischen Idealtypus zur Vorhersage kriminellen Verhaltens, der bei der Konstruktion konkreter Vorhersageverfahren in Form von [[Prognoseinstrument]]en auf aktuarische Modelle, d.h. auf wahrscheinlichkeitstheoretische und statistische Modelle der Versicherungs- und Finanzmathematik, zurückgreift. Neben dem Begriff "aktuarisch" werden in der Literatur gelegentlich auch die Bezeichnungen "statistisch", "nomothetisch", "formal", "mechanisch" oder "algorithmisch" verwendet.
Der Begriff '''Aktuarische Prognose''' (von lateinisch ''actuarius'' - "Schnellschreiber" oder "Buchhalter" und griechisch πρóγνωσις - "Vorwissen" oder wörtlich "Voraus-Kenntnis") bezeichnet einen methodischen Idealtypus zur Vorhersage kriminellen Verhaltens, der bei der Konstruktion konkreter Vorhersageverfahren in Form von [[Prognoseinstrument]]en auf aktuarische Modelle, d.h. auf wahrscheinlichkeitstheoretische und statistische Modelle der Versicherungs- und Finanzmathematik, zurückgreift. Neben dem Begriff "aktuarisch" werden in der Literatur gelegentlich auch die Bezeichnungen "statistisch", "nomothetisch", "formal", "mechanisch" oder "algorithmisch" verwendet.


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=== Kriminalpolitische Gefahren ===
=== Kriminalpolitische Gefahren ===
Bezüglich der kriminalpolitischen Vorbehalte der aktuarischen Prognose führt [[Bernard E. Harcourt]], US-amerikanischer Kriminologe und prominenter Skeptiker des aktuarischen Paradigmas, vor allem die Übertragung des prognostischen Vorgehens auf den Bereich der Aufdeckung von Straftaten durch Ermittlungsbehörden auf. Besonders prägnant zeigen sich die kriminalpolitischen und ethischen Gefahren beim sogenannte Racial Profiling, im Zuge dessen US-amerikanische Polizeibeamte Angehörige bestimmter ethnischer Gruppierungen aufgrund deren (angeblichen) erhöhten Wahrscheinlichkeit, strafrechtlich relevantes Verhalten zu zeigen, vorrangig kontrollieren. Gemäß Harcourt führt dieses Vorgehen zwangsläufig zu einer Verzerrung von Kriminalitätsraten, die den scheinbaren empirischen Zusammenhang umso mehr unterstützt und auf diese Weise als selbsterfüllende Prophezeiung wirkt, die er als Ratchet Effect bezeichnet.   
Bezüglich der kriminalpolitischen Vorbehalte der aktuarischen Prognose führt [[Bernard E. Harcourt]], US-amerikanischer Kriminologe und prominenter Skeptiker des aktuarischen Paradigmas, vor allem die Übertragung des prognostischen Vorgehens auf den Bereich der Aufdeckung von Straftaten durch Ermittlungsbehörden auf. Besonders prägnant zeigen sich die kriminalpolitischen und ethischen Gefahren beim sogenannten [[Racial Profiling]], im Zuge dessen US-amerikanische Polizeibeamte Angehörige bestimmter ethnischer Gruppierungen aufgrund deren (angeblich) erhöhten Wahrscheinlichkeit, strafrechtlich relevantes Verhalten zu zeigen, vorrangig kontrollieren. Gemäß Harcourt führt dieses Vorgehen zwangsläufig zu einer Verzerrung von Kriminalitätsraten, die den scheinbaren empirischen Zusammenhang umso mehr unterstützt und auf diese Weise als [[selbsterfüllende Prophezeiung]] wirkt, die Harcourt als [[Ratchet Effect]] bezeichnet.   


=== Formal-juristische Anwendungsgrenzen ===
=== Formal-juristische Anwendungsgrenzen ===
Aus juristischer Sicht wird vor allem kritisiert, dass es sich bei aktuarischen Prognose um keine Individualprognosen handelt, sondern lediglich gruppenstatistische Zuordnungen erlauben. Damit werden aktuarische Prognosen allerdings den vom Gesetzgeber aufgestellten rechtlichen Anforderungen strenggenommen nicht gerecht.
Aus juristischer Sicht wird vor allem kritisiert, dass es sich bei aktuarischen Prognosen strenggenommen um keine Individualprognosen handelt, sondern lediglich gruppenstatistische Zuordnungen durchgeführt werden. Damit werden aktuarische Prognosen allerdings den vom Gesetzgeber aufgestellten rechtlichen Anforderungen nicht gerecht, da diese eine auf den individuellen Straftäter bezogene prognostische Einschätzung voraussetzen.  


== Literatur ==
== Weblinks und Literatur ==


* Donald A. Andrews, James Bonta: The Psychology of Criminal Conduct. 4. Auflage. Anderson, Cincinnati 2007, ISBN 1593453213.
* Donald A. Andrews, James Bonta: The Psychology of Criminal Conduct. 4. Auflage. Anderson, Cincinnati 2007, ISBN 1593453213.
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* R. Karl Hanson, Kelly Morton-Bourgon: The Accuracy of Recidivism Risk Assessments for Sexual Offenders: A Meta-Analysis of 118 Prediction Studies. In: Psychological Assessment. Bd. 21, Nr. 1, 2009, S. 1-21.
* R. Karl Hanson, Kelly Morton-Bourgon: The Accuracy of Recidivism Risk Assessments for Sexual Offenders: A Meta-Analysis of 118 Prediction Studies. In: Psychological Assessment. Bd. 21, Nr. 1, 2009, S. 1-21.
* Bernard E. Harcourt: Against Prediction. Profiling, Policing, and Punishment in an Actuarial Age. The University of Chicago Press, Chicago 2007, ISBN 0-226-31614-9.
* Bernard E. Harcourt: Against Prediction. Profiling, Policing, and Punishment in an Actuarial Age. The University of Chicago Press, Chicago 2007, ISBN 0-226-31614-9.
*[http://www.trinitinture.com/documents/harcourt.pdf Harcourt, Bernard E. (2005) Against Prediction. Manuskript]
* Hornell Hart: Predicting Parole Success. In: Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology. Bd. 14, Nr. 3, 1923, S. 405-413.
* Stephen D. Hart u. a.: Precision of Actuarial Risk Assessment Instruments: Evaluating the ‘Margins of Error’ of Group vs. Individual Predictions of Violence. In: British Journal of Psychiatry. Bd. 190, Nr. S49, 2007, S. 60-65.
* Stephen D. Hart u. a.: Precision of Actuarial Risk Assessment Instruments: Evaluating the ‘Margins of Error’ of Group vs. Individual Predictions of Violence. In: British Journal of Psychiatry. Bd. 190, Nr. S49, 2007, S. 60-65.
* Thomas R. Litwack: Actuarial versus Clinical Assessments of Dangerousness. In: Psychology, Public Policy, and Law. Bd. 7, Nr. 2, 2001, 409-433.
* Thomas R. Litwack: Actuarial versus Clinical Assessments of Dangerousness. In: Psychology, Public Policy, and Law. Bd. 7, Nr. 2, 2001, 409-433.
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* Peter B. Hoffman, James L. Beck: Parole Decision-Making: A Salient Factor Score. In: Journal of Criminal Justice. Bd. 2, Nr. 3, 1974, S. 195-206.  
* Peter B. Hoffman, James L. Beck: Parole Decision-Making: A Salient Factor Score. In: Journal of Criminal Justice. Bd. 2, Nr. 3, 1974, S. 195-206.  
* Vernon L. Quinsey u. a.: Violent Offenders: Appraising and Managing Risk. 2. Auflage. American Psychological Association, Washington 2006, ISBN 1-59147-343-8.
* Vernon L. Quinsey u. a.: Violent Offenders: Appraising and Managing Risk. 2. Auflage. American Psychological Association, Washington 2006, ISBN 1-59147-343-8.
* Martin Rettenberger und Reinhard Eher, Aktuarische Kriminalprognosemethoden und Sexualdelinquenz: Die deutsche Version des SORAG. MschrKrim 90. Jahrgang, Heft 6, 2007: 484-497.
* Frank Urbaniok u. a.: Forensische Risikokalkulationen: Grundlegende methodische Aspekte zur Beurteilung der Anwendbarkeit und Validität verschiedener Verfahren. In: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie. Bd. 76, Nr. 8, 2008, S. 470-477.
* Frank Urbaniok u. a.: Forensische Risikokalkulationen: Grundlegende methodische Aspekte zur Beurteilung der Anwendbarkeit und Validität verschiedener Verfahren. In: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie. Bd. 76, Nr. 8, 2008, S. 470-477.


== Weblinks ==
 


* Aktuarische Prognose bei Sexualstraftätern: http://www.static99.org/
* Aktuarische Prognose bei Sexualstraftätern: http://www.static99.org/
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