Affäre zum Luftschlag von Kunduz (3./4.9.2009): Unterschied zwischen den Versionen

Zeile 45: Zeile 45:
=== Nachphase: Zeitraum ab dem Bombenabwurf (dauert noch an) ===
=== Nachphase: Zeitraum ab dem Bombenabwurf (dauert noch an) ===


Die fragwürdige Vorgehensweise des Obersts Klein und seines Fliegerleitoffiziers stellen jedoch nur einen Strang der Affäre dar. Der politisch wesentlich bedeutungsvollere schließt sich erst an diesen "folgenreichsten von Deutschen verantworteten Militärschlag seit dem Zweiten Weltkrieg" [http://www.stern.de/politik/ausland/luftschlag-nahe-kundus-oberst-klein-behinderte-ermittlungen-1529733.html] an. Hätte es nicht jenes verhängnisvolle "Info-Desaster" (SPIEGEL 38/2009: 80) gegeben - die Bombardierung wäre vielleicht eine Bundeswehr- bzw. Nato-interne Angelegenheit geblieben. Doch was folgte, kommt einem verteidigungspolitischen Erdbeben gleich, das bereits mehreren Spitzenpolitikern bzw. -militärs das Amt kostete:
Die fragwürdige Vorgehensweise des Obersts Klein und seines Fliegerleitoffiziers stellen jedoch nur einen Strang der Affäre dar. Der politisch wesentlich bedeutungsvollere schließt sich erst an diesen "folgenreichsten von Deutschen verantworteten Militärschlag seit dem Zweiten Weltkrieg" [http://www.stern.de/politik/ausland/luftschlag-nahe-kundus-oberst-klein-behinderte-ermittlungen-1529733.html] an. Hätte es nicht jenes verhängnisvolle "Info-Desaster" (SPIEGEL 38/2009: 80) gegeben - die Bombardierung wäre vielleicht eine Bundeswehr- bzw. Nato-interne Angelegenheit geblieben. Doch was folgte, kommt einem verteidigungspolitischen Erdbeben gleich, das bereits mehrere Spitzenpolitiker bzw. -militärs das Amt kostete:


*4.9.2009
*4.9.2009
Zeile 55: Zeile 55:
*5.9.2009
*5.9.2009


Das Initial Action Team (IAT) - ein ISAF-Voruntersuchungsteam in Begleitung eines Reporters der "Washington Post" - überfliegt den Schauplatz des Luftangriffs in großer Höhe; es wird den Ermittlern sogar verboten, sich zwecks besserer Sicht aus dem Hubschrauber zu lehnen. Die Ermittler fühlen sich von den Deutschen zunehmend "verarscht". Bei einem anschließenden Krankenhausbesuch drängt Oberst Klein wiederholt zur Eile. Auch rät er energisch von dem für den Nachmittag geplanten Besuch der Sandbank durch den Oberkommandierenden McChrystal ab.
Das Initial Action Team (IAT) - ein ISAF-Voruntersuchungsteam in Begleitung eines Reporters der "Washington Post" - überfliegt den Schauplatz des Luftangriffs in großer Höhe; es wird den Ermittlern sogar verboten, sich zwecks besserer Sicht aus dem Hubschrauber zu lehnen. Die Ermittler fühlen sich von den Deutschen zunehmend "verarscht" (SPIEGEL 5/2010: 48f.). Bei einem anschließenden Krankenhausbesuch drängt Oberst Klein wiederholt zur Eile. Auch rät er energisch von dem für den Nachmittag geplanten Besuch der Sandbank durch den Oberkommandierenden McChrystal ab.


Abends erhält der Generalinspekteur der Bundeswehr, [[Wolfgang Schneiderhan]], eine zweiseitige Stellungnahme Kleins, aus der hervorgeht, dass dieser sich in den frühen Morgenstunden des 4.9.2009 entschloss, "zwei [...] entführte Tanklastwagen sowie die an den Fahrzeugen befindlichen Insurgent durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten. [...] Ich gab letztendlich den Befehl zum Einsatz der Bomben, weil [...] ich nach allen mir [...] zur Verfügung stehenden Informationen davon ausgehen konnte, [...] mit höchster Wahrscheinlichkeit dabei nur Feinde des Wiederaufbaus AFGHANISTANS zu treffen" (SPIEGEL 5/2010: 52).
Abends erhält der ranghöchste Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur [[Wolfgang Schneiderhan]], eine zweiseitige Stellungnahme Kleins, aus der hervorgeht, dass dieser sich in den frühen Morgenstunden des 4.9.2009 entschloss, "zwei [...] entführte Tanklastwagen sowie die an den Fahrzeugen befindlichen Insurgents durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten. [...] Ich gab letztendlich den Befehl zum Einsatz der Bomben, weil [...] ich nach allen mir [...] zur Verfügung stehenden Informationen davon ausgehen konnte, [...] mit höchster Wahrscheinlichkeit dabei nur Feinde des Wiederaufbaus AFGHANISTANS zu treffen" (SPIEGEL 5/2010: 52).


*5./6.9.2009
*5./6.9.2009


Verteidigungsminister [[Franz Josef Jung]] weigert sich vehement, die immer deutlicher werdenden Hinweise auf zivile Opfer zu bestätigen. Stattdessen stehe er "eindeutig zur Entscheidung des Obersts Klein", obwohl der bei der Begehung anwesende Reporter am 6.9.2009 in der "Washington Post" einen Artikel veröffentlicht, aus dem bereits klar wird, dass sich die Entscheidung zur Bombardierung auf nur einen Informanten stützt und unter den etwa 125 Toten auch zahlreiche Zivilisten seien.
Verteidigungsminister [[Franz Josef Jung]] weigert sich vehement, die immer deutlicher werdenden Hinweise auf zivile Opfer zu bestätigen. Stattdessen stehe er "eindeutig zur Entscheidung des Obersts Klein", obwohl der bei der Begehung anwesende Reporter am 6.9.2009 in der "Washington Post" einen Artikel veröffentlicht, aus dem bereits klar wird, dass sich die Entscheidung zur Bombardierung auf nur einen Informanten stützte und unter den etwa 125 Toten auch zahlreiche Zivilisten seien.


*6.9.2009
*6.9.2009
Zeile 72: Zeile 72:


Der IAT-Bericht wird in Berlin den Obleuten des Verteidigungs- und Außenausschusses in einer geheimen Sitzung vorgelegt. Schneiderhan selbst hatte diesen am Vortag erhalten.
Der IAT-Bericht wird in Berlin den Obleuten des Verteidigungs- und Außenausschusses in einer geheimen Sitzung vorgelegt. Schneiderhan selbst hatte diesen am Vortag erhalten.
In Berlin gibt Kanzlerin Merkel eine Regierungserklärung ab, in der sie mögliche unschuldige Opfer bedauere und eine lückenlose Aufklärung der Verfälle verspricht.
 
In Berlin gibt Kanzlerin Merkel eine Regierungserklärung ab, in der sie mögliche unschuldige Opfer bedauert und eine lückenlose Aufklärung der Verfälle verspricht.


*9.9.2009
*9.9.2009
Zeile 84: Zeile 85:
*25.9.2009
*25.9.2009


Gegenüber den Nato-Ermittlern gibt der Übersetzer, der in jener Nacht zwischen dem Informanten und der Task Force 47 vermittelte, an, die Quelle habe dem Gefechtsstand gemeldet, mindestens einer der entführten Fahrer sei noch am Leben. In der besagten Nacht hatte der Fliegerleitoffizier gegenüber den Piloten jedoch behauptet, keine Informationen darüber zu haben.  
Gegenüber den Nato-Ermittlern gibt der Übersetzer, der in jener Nacht zwischen dem afghanischen Informanten und der Task Force 47 vermittelte, an, die Quelle habe dem Gefechtsstand gemeldet, mindestens einer der entführten Fahrer sei noch am Leben. In der besagten Nacht hatte der Fliegerleitoffizier gegenüber den Piloten jedoch behauptet, keine Informationen über das Schicksal der Fahrer zu haben.  


Am darauffolgenden Tag werden dann auch er und sein Kommandant Oberst Klein von der Untersuchungskommission zu den Vorgängen befragt. Deren Aussagen und Einschätzungen der Ereignisse jener Nacht fallen unerwartet weit auseinander. Während sich Red Baron von den Vorgängen insgesamt distanziert und sich auf seine Gehorsamspflicht gegenüber der Entscheidung seines Vorgesetzten beruft, verteidigt Klein sein Vorgehen, welches in dem Entschluss gipfelte, zum Schutze seiner Soldaten, der afghanischen Sicherheitskräfte und der Bevölkerung mit der kleinstmöglichen Waffenwirkung die Tankfahrzeuge sowie die Entführer auszuschalten.
Am darauffolgenden Tag werden dann auch er und sein Kommandant Oberst Klein von der Untersuchungskommission zu den Vorgängen befragt. Deren Aussagen und Einschätzungen der Ereignisse jener Nacht fallen unerwartet weit auseinander. Während sich Red Baron von den Vorgängen insgesamt distanziert und sich auf seine Gehorsamspflicht gegenüber der Entscheidung seines Vorgesetzten beruft, verteidigt Klein sein Vorgehen, welches nach eigener Aussage in dem Entschluss gipfelte, zum Schutze seiner Soldaten, der afghanischen Sicherheitskräfte und der Bevölkerung mit der kleinstmöglichen Waffenwirkung die Tankfahrzeuge sowie die Entführer auszuschalten.


*27.10.2009
*27.10.2009
Zeile 95: Zeile 96:


Entgegen einiger Spekulationen, Guttenberg wolle sich von Schneiderhan distanzieren, springt dieser seinem ranghöchsten Soldaten bei und erklärt auf einer Pressekonferenz, er hege "keinen Zweifel an der Einschätzung des Generalinspekteurs". Und weiter: "Selbst wenn es keine Verfahrensfehler gegeben hätte, hätte es zum Luftschlag kommen ''müssen''" (SPIEGEL 5/2010: 54).
Entgegen einiger Spekulationen, Guttenberg wolle sich von Schneiderhan distanzieren, springt dieser seinem ranghöchsten Soldaten bei und erklärt auf einer Pressekonferenz, er hege "keinen Zweifel an der Einschätzung des Generalinspekteurs". Und weiter: "Selbst wenn es keine Verfahrensfehler gegeben hätte, hätte es zum Luftschlag kommen ''müssen''" (SPIEGEL 5/2010: 54).
Die Bundeskanzlerin verweigert derweil auch Wochen nach dem Vorfall jede Stellungsnahme zur (Un-)Angemessenheit des Bombardements.
Die Bundeskanzlerin verweigert derweil auch Wochen nach dem Vorfall jede Stellungsnahme zur (Un-)Angemessenheit des Bombardements.


Zeile 100: Zeile 102:


Die BILD-Zeitung ist im Besitz des Videomitschnitts aus den Cockpits der beim Luftschlag eingesetzten F-15-Kampfjets sowie eines Feldjägerberichts. Beides findet am folgenden Tag Eingang in einen Artikel mit der Überschrift "Die Wahrheit über den Luft-Angriff in Afghanistan (vgl. [http://www.bild.de/BILD/politik/2009/11/26/bomben-video-kunduz-in-afghanistan/verschwieg-minister-jung-die-wahrheit-ueber-die_20bombardierung.html]). Am Nachmittag bestellt Guttenberg seine beiden Spitzenleute, Staatssekretär [[Peter Wichert]] und Generalinspekteur Schneiderhan, zu sich ins Verteidigungsministerium. Er fragt beide, ob es - neben dem Nato-Untersuchungsbericht und dem Report des Internationalen Roten Kreuzes - noch weitere, nationale Berichte gäbe. Nach Guttenbergs Version sei dies trotz fünfmaliger Nachfrage von beiden verneint worden. Schneiderhan und Wichert hingegen erklären, ihren Minister auf eine Meldung von Oberst Klein, den Report eines deutschen IAT-Mitglieds und einen Bericht der Feldjäger hingewiesen zu haben. Schneiderhan wird Guttenberg später "Unwahrhaftigheit" vorwerfen [http://www.zeit.de/politik/ausland/2009-12/kundus-schneiderhan-guttenberg].
Die BILD-Zeitung ist im Besitz des Videomitschnitts aus den Cockpits der beim Luftschlag eingesetzten F-15-Kampfjets sowie eines Feldjägerberichts. Beides findet am folgenden Tag Eingang in einen Artikel mit der Überschrift "Die Wahrheit über den Luft-Angriff in Afghanistan (vgl. [http://www.bild.de/BILD/politik/2009/11/26/bomben-video-kunduz-in-afghanistan/verschwieg-minister-jung-die-wahrheit-ueber-die_20bombardierung.html]). Am Nachmittag bestellt Guttenberg seine beiden Spitzenleute, Staatssekretär [[Peter Wichert]] und Generalinspekteur Schneiderhan, zu sich ins Verteidigungsministerium. Er fragt beide, ob es - neben dem Nato-Untersuchungsbericht und dem Report des Internationalen Roten Kreuzes - noch weitere, nationale Berichte gäbe. Nach Guttenbergs Version sei dies trotz fünfmaliger Nachfrage von beiden verneint worden. Schneiderhan und Wichert hingegen erklären, ihren Minister auf eine Meldung von Oberst Klein, den Report eines deutschen IAT-Mitglieds und einen Bericht der Feldjäger hingewiesen zu haben. Schneiderhan wird Guttenberg später "Unwahrhaftigheit" vorwerfen [http://www.zeit.de/politik/ausland/2009-12/kundus-schneiderhan-guttenberg].
Kurz nach dieser Unterredung bittet Guttenberg die beiden Männer erneut zu sich, um ihnen mitzuteilen, sie mögen doch bitte um ihre Amtsenthebung nachsuchen, was diese einen Tag später auch tun.
Kurz nach dieser Unterredung bittet Guttenberg die beiden Männer erneut zu sich, um ihnen mitzuteilen, sie mögen doch bitte um ihre Amtsenthebung nachsuchen, was diese einen Tag später auch tun.


Zeile 113: Zeile 116:


Der Verteidigungsausschuss des Bundestages wandelt sich nach Forderungen der Opposition in einen Untersuchungsausschuss um. Dieser soll der Aufklärung der Umstände sowie zahlreicher Fragen dienen, welche sich sowohl im Zuge des Luftschlags als auch insbesondere im anschließenden (militär-)politischen Umgang mit diesem ergeben hätten (s. u.). Dazu sollen - entgegen den üblichen Gepflogenheiten eines solchen Ausschusses - auch öffentliche Tagungen stattfinden [http://www.zeit.de/politik/deutschland/2009-12/untersuchungsausschuss-kundus-bundeswehr].  
Der Verteidigungsausschuss des Bundestages wandelt sich nach Forderungen der Opposition in einen Untersuchungsausschuss um. Dieser soll der Aufklärung der Umstände sowie zahlreicher Fragen dienen, welche sich sowohl im Zuge des Luftschlags als auch insbesondere im anschließenden (militär-)politischen Umgang mit diesem ergeben hätten (s. u.). Dazu sollen - entgegen den üblichen Gepflogenheiten eines solchen Ausschusses - auch öffentliche Tagungen stattfinden [http://www.zeit.de/politik/deutschland/2009-12/untersuchungsausschuss-kundus-bundeswehr].  
Der Untersuchungsausschuss wird sich auf Wunsch der Koalitionsparteien zunächst mit den Fakten und Befehlssträngen befassen, ehe ab Mitte März 2010 die politische Kommunikation untersucht wird, d. h. erst werden die am Luftschlag Beteiligten, anschließend Politiker und Beamte aus Kanzleramt und Verteidigungsministerium gehört [http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-01/kundus-glossar]. Ein Ergebnis der Arbeit des Untersuchungsausschusses wird nicht vor April 2011 erwartet [http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-01/untersuchungsausschuss-guttenberg?page=all].
Der Untersuchungsausschuss wird sich auf Wunsch der Koalitionsparteien zunächst mit den Fakten und Befehlssträngen befassen, ehe ab Mitte März 2010 die politische Kommunikation untersucht wird, d. h. erst werden die am Luftschlag Beteiligten, anschließend Politiker und Beamte aus Kanzleramt und Verteidigungsministerium gehört [http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-01/kundus-glossar]. Ein Ergebnis der Arbeit des Untersuchungsausschusses wird nicht vor April 2011 erwartet [http://www.zeit.de/politik/deutschland/2010-01/untersuchungsausschuss-guttenberg?page=all].


272

Bearbeitungen