Begriff

Der Vorgang der Entkriminalisierung hebt die Strafbarkeit und damit die staatlich verstärkte sozialethische Ächtung einer Verhaltensweise auf. Der „Report on Decriminalisation“ des Europarats (Council of Europe 1980: 13) definiert Entkriminalisierung als die Gesamtheit der Prozesse, bei denen bestimmte Verhaltensweisen dem Zuständigkeitsbereich des Strafrechts entzogen werden, bzw. „by which the 'competence' of the penal system to apply sanctions as a reaction to a certain form of conduct is withdrawn“.

Entkriminalisierungen erfolgen in der Regel durch einen Akt der Gesetzgebung (de jure), manchmal aber auch durch die bloße Nicht-(Mehr-) Anwendung eines Strafgesetzes (de facto).

Entkriminalisierungen können bislang Verbotenes legalisieren (z.B. Erlaubnis zu Herstellung und Verkauf von Alkohol nach Ende der Prohibition in den USA 1933) oder aber ein weiterhin bestehendes Verbot nicht-strafrechtlich sanktionieren (z.B. Umwandlung der strafbaren Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24.5.1968).

Im ersteren Fall wird auch von "ersatzloser", "reiner" oder "wirklicher" und im letzteren auch von "transformierender" Entkriminalisierung gesprochen (Kohl & Scheerer 1989).

Wolfgang Naucke (1984) sieht in der transformierenden Entkriminalisierung eine bloß "scheinbare", weil die Repression lediglich umorganisiert wird. „Das Mittel der Unterdrückung wird umetikettiert“ (Naucke 1984: 169). Beispiele für scheinbare Entkriminalisierung sind der Ersatz der Kriminalstrafe durch Maßregeln der Besserung und Sicherung, durch Unterbringung oder durch Bußen nach dem Ordnungswidrigkeitsrecht. Diese Kategorie von Entkriminalisierung „zieht die staatliche Strafe ab, wohl wissend, daß damit die Abweichung bleibt, und gibt die Lösung des Problems an die Gesellschaft zurück“ (Naucke 1984: 169). Das

Christian Schäfer (2006) spricht von scheinbarer Entkriminalisierung wiederum in solchen Fällen, in denen wegen der Überkompliziertheit entkriminalisierender Bestimmungen im Sexualstrafrecht keine Veränderungen in der Realität zu beobachten waren. 

Bestimmungsgründe

Mit dem Europarat (Council of Europe 1980: 15) lassen sich drei Bestimmungsgründe für Entkriminalisierungen unterscheiden:

  1. Wandel der moralischen Bewertung: Entkriminalisierung als Anerkennung eines bislang geächteten Verhaltens (Typ A)
  2. Wandel der Staatsauffassung: Entkriminalisierung als Beschränkung staatlicher Einmischung in weltanschauliche Fragen (Typ B)
  3. Wandel der Wirksamkeitserwartung: Entkriminalisierung als Einsicht in die Wirkungslosigkeit strafrechtlicher Steuerung des fraglichen Verhaltens (Typ C).

Denkbar ist allerdings auch ein Bestimmungsgrund für Entkriminalisierung, der die Legitimität des Strafrechts selbst bestreitet - im Sinne etwa des Radbruch'schen "unendlichen Ziels" jeder Kriminalpolitik, das nicht in einem besseren Strafrecht bestehen sollte, sondern in etwas Besserem als dem Strafrecht (Typ D).

Geschichte (Deutschland)

  • Jugendgerichtsgesetz von 1923: Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze von 12 auf 14 Jahre
  • Emminger-Verordnung von 1924: Verbot der Verfolgung geringfügiger Übertretungen, sofern nicht von öffentlichem Interesse
  • Kontrollratsgesetz Nr. 11 vom 30. Januar 1946: Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts wie z.B. §§ 2, 2b, 134b, 226b RStGB
  • Abschaffung der Übertretungen und deren Herabstufung zu Ordnungswidrigkeiten 1975 (teils aber auch Aufwertung zu Vergehen; vgl. Baumann JZ 72, 2ff., Dencker JZ 73, 144 ff.)
  • Streichung oder Einschränkung der §§ 172 a.F.(Ehebruch), 175b a.F. (Unzucht zwischen Männern), 175b a.F. (Widernatürliche Unzucht), 180 a.F. (Kuppelei), 180a I, 181a II (Prostitution)

Initiativen (Deutschland)

  • 1989: Konzept zur transformierenden Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte (Beate Kohl & Sebastian Scheerer im Auftrag der Bundesfraktion „Die Grünen“)
  • 1992: Hessische Kommission Kriminalpolitik: Entkriminalisierungsvorschläge zum Straßenverkehrsrecht, zum Betäubungsmittelstrafrecht, zum Eigentums- und Vermögensstrafrecht sowie zum Strafverfahrensrecht
  • 1992: Niedersächsische Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts: Empfehlungen für Maßnahmen der Entkriminalisierung bei Bagatellverstößen gegen Eigentum und Vermögen, bei der Straßenverkehrsordnungsdelinquenz und im Betäubungsmittel-Strafrecht.

Rechtsstaatliche Prinzipien

Ultima Ratio

Das Ultima-Ratio-Prinzip besagt: Strafrecht darf als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen.

Liberalismus und Utilitarismus: Eigriffe in die wichtigsten Rechtsgüter der Bürger (Leben, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen) sind auf das absolut notwendige Mindestmaß beschränken.

Cesare Beccaria (1764/1966: 52) "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, sagt der große Montesquieu, ist tyrannisch; ein Satz, der wie folgt sich verallgemeinern läßt: jeder Akt der Herrschaft eines Menschen über einen Menschen, der nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch."

Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“

Beispiele, in denen weniger gravierende Regelungen den Zweck ebenso oder besser erfüllen können:

  • Polizeiliches Ausreiseverbot statt künstlicher Konstruktion von Tatgeschehen durch den Strafgesetzgeber: "Aus dem für Aktionismus besonders anfälligen Strafrecht gegen Terrorismus ist die seit 2015 strafbare "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" zu nennen. Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Sogar der Bundesgerichtshof hat das jüngst als einen "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" bezeichnet. Die Richter konstatierten, es gehe "faktisch um den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung". - Zum Problem wurde, dass Tatgeschehen künstlich konstruiert wird, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen, aber ohne wirkliche Straftat. Damit wird in strafrechtlichem Gewand Gefährderbekämpfung betrieben. Das Recht, so etwas zu tun, hat primär die Polizei, zu deren Aufgaben die Gefahrenabwehr zählt. Ausreiseverbote hätten Vorrang. Deren Verletzung könnte als Straftat geahndet werden. Die bisherigen Regeln münden in ein Gesinnungsstrafrecht, Strafbarkeit verlagert sich weit in das Vorfeld etwaiger Rechtsgüterverletzungen. Hier wie oftmals sonst fehlt die Verhältnismäßigkeit" (Kreuzer 2017).
  • Vereins- und Gewerberecht statt Strafrecht: Seit 2015 ist die "geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" strafbar. "Für den Strafrechtler Henning Rosenau in Halle war der Gesetzesbeschluss "der schwarze Freitag für die Selbstbestimmung am Lebensende in Deutschland". Man glaubte die Zeiten moralisierenden Strafrechts überwunden. Überdies ist die Regelung höchst unbestimmt. Mit Strafverfolgung muss bereits rechnen, wer in Palliativstationen oder Hospizen einen Sterberaum und Sterbebegleitung jemandem zusagt, der sich in einer unerträglichen Krankheitssituation bewusst etwa für das Sterbefasten entscheidet. Sterbebegleiter sehen sich dem Dilemma ausgesetzt: zwischen einer Strafbarkeit wegen Suizidbeihilfe und unterlassener Hilfeleistung. Das politische Ziel, die Palliativmedizin zu stärken, wird in sein Gegenteil verkehrt: In Palliativ- und Hospizarbeit Tätige werden verunsichert. Denunziationen enttäuschter Angehöriger von Verstorbenen sind absehbar, ebenso peinliche und erniedrigende polizeiliche Ermittlungen in den sensiblen intimsten Bereichen des Lebens und Sterbens. Dabei ist vorauszusehen, dass wegen zu erwartender Nachweisprobleme solche Verfahren später eingestellt werden. Die Existenz problematischer Sterbehilfeorganisationen hätte man besser im Vereins- und Gewerberecht unterbinden können" (Kreuzer 2017).
  • Seit 2015 gibt es auch die Strafbarkeit des Eigendopings von Wettbewerbssportlern. Das ist nach Kreuzer (2017) ein Beispiel für Doppelmoral: "Denn der Staat finanziert mit Blick auf nationales Prestige ausgewählte Sporteinrichtungen. Bleiben Erfolge aus, dann auch die Fördermittel. Zugleich will der Staat Doping strafrechtlich bekämpfen. Als ob nicht seit Menschengedenken eine anthropologische Konstante sportlichen Wettkämpfen anhaftete: Doping, Fouls, künstliche Leistungssteigerung. Als ob sich nicht alle Lebenswelten künstlicher Mittel zur Leistungssteigerung bedienten. Illusionär geht es dem Gesetz um eine "Ethik des fairen, sauberen und gesunden Sports" mit "Vorbildfunktion für junge Menschen". Obwohl Sportler selbst klagen: Diese vermeintlich heile Welt des Spitzensports mache "kaputt und krank". - Der Gesetzgeber hat ignoriert, dass sportmoralische Normen ebenso wie die in den Wissenschaften zuvörderst von Fachverbänden erarbeitet und kontrolliert werden können und müssen. Er hat Doping unter Strafe gestellt, obwohl die Strafbarkeit nutzlos ist. Die Regierung hat selbst in einer Anfrage bei allen Nachbarländern, die seit Längerem solche Verbote kennen, erfahren: Nirgendwo ist auch nur ein einziger Sportler wegen Dopings strafrechtlich verurteilt worden. - Sportverbände selbst sind es, die über einzig wirksame Mittel verfügen: Anlasslose Dopingkontrollen – der Polizei wären sie versagt. Die Verbände können Sportler bei Positiv-Befunden sofort ausschließen. Sie können rigide Verbandsstrafen verhängen, Titel aberkennen, Geldsanktionen erlassen, Sportler lebenslang sperren."

Problemfeld: Symbolisches Strafrecht

  • "Ein Spielfeld für "symbolisches Strafrecht" ist das Sexualstrafrecht. Offensichtlichstes Beispiel socher Schaufenstergesetzgebung ist die Strafbarkeit von Pornografie: Seit 2015 sind sogar versuchter Besitz oder Erwerb von höchst unbestimmt definiertem Posingmaterial strafbar. Es reicht, Pornolinks anzuklicken. Den Aufruf einer solchen Website rückgängig zu machen, befreit nicht von der Strafbarkeit. Hier wird zudem ein massenhaftes Verhalten kriminalisiert. Gerade junge Menschen kann das angesichts weit verbreiteten Sextings – des Verschickens aufreizender Fotos über Messenger – zur Denunziation unliebsamer Bekannter verleiten. Deswegen werden unzählige "Unschuldige ins Visier der Justiz geraten" (FAZ). Das Ganze war eine hektische, untaugliche Reaktion auf die Causa des SPD-Politikers Sebastian Edathy. Die Berliner Strafrechtlerin Tatjana Hörnle rügt einen Rückfall "in Strafrechtsmoralismus und Prüderie". Ähnliches gilt für die 2016 der Vergewaltigung in der Strafbarkeit gleichgestellte Tat sexuellen Handelns "gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person". Ein Massendelikt, das voraussehbar zwar manche Betroffene, leider auch viele nicht Betroffene zu Anzeigen verleiten wird. Folgenlose Verfahrenseinstellungen sind zu erwarten. Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten werden weiter sinken. - Frauenverbände werden erst recht rügen, die Justiz nehme solches Verhalten nicht ernst. Indes lässt die bekannte Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nichts anderes zu. Die Kieler Strafrechtlerin Monika Frommel bringt es auf die Formel: "Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehören ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte werden am besten von Familiengerichten geregelt." Das Gewaltschutzgesetz bietet sinnvolle Ansätze. Vieles im Nahraum" (Kreuzer 2017).
  • Populistische Strafrechtsausweitung: Verschärfung des Straftatbestands eines Einbruchs in Privatwohnungen. Kreuzer (2017): "Seit Mitte 2017 ist es ein Verbrechen mit Mindeststrafe von einem Jahr. "Minder schwere Fälle" mit herabgesetzter Strafe sind gestrichen. - Entgegen kriminologischen Erkenntnissen wurde suggeriert, es handele sich vornehmlich um organisierte Taten. Tatsächlich spielt sich vieles im Nahraum ab, wenn etwa ehemalige Partner, Angestellte oder Nachbarn in die Wohnung einsteigen, um sich vermeintlich Ihnen Zustehendes zurückzuholen. - Jetzt aber drohen Übermaßstrafen, die das Verfassungsgericht auf den Plan rufen werden, oder Umgehungsstrategien in der Justiz provozieren. Obendrein widerspricht die Regelung der Gesetzessystematik: Jeder Verbrechenstatbestand sieht "minder schwere Fälle" vor, weil es solche erfahrungsgemäß immer geben kann. Sie widerspricht sogar eklatant dem noch schwereren Tatbestand bandenmäßigen Einbruchsdiebstahls. Dafür gibt es weiterhin "minder schwere Fälle" mit einer Mindeststrafe von sechs Monaten."

Flurbereinigung

Zunächst einmal ist nach Kreuzer (2017) dringend in Angriff zu nehmen, was bisher schon allzu lange liegen gelassen wurde:

  1. Reform der Tötungsdelikte. Zumindest müsste das im Mordtatbestand verfassungswidrig als zwingend vorgesehene Lebenslang gelockert werden.
  2. Entkriminalisierung ist angebracht bei Massenbagatelldelikten wie dem Hinterziehen von Fahrgeld. Das Schwarzfahren ist zur Ordnungswidrigkeit abzustufen.
  3. Der Strafvollzug ist zu entlasten von denen, die Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen, weil sie ihre Geldstrafen nicht zahlen können. Hier und für andere kurze Freiheitsstrafen bietet sich gemeinnützige Arbeit als Hauptstrafe an.
  4. Die therapieorientierten, entkriminalisierenden Modelle im Betäubungsmittelstrafrecht sind nach ausländischen Vorbildern auszubauen. So müssen gesetzliche Hindernisse für das drug checking beseitigt werden. Dadurch würde allen Betroffenen anonym die Prüfung vorgefundenen oder erworbenen Stoffs ermöglicht. Desgleichen sind Substitutionsprogramme in und außerhalb der Haft sowie in Unterbringungseinrichtungen aufzubauen oder auszuweiten.
  5. Prävention muss unterstützt werden durch Berufung von Landesopfer- und Landespflegebeauftragten. Ihnen ist jedoch bundesgesetzlich ein Zeugnisverweigerungsrecht einzuräumen, um die nötige Vertrauensbasis zu schaffen.

Als flankierende Maßnahmen schlägt Kreuzer (2017) vor: Einrichtung einer Expertenkommission zur Reform des Strafrechts und die Wiederbelebung der Einrichtung des Periodischen Sicherheitsberichts zur Fundierung gesetzgeberischer Entscheidungen.

Kriterien

Bezogen auf die deutsche Strafrechtswissenschaft war es Mittermaier, der bereits 1819 den Entkriminalisierungsgedanken aufgriff. Er sah es als „Grundfehler“ an, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Auch Franz v. Liszt forderte in seiner „Strafzweckslehre“ Merkmale wie „Notwendigkeit“ als unabdingbare Voraussetzungen der Strafdrohung. „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.).

Entkriminalisierung in Deutschland

Entkriminalisierung von Cannabis

Am 9. März 1994 erging der so genannte Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Erwerb, Besitz usw. von geringen Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch, nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden von einem Strafverfahren abgesehen werden kann. Der Ermessensspielraum wird in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gesehen. Die kriminalpolitische Diskussion darüber, ob der Cannabiskonsum eher durch eine Freigabe von Cannabis als durch eine generalpräventive Wirkung des Strafrechts vermindert werden kann, ist noch nicht beendet, da bislang noch keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse vorliegen. Da dieser Beschluss unbefriedigend für die Betroffenen ist, wurde am 21.10. 2010 von dem DHV eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten gestartet, über die im Bundestag beraten werden wird. Eine Anhörung fand am 25. 01.2012 in Berlin statt.

Typologien

Wolfgang Naucke

Naucke differenziert zwischen deklatorischer, scheinbarer und wirklicher Entkriminalisierung. Die deklaratorische oder "reine" Entkriminalisierung (für die es laut Naucke heute keine aktuellen Beispiele mehr gibt) besteht aus dem ersatz- und bedingungslosen „Streichen von Verbrechen und Strafe ohne Widerstand von Interessenten am Strafschutz, ohne Zuhilfenahme anderer Abweichungsetikettierungen und anderer Zwangsformen“ (Naucke 1984: 156).

Bei einer „scheinbaren“ Entkriminalisierung entfällt zwar die Strafe im „technischen Sinn“, d. h. es wird auf die Hauptstrafen, die Freiheits- und Geldstrafe, sowie auf die Nebenstrafen, z. B. ein Fahrverbot, verzichtet, aber die Strafe wird in eine andere Sanktionsform überführt, da das entkriminalisierte Verhalten nach wie vor als abweichend oder sanktionswürdig eingestuft wird:

Sebastian Scheerer

Scheerer unterscheidet zunächst zwischen den Begriffen Entkriminalisierung und Entpönalisierung (Scheerer 1989: 87). Von Entkriminalisierung kann nur gesprochen werden, wenn der Paragraf, der ein Verhalten als kriminelle Handlung definiert, aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird, sodass dieses Verhalten nicht mehr als „crimen“ gilt. Wenn dagegen eine Strafaufhebung oder Strafmilderung vorliegt, obwohl die Handlung selbst weiterhin als Straftat im Gesetzbuch geführt wird, handelt es sich lediglich um eine Entpönalisierung. Bei dem Begriff Entkriminalisierung differenziert Scheerer zwischen zwei Kategorien, einer ersatzlosen und transformierenden Entkriminalisierung. „Ersatzlose“ Entkriminalisierung bedeutet, dass ein Tatbestand aus dem StGB gestrichen und die Strafbarkeit eines Verhaltens aufgehoben wird, ohne dass der Gesetzgeber einen Ersatz für die aufgehobene Interventionsmöglichkeit in einem anderen Rechtsgebiet schafft. Das entkriminalisierte Verhalten soll dann von Staat und Gesellschaft mit den verbleibenden Mitteln reguliert oder inkorporiert werden. Eine derartige „ersatzlose“ Entkriminalisierung kann z. B. dadurch bedingt sein, dass ein Bewertungswandel eines Tatbestandes stattgefunden hat oder dass die strafrechtliche Reaktionsform als unangemessen empfunden wird (Scheerer 1989: 90). „Ersatzlose“ Entkriminalisierung erfolgt auf diverse Arten, z. B. durch Streichung ganzer Deliktgruppen oder einzelner Tatbestände, aber auch durch Einengung des Strafbarkeitsrahmens (Scheerer 1989: 91). Der Begriff „transformierende“ Entkriminalisierung bedeutet, dass ein Tatbestand formal aus dem Strafrecht ausgegliedert wird und anschließend in einer anderen Rechtsmaterie, z. B. in einem Katalog für Ordnungswidrigkeiten wieder auftaucht, d. h. er wird transformiert (Scheerer 1989: 89). In diesem Fall wird also zu dem verbleibenden Regelbestand verwaltungs- und zivilrechtlicher Art eine weitere Regelung hinzugefügt. Auch bei der transformierenden Entkriminalisierung handelt es sich um eine tatsächliche Entkriminalisierung, da der Strafrechtszwang wegfällt und das betreffende Verhalten nicht mehr als „crimen“ gilt. Indem der Staat das betreffende Verhalten einer anderen Regelung unterstellt, die das Strafrecht ersetzt, beansprucht er aber nach wie vor die Kontrolle (Scheerer 1989: 92 f.).

Literatur

  • Albrecht, Peter-Alexis/Beckmann, Heinrich/Frommel, Monika/Goy, Alexandra/Grünwald, Gerald/Hannover, Heinrich/ Holtfort, Werner/Ostedorf, Heribert (1992): Strafrecht – ultima ratio, Empfehlungen der Niedersächsischen Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
  • Albrecht, Peter-Alexis/Hassemer, Winfried/Voß, Michael (1992): Rechtsgüterschutz durch Entkriminalisierung, Vorschläge der Hessischen Kommission „Kriminalpolitik“ zur Reform des Strafrechts. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
  • Brusten, Manfred/Herriger, Norbert/Malinowski, Peter (Hrsg.) (1985): Entkriminalisierung, Sozialwissenschaftliche Analysen zu neuen Formen der Kriminalpolitik. Opladen: Westdeutscher Verlag
  • Council of Europe (1980): Report on Decriminalisation. Strasbourg
  • Kohl, Beate/Scheerer, Sebastian (1989): Zur Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte. Aachen: Buch- und Zeitschriftenverlag Hubertus Wetzler
  • Naucke, Wolfgang (1984): Über deklatorische, scheinbare und wirkliche Entkriminalisierung. In: Naucke, Wolfgang (1999): Gesetzlichkeit und Kriminalität: Abhandlungen zum Strafrecht und zum Strafprozeßrecht. (Juristische Abhandlungen; Bd. 34) Frankfurt/M.: Klostermann, Abschnitt VII. (S. 154-176)
  • Reindl, Richard/Kawamura, Gabriele/Nickolai, Werner (Hrsg.) (1995): Prävention, Entkriminalisierung, Sozialarbeit. Alternativen zur Strafverschärfung.Freiburg i. Breisgau: Lambertus-Verlag
  • Steinert, Heinz (1993): Alternativen zum Strafrecht. In: In: Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hrsg.) (1993 3): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag GmbH, (S. 9-14)
  • Thomas Vormbaum (2011(1983)), Beiträge zum Strafrecht und zur Strafrechtspolitik, Berlin; LIT Verlag Dr. W. Hopf

Weblinks

Siehe auch