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Entkriminalisierungen erfolgen in der Regel durch einen Akt der Gesetzgebung (''de jure''), manchmal aber auch durch die bloße Nicht-(Mehr-) Anwendung eines Strafgesetzes (''de facto''). | Entkriminalisierungen erfolgen in der Regel durch einen Akt der Gesetzgebung (''de jure''), manchmal aber auch durch die bloße Nicht-(Mehr-) Anwendung eines Strafgesetzes (''de facto''). | ||
Entkriminalisierungen können bislang Verbotenes legalisieren (z.B. Erlaubnis zu Herstellung und Verkauf von Alkohol nach Ende der Prohibition in den USA 1933) oder | Entkriminalisierungen können bislang Verbotenes legalisieren (z.B. Erlaubnis zu Herstellung und Verkauf von Alkohol nach Ende der Prohibition in den USA 1933). In dem Fall spricht Wolfgang Naucke (1984) von einer "wirklichen" oder "reinen" Entkriminalisierung. Beate Kohl und Sebastian Scheerer (1989) sprechen von "ersatzloser" Entkriminalisierung. | ||
Eine nicht-legalisierende Entkriminalisierung setzt hingegen auf nicht-strafrechtliche Mittel zur Durchsetzung des (bestehen bleibenden) Verbots. Paradebeispiel hierfür ist die Umwandlung der strafbaren Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 24.5.1968. Wo Tatbestände formal aus dem Strafrecht ausgegliedert werden, um anschließend in einer anderen Rechtsmaterie, z. B. in einem Katalog für Ordnungswidrigkeiten, wieder aufzutauchen, sprechen Kohl und Scheerer (1989: 89) von transformierender Entkriminalisierung. Nach Meinung dieser Autoren handelt es sich dabei durchaus um tatsächliche oder "wirkliche" Entkriminalisierungen, da der spezifische Zwangscharakter und die spezifische Ächtung des Strafrechts wegfallen und das betreffende Verhalten nicht mehr als „crimen“ gilt. Wolfgang Naucke (1984: 169) sieht in der transformierenden Entkriminalisierung hingegen eine bloß "scheinbare": „Das Mittel der Unterdrückung wird umetikettiert“ (Naucke 1984: 169). Beispiele seien der Ersatz der Kriminalstrafe durch Maßregeln der Besserung und Sicherung, durch Unterbringung oder durch Bußen nach dem Ordnungswidrigkeitsrecht. In all diesen Fällen zieht man "die staatliche Strafe ab, wohl wissend, daß damit die Abweichung bleibt, und gibt die Lösung des Problems an die Gesellschaft zurück“ (Naucke 1984: 169). - In manchen Fällen werden Kriminalisierungen auf so vorsichtige und überkomplizierte Weise aufgehoben, dass sie in der Rechtswirklichkeit gar nicht ankommen. Am Beispiel von Reformen im Sexualstrafrecht spricht Christian Schäfer (2006) auch dann von scheinbarer Entkriminalisierung. | |||
Wolfgang Naucke (1984) sieht in der transformierenden Entkriminalisierung eine bloß "scheinbare" | |||
== Bestimmungsgründe == | == Bestimmungsgründe == | ||
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Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“ | Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“ | ||
Beispiele, in denen weniger gravierende | Beispiele, in denen weniger gravierende Mittel gleiche oder bessere Resultate erbringen könnten: | ||
*Polizeiliches Ausreiseverbot statt künstlicher Konstruktion von Tatgeschehen durch den Strafgesetzgeber: "Aus dem für Aktionismus besonders anfälligen Strafrecht gegen Terrorismus ist die seit 2015 strafbare "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" zu nennen. Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Sogar der Bundesgerichtshof hat das jüngst als einen "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" bezeichnet. Die Richter konstatierten, es gehe "faktisch um den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung". - Zum Problem wurde, dass Tatgeschehen künstlich konstruiert wird, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen, aber ohne wirkliche Straftat. Damit wird in strafrechtlichem Gewand Gefährderbekämpfung betrieben. Das Recht, so etwas zu tun, hat primär die Polizei, zu deren Aufgaben die Gefahrenabwehr zählt. Ausreiseverbote hätten Vorrang. Deren Verletzung könnte als Straftat geahndet werden. Die bisherigen Regeln münden in ein Gesinnungsstrafrecht, Strafbarkeit verlagert sich weit in das Vorfeld etwaiger Rechtsgüterverletzungen. Hier wie oftmals sonst fehlt die Verhältnismäßigkeit" (Kreuzer 2017). | *Polizeiliches Ausreiseverbot statt künstlicher Konstruktion von Tatgeschehen durch den Strafgesetzgeber: "Aus dem für Aktionismus besonders anfälligen Strafrecht gegen Terrorismus ist die seit 2015 strafbare "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" zu nennen. Strafbar ist bereits, wer sich anschickt, in einen Staat auszureisen, um sich dort in irgendwelchen Fähigkeiten ausbilden lassen kann, die es ihm ermöglichen, später islamistische Aktionen zu unterstützen. Bucht er online ein Flugticket, besinnt sich dann und löscht die Buchung sogleich wieder, ist das nicht mehr strafbefreiend. Sogar der Bundesgerichtshof hat das jüngst als einen "Grenzbereich des verfassungsrechtlich Zulässigen" bezeichnet. Die Richter konstatierten, es gehe "faktisch um den Versuch der Vorbereitung zur Vorbereitung einer staatsgefährdenden Handlung". - Zum Problem wurde, dass Tatgeschehen künstlich konstruiert wird, um Strafverfolgung und Freiheitsentzug zu ermöglichen, aber ohne wirkliche Straftat. Damit wird in strafrechtlichem Gewand Gefährderbekämpfung betrieben. Das Recht, so etwas zu tun, hat primär die Polizei, zu deren Aufgaben die Gefahrenabwehr zählt. Ausreiseverbote hätten Vorrang. Deren Verletzung könnte als Straftat geahndet werden. Die bisherigen Regeln münden in ein Gesinnungsstrafrecht, Strafbarkeit verlagert sich weit in das Vorfeld etwaiger Rechtsgüterverletzungen. Hier wie oftmals sonst fehlt die Verhältnismäßigkeit" (Kreuzer 2017). | ||
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==Entkriminalisierung von Cannabis == | ==Entkriminalisierung von Cannabis == | ||
Am 9. März 1994 erging der so genannte Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Erwerb, Besitz usw. von geringen Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch, nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden von einem Strafverfahren abgesehen werden kann. Der Ermessensspielraum wird in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gesehen. Die kriminalpolitische Diskussion darüber, ob der Cannabiskonsum eher durch eine Freigabe von Cannabis als durch eine generalpräventive Wirkung des Strafrechts vermindert werden kann, ist noch nicht beendet, da bislang noch keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse vorliegen. Da dieser Beschluss unbefriedigend für die Betroffenen ist, wurde am 21.10. 2010 von dem DHV eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten gestartet, über die im Bundestag beraten werden wird. Eine Anhörung fand am 25. 01.2012 in Berlin statt. | Am 9. März 1994 erging der so genannte Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Erwerb, Besitz usw. von geringen Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch, nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden von einem Strafverfahren abgesehen werden kann. Der Ermessensspielraum wird in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gesehen. Die kriminalpolitische Diskussion darüber, ob der Cannabiskonsum eher durch eine Freigabe von Cannabis als durch eine generalpräventive Wirkung des Strafrechts vermindert werden kann, ist noch nicht beendet, da bislang noch keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse vorliegen. Da dieser Beschluss unbefriedigend für die Betroffenen ist, wurde am 21.10. 2010 von dem DHV eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten gestartet, über die im Bundestag beraten werden wird. Eine Anhörung fand am 25. 01.2012 in Berlin statt. | ||
==Literatur== | ==Literatur== | ||
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*Brusten, Manfred/Herriger, Norbert/Malinowski, Peter (Hrsg.) (1985): Entkriminalisierung, Sozialwissenschaftliche Analysen zu neuen Formen der Kriminalpolitik. Opladen: Westdeutscher Verlag | *Brusten, Manfred/Herriger, Norbert/Malinowski, Peter (Hrsg.) (1985): Entkriminalisierung, Sozialwissenschaftliche Analysen zu neuen Formen der Kriminalpolitik. Opladen: Westdeutscher Verlag | ||
*Council of Europe (1980): Report on Decriminalisation. Strasbourg | *Council of Europe (1980): Report on Decriminalisation. Strasbourg | ||
*Kohl, Beate/Scheerer, Sebastian (1989): Zur Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte. Aachen: Buch- und Zeitschriftenverlag Hubertus Wetzler | *Kohl, Beate/Scheerer, Sebastian (1989): Zur Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte. Aachen: Buch- und Zeitschriftenverlag Hubertus Wetzler | ||
*Naucke, Wolfgang (1984): Über deklatorische, scheinbare und wirkliche Entkriminalisierung. In: Naucke, Wolfgang (1999): Gesetzlichkeit und Kriminalität: Abhandlungen zum Strafrecht und zum Strafprozeßrecht. (Juristische Abhandlungen; Bd. 34) Frankfurt/M.: Klostermann, Abschnitt VII. (S. 154-176) | *Naucke, Wolfgang (1984): Über deklatorische, scheinbare und wirkliche Entkriminalisierung. In: Naucke, Wolfgang (1999): Gesetzlichkeit und Kriminalität: Abhandlungen zum Strafrecht und zum Strafprozeßrecht. (Juristische Abhandlungen; Bd. 34) Frankfurt/M.: Klostermann, Abschnitt VII. (S. 154-176) | ||
*Reindl, Richard/Kawamura, Gabriele/Nickolai, Werner (Hrsg.) (1995): Prävention, Entkriminalisierung, Sozialarbeit. Alternativen zur Strafverschärfung.Freiburg i. Breisgau: Lambertus-Verlag | *Reindl, Richard/Kawamura, Gabriele/Nickolai, Werner (Hrsg.) (1995): Prävention, Entkriminalisierung, Sozialarbeit. Alternativen zur Strafverschärfung.Freiburg i. Breisgau: Lambertus-Verlag | ||
*Roos, Gerhard (1981): Entkriminalisierungstendenzen im Besonderen Teil des Strafrechts. Frankfurt/M.: Verlag Peter Lang | *Roos, Gerhard (1981): Entkriminalisierungstendenzen im Besonderen Teil des Strafrechts. Frankfurt/M.: Verlag Peter Lang | ||
*[https://books.google.it/books?id=RemqUXsMyMsC&pg=PA309&lpg=PA309&dq=vormbaum+entkriminalisierung&source=bl&ots=P-xVPqR3fa&sig=fix3XEBfeu8F1_XUMuJVIZhYPgo&hl=en&sa=X&ved=0ahUKEwifvN3y3KrYAhWH6RQKHZsjDhwQ6AEIMTAC#v=onepage&q=vormbaum%20entkriminalisierung&f=false Schäfer, Christian (2006) "Widernatürliche Unzucht" (§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB) Reformdiskussion und Gesetzgebung. Berlin: BWV]. | *[https://books.google.it/books?id=RemqUXsMyMsC&pg=PA309&lpg=PA309&dq=vormbaum+entkriminalisierung&source=bl&ots=P-xVPqR3fa&sig=fix3XEBfeu8F1_XUMuJVIZhYPgo&hl=en&sa=X&ved=0ahUKEwifvN3y3KrYAhWH6RQKHZsjDhwQ6AEIMTAC#v=onepage&q=vormbaum%20entkriminalisierung&f=false Schäfer, Christian (2006) "Widernatürliche Unzucht" (§§ 175, 175a, 175b, 182 a.F. StGB) Reformdiskussion und Gesetzgebung. Berlin: BWV]. | ||
*Steinert, Heinz (1993): Alternativen zum Strafrecht. In: In: Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hrsg.) (1993 3): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag GmbH, (S. 9-14) | *Steinert, Heinz (1993): Alternativen zum Strafrecht. In: In: Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hrsg.) (1993 3): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. Heidelberg: C. F. Müller Juristischer Verlag GmbH, (S. 9-14) | ||
*Thomas Vormbaum (2011(1983)), Beiträge zum Strafrecht und zur Strafrechtspolitik, Berlin; LIT Verlag Dr. W. Hopf | *Thomas Vormbaum (2011(1983)), Beiträge zum Strafrecht und zur Strafrechtspolitik, Berlin; LIT Verlag Dr. W. Hopf | ||
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