Entkriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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Durch Entkriminalisierung wird ein bis dato strafbares Verhalten straflos gestellt. Als actus contrarius zur Strafbarstellung (= Kriminalisierung) erfordert der Vorgang der Entkriminalisierung grundsätzlich ebenfalls ein Tätigwerden des Gesetzgebers (= Entkriminalisierung de jure). Ein ähnlicher Effekt kann allerdings auch eintreten, wenn das Verhalten rein tatsächlich nicht mehr verfolgt und sanktioniert wird (= Entkriminalisierung de facto). Gelegentlich sind solche faktischen Entkriminalisierungen auch Vorboten späterer (nachhinkender) Entkriminalisierung durch den Gesetzgeber.
Durch Entkriminalisierung wird ein bis dahin strafbares Verhalten straflos gestellt. Als ''actus contrarius'' der Kriminalisierung erfordert der Vorgang der Entkriminalisierung grundsätzlich ebenfalls ein Tätigwerden des Gesetzgebers (= Entkriminalisierung de jure). Ein ähnlicher Effekt kann allerdings auch eintreten, wenn das Verhalten rein tatsächlich nicht mehr verfolgt und sanktioniert wird (= Entkriminalisierung de facto). Gelegentlich sind solche faktischen Entkriminalisierungen auch Vorboten späterer (nachhinkender) Entkriminalisierung durch den Gesetzgeber.


In Forderungen nach Entkriminalisierung spiegeln sich soziale Konflikte und culture wars, Prozesse des Wertwandels und unterschiedliche Auffassungen über Rolle und Grenzen der Tätigkeit des Staates. Für diejenigen, die sich für die Entkriminalisierung sog. opferloser Delikte einsetzen, geht es auch um Symbolpolitik bzw. status politics (Joseph R. Gusfield), d.h. um ihre kollektive gesellschaftliche Anerkennung.
Die Forderung nach Entkriminalisierung drückt ein Bestreben nach Reduktion des Strafrechts aus - ein Bestreben, das auf unterschiedlichen Motiven beruhen kann: die beiden wichtigsten sind wohl der Wunsch nach Entstigmatisierung der Betroffenen (gesellschaftliche Anerkennung) und die Effizienzsteigerung der Kontrolle des fraglichen Verhaltens (Rationalisierung des Staatshandelns). Gelegentlich kommen beide Motive zusammen wie etwas bei der Überführung zahlreicher Verkehrsstraftatbestände in das Ordnungswidrigkeitenrecht: man wollte kein "Volk von Vorbestraften", man wollte aber auch zweckmäßiger und effizienter mit solchen Verstößen umgehen können. Die angestrebte Reduktion des Strafrechts kann zudem opportunistisch-taktischer Natur sein und durch andere Neukriminalisierungen auf anderen Feldern mehr als ausgeglichen werden - oder strategischer Natur als Teil eines insgesamt reduktionistischen, gradualistischen oder abolitionistischen Programms, dessen letztes Ziel mit Radbruch nicht in einem besseren Strafrecht, sondern in etwas Besserem als dem Strafrecht besteht.


Die Forderung nach Entkriminalisierung drückt das Bestreben nach Reduktion des Strafrechts aus. Dieses Bestreben beruht auf der Annahme, dass Eingriffe in die Freiheit der Individuen nicht grenzenlos zulässig sind, sondern nur dann Legitimität beanspruchen können, wenn sie zum Schutz von Rechtsgütern geeignet und erforderlich sind. Darin, dass jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, tyrannisch sei, stimmten nicht nur die großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts wie Montesquieu, Voltaire und Beccaria überein. Dass der Einsatz des Strafrechts nur als ultima ratio zulässig ist, gehört auch zum Basiswissen Jura.  der Existenz überflüssiger HerrschaftErkenntnis des Doppelcharakters des Strafrechts. Einerseits ist da das normative Ideal des Schutzes, andererseits aber auch die Realität der absichtlichen Zufügung eines empfindlichen Übels. Das Ideal lautet: Strafgesetze schützen Rechtsgüter und damit Menschen. Ob und wenn ja inwieweit sie das tun, ist empirisch schwer zu ergründen. Empirisch leichter zu fassen wäre die Realität der gewollten negativen Folgen des Strafrechts in Form von Eingriffen in Leben, Freiheit, Bürgerrechte, Eigentum und Vermögen.
== Furchtsame Entkriminalisierung ==
Legitimität beanspruchen können, wenn sie zum Schutz von Rechtsgütern geeignet und erforderlich sind. Darin, dass jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, tyrannisch sei, stimmten nicht nur die großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts wie Montesquieu, Voltaire und Beccaria überein. Dass der Einsatz des Strafrechts nur als ultima ratio zulässig ist, gehört auch zum Basiswissen Jura.  der Existenz überflüssiger HerrschaftErkenntnis des Doppelcharakters des Strafrechts. Einerseits ist da das normative Ideal des Schutzes, andererseits aber auch die Realität der absichtlichen Zufügung eines empfindlichen Übels. Das Ideal lautet: Strafgesetze schützen Rechtsgüter und damit Menschen. Ob und wenn ja inwieweit sie das tun, ist empirisch schwer zu ergründen. Empirisch leichter zu fassen wäre die Realität der gewollten negativen Folgen des Strafrechts in Form von Eingriffen in Leben, Freiheit, Bürgerrechte, Eigentum und Vermögen.


Man denke an die - weltweit in unterschiedlichem Maße erfolgreichen - Bestrebungen zur Entkriminalisierung der Homosexualität, der Abtreibung, des Suizidversuchs, der Sterbehilfe, des Verkehrs mit und des Konsums von Cannabis und anderen Drogen, aber auch des Schwarzfahrens oder anderer gewaltloser Eigentums- und Vermögensdelikte. Eine restlose Abschaffung aller Straftatbestände gehört zum Programm des Abolitionismus in seiner kriminalpolitisch radikalen Variante (penal abolitionism).
Man denke an die - weltweit in unterschiedlichem Maße erfolgreichen - Bestrebungen zur Entkriminalisierung der Homosexualität, der Abtreibung, des Suizidversuchs, der Sterbehilfe, des Verkehrs mit und des Konsums von Cannabis und anderen Drogen, aber auch des Schwarzfahrens oder anderer gewaltloser Eigentums- und Vermögensdelikte. Eine restlose Abschaffung aller Straftatbestände gehört zum Programm des Abolitionismus in seiner kriminalpolitisch radikalen Variante (penal abolitionism).
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