Entkriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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Entkriminalisierung bedeutet nicht unbedingt auch die Legalisierung des fraglichen Verhaltens. Wenn aus Verkehrsstraftaten Ordnungswidrigkeiten werden, ist das Verhalten entkriminalisiert, aber nicht legalisiert. Es wird lediglich vom Straf-Unrecht zum Verwaltungs-Unrecht und verliert seinen stigmatisierenden, den Akteur tendenziell entehrenden Charakter.  
Entkriminalisierung bedeutet nicht unbedingt auch die Legalisierung des fraglichen Verhaltens. Wenn aus Verkehrsstraftaten Ordnungswidrigkeiten werden, ist das Verhalten entkriminalisiert, aber nicht legalisiert. Es wird lediglich vom Straf-Unrecht zum Verwaltungs-Unrecht und verliert seinen stigmatisierenden, den Akteur tendenziell entehrenden Charakter.  


==Zur Geschichte==
==Kriterien==
Postuliert wurde eine Einschränkung des Strafrechts bereits im 18. Jahrhundert auf der Basis der utilitaristischen Philosophie der Aufklärung. Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 enthält folgende Forderung: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires“ (zit. nach Roos 1981: 7).  
Postuliert wurde eine Einschränkung des Strafrechts bereits im 18. Jahrhundert auf der Basis der utilitaristischen Philosophie der Aufklärung. Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 enthält folgende Forderung: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires“ (zit. nach Roos 1981: 7).  
Bezogen auf die deutsche Strafrechtswissenschaft war es Mittermaier, der bereits 1819 den Entkriminalisierungsgedanken aufgriff. Er sah es als „Grundfehler“ an, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Auch Franz v. Liszt forderte in seiner „Strafzweckslehre“ Merkmale wie „Notwendigkeit“ als unabdingbare Voraussetzungen der Strafdrohung. „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.).
Bezogen auf die deutsche Strafrechtswissenschaft war es Mittermaier, der bereits 1819 den Entkriminalisierungsgedanken aufgriff. Er sah es als „Grundfehler“ an, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Auch Franz v. Liszt forderte in seiner „Strafzweckslehre“ Merkmale wie „Notwendigkeit“ als unabdingbare Voraussetzungen der Strafdrohung. „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.).


== Entkriminalisierung in Deutschland ==
„In der Strafrechtsgeschichte der vergangenen zweihundert Jahre sind Bemühungen um Zurückdrängung staatlichen Strafens durchaus nicht in Form einer gradlinig aufsteigenden Linie erfolgreich“, aber die kriminalpolitische Entwicklung weist „eine aufsteigende Kurve humanitären Denkens im Strafrecht“ auf (Vormbaum 2011 (1983): 1 f.).
„In der Strafrechtsgeschichte der vergangenen zweihundert Jahre sind Bemühungen um Zurückdrängung staatlichen Strafens durchaus nicht in Form einer gradlinig aufsteigenden Linie erfolgreich“, aber die kriminalpolitische Entwicklung weist „eine aufsteigende Kurve humanitären Denkens im Strafrecht“ auf (Vormbaum 2011 (1983): 1 f.).
Sich verstärkende entkriminalisierende Tendenzen lassen sich in den Jahren 1911 bis 1925 im Rahmen der praktischen Arbeiten zur Reform des damals als veraltet geltenden RStGB von 1871 feststellen. Im allgemeinen Teil der Entwürfe waren weitergehende Milderungen des Sanktionssystems, eine Vergrößerung des Ermessensspielraums der Richter bei der Strafbemessung, eine stärkere Berücksichtigung der Besonderheiten bei Jugendlichen Straftätern und ein allmählicher Aufbau eines dualistisches Systems von Strafen und Maßregeln vorgesehen. Die angeführten Reformbestrebungen fanden in der Gesetzgebung vorerst allerdings nicht die entsprechende Resonanz (Roos 1981: 11 f.).
Sich verstärkende entkriminalisierende Tendenzen lassen sich in den Jahren 1911 bis 1925 im Rahmen der praktischen Arbeiten zur Reform des damals als veraltet geltenden RStGB von 1871 feststellen. Im allgemeinen Teil der Entwürfe waren weitergehende Milderungen des Sanktionssystems, eine Vergrößerung des Ermessensspielraums der Richter bei der Strafbemessung, eine stärkere Berücksichtigung der Besonderheiten bei Jugendlichen Straftätern und ein allmählicher Aufbau eines dualistisches Systems von Strafen und Maßregeln vorgesehen. Die angeführten Reformbestrebungen fanden in der Gesetzgebung vorerst allerdings nicht die entsprechende Resonanz (Roos 1981: 11 f.).
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Weitere Entkriminalisierungen erfolgten im Rahmen der so genannten Emminger - Verordnung vom 04.01.1924, in welcher der Staatsanwaltschaft verboten wurde, geringfügige Übertretungen und Vergehen zu verfolgen, sofern diese nicht von öffentlichem Interesse waren (Roos 1981: 13).
Weitere Entkriminalisierungen erfolgten im Rahmen der so genannten Emminger - Verordnung vom 04.01.1924, in welcher der Staatsanwaltschaft verboten wurde, geringfügige Übertretungen und Vergehen zu verfolgen, sofern diese nicht von öffentlichem Interesse waren (Roos 1981: 13).


Nach dem 2. Weltkrieg entstand in den 50er bis 70er Jahren in vielen europäischen Ländern eine Strafrechtsreformbewegung unter dem Motto „Sozialreform statt Strafrecht, Behandlung statt Strafe“. Parallel dazu gab es Forderungen, deren Ziel es war, diverse Straftatbestände, speziell im Bereich des Sexual- und Moral- sowie Drogenstrafrechts ersatzlos abzuschaffen. Als Alternative war u. a. an eine gesellschaftliche Selbstregulation gedacht, welche durch strafrechtliche Bestimmungen behindert würden (Steinert 1993: 11 f.).
Nach dem 2. Weltkrieg entstand in den 50er bis 70er Jahren in vielen europäischen Ländern eine Strafrechtsreformbewegung unter dem Motto „Sozialreform statt Strafrecht, Behandlung statt Strafe“.
 
Ein Beispiel für Entkriminalisierung ist die Herausnahme der Übertretungen aus dem Strafgesetzbuch 1974 und die damit verbundene Schaffung des Begriffs der Ordnungswidrigkeiten.
 
Parallel dazu gab es Forderungen, deren Ziel es war, diverse Straftatbestände, speziell im Bereich des Sexual- und Moral- sowie Drogenstrafrechts ersatzlos abzuschaffen. Als Alternative war u. a. an eine gesellschaftliche Selbstregulation gedacht, welche durch strafrechtliche Bestimmungen behindert würden (Steinert 1993: 11 f.).


Auch in Deutschland wurden mit der „Großen Strafrechtsreform“ der 50er bis 70er Jahre erneut Entkriminalisierungsforderungen verbunden. Die Große Strafrechtskommission bestehend aus 24 Mitgliedern (Professoren, Richtern und Bundestagsabgeordneten) tagte von 1954 bis 1959. Die Kommission erarbeitete mehrere Gesetzesentwürfe. Der Entwurf des StGB von 1962 enthielt aber eher eine Überpönalisierung, da die Anzahl der Paragrafen von 370 auf 484 erhöht wurde (Roos 1981: 14 f.). Doch die Begrenztheit der Strafgewalt blieb die Leitidee bei den Reformbestrebungen. So enthielten bereits die ersten beiden Strafreformgesetze (1969) einige entsprechende Neuerungen. Durch das 2. Strafrechtsreformgesetz wurde der Allgemeine Teil des StGB neu gestaltet. In den folgenden Jahren wurden dann auch Änderungen im Besonderen Teil des StGB vorgenommen.
Auch in Deutschland wurden mit der „Großen Strafrechtsreform“ der 50er bis 70er Jahre erneut Entkriminalisierungsforderungen verbunden. Die Große Strafrechtskommission bestehend aus 24 Mitgliedern (Professoren, Richtern und Bundestagsabgeordneten) tagte von 1954 bis 1959. Die Kommission erarbeitete mehrere Gesetzesentwürfe. Der Entwurf des StGB von 1962 enthielt aber eher eine Überpönalisierung, da die Anzahl der Paragrafen von 370 auf 484 erhöht wurde (Roos 1981: 14 f.). Doch die Begrenztheit der Strafgewalt blieb die Leitidee bei den Reformbestrebungen. So enthielten bereits die ersten beiden Strafreformgesetze (1969) einige entsprechende Neuerungen. Durch das 2. Strafrechtsreformgesetz wurde der Allgemeine Teil des StGB neu gestaltet. In den folgenden Jahren wurden dann auch Änderungen im Besonderen Teil des StGB vorgenommen.
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