Entkriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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Entkriminalisierung bedeutet Rücknahme einer Kriminalisierung, d.h. die Aufhebung der Strafbarkeit eines zuvor per Gesetz zum "crimen" erklärten Verhaltens. Die Forderung nach Entkriminalisierung drückt das Bestreben nach Reduktion des Strafrechts aus. Man denke an die - weltweit in unterschiedlichem Maße erfolgreichen - Bestrebungen zur Entkriminalisierung der Homosexualität, der Abtreibung, des Suizidversuchs, der Sterbehilfe, des Verkehrs mit und des Konsums von Cannabis und anderen Drogen, aber auch des Schwarzfahrens oder anderer gewaltloser Eigentums- und Vermögensdelikte. Eine restlose Abschaffung aller Straftatbestände gehört zum Programm des Abolitionismus in seiner kriminalpolitisch radikalen Variante (penal abolitionism).  
Entkriminalisierung bedeutet Rücknahme einer Kriminalisierung, d.h. die Aufhebung der Strafbarkeit eines zuvor per Gesetz zum "crimen" erklärten Verhaltens. Die Forderung nach Entkriminalisierung drückt das Bestreben nach Reduktion des Strafrechts aus. Man denke an die - weltweit in unterschiedlichem Maße erfolgreichen - Bestrebungen zur Entkriminalisierung der Homosexualität, der Abtreibung, des Suizidversuchs, der Sterbehilfe, des Verkehrs mit und des Konsums von Cannabis und anderen Drogen, aber auch des Schwarzfahrens oder anderer gewaltloser Eigentums- und Vermögensdelikte. Eine restlose Abschaffung aller Straftatbestände gehört zum Programm des Abolitionismus in seiner kriminalpolitisch radikalen Variante (penal abolitionism).  
==Zur Geschichte==
==Zur Geschichte==
Postuliert wurde eine Einschränkung des Strafrechts bereits im 18. Jahrhundert auf der Basis der utilitaristischen Philosophie der Aufklärung. Der Artikel 8 der Menschenrechte von 1789 enthält folgende Forderung: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires“ (zit. nach Roos 1981: 7).  
Postuliert wurde eine Einschränkung des Strafrechts bereits im 18. Jahrhundert auf der Basis der utilitaristischen Philosophie der Aufklärung. Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 enthält folgende Forderung: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires“ (zit. nach Roos 1981: 7).  
Bezogen auf die deutsche Strafrechtswissenschaft war es Mittermaier, der bereits 1819 den Entkriminalisierungsgedanken aufgriff. Er sah es als „Grundfehler“ an, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Auch Franz v. Liszt forderte in seiner „Strafzweckslehre“ Merkmale wie „Notwendigkeit“ als unabdingbare Voraussetzungen der Strafdrohung. „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.).
Bezogen auf die deutsche Strafrechtswissenschaft war es Mittermaier, der bereits 1819 den Entkriminalisierungsgedanken aufgriff. Er sah es als „Grundfehler“ an, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ Auch Franz v. Liszt forderte in seiner „Strafzweckslehre“ Merkmale wie „Notwendigkeit“ als unabdingbare Voraussetzungen der Strafdrohung. „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.).


„In der Strafrechtsgeschichte der vergangenen zweihundert Jahre sind Bemühungen um Zurückdrängung staatlichen Strafens durchaus nicht in Form einer gradlinig aufsteigenden Linie erfolgreich“, aber die kriminalpolitische Entwicklung weist „eine aufsteigende Kurve humanitären Denkens im Strafrecht“ auf (Vormbaum 2011 (1983): 1 f.).
„In der Strafrechtsgeschichte der vergangenen zweihundert Jahre sind Bemühungen um Zurückdrängung staatlichen Strafens durchaus nicht in Form einer gradlinig aufsteigenden Linie erfolgreich“, aber die kriminalpolitische Entwicklung weist „eine aufsteigende Kurve humanitären Denkens im Strafrecht“ auf (Vormbaum 2011 (1983): 1 f.).
Sich verstärkende entkriminalisierende Tendenzen lassen sich in den Jahren 1911 bis 1925 im Rahmen der praktischen Arbeiten zur Reform des damals als veraltet geltenden RStGB von 1871 feststellen. Im allgemeinen Teil der Entwürfe waren weitergehende Milderungen des Sanktionssystems, eine Vergrößerung des Ermessensspielraums der Richter bei der Strafbemessung, eine stärkere Berücksichtigung der Besonderheiten bei Jugendlichen Straftätern und ein allmählicher Aufbau eines dualistisches Systems von Strafen und Maßregeln vorgesehen. Die angeführten Reformbestrebungen fanden in der Gesetzgebung vorerst allerdings nicht die entsprechende Resonanz (Roos 1981: 11 f.).  
Sich verstärkende entkriminalisierende Tendenzen lassen sich in den Jahren 1911 bis 1925 im Rahmen der praktischen Arbeiten zur Reform des damals als veraltet geltenden RStGB von 1871 feststellen. Im allgemeinen Teil der Entwürfe waren weitergehende Milderungen des Sanktionssystems, eine Vergrößerung des Ermessensspielraums der Richter bei der Strafbemessung, eine stärkere Berücksichtigung der Besonderheiten bei Jugendlichen Straftätern und ein allmählicher Aufbau eines dualistisches Systems von Strafen und Maßregeln vorgesehen. Die angeführten Reformbestrebungen fanden in der Gesetzgebung vorerst allerdings nicht die entsprechende Resonanz (Roos 1981: 11 f.).
Als Wendepunkt in der Strafrechtspflege werden die Geldstrafengesetze von 1921 bis 1924 bezeichnet. In ihnen war die Ersetzung kurzer Freiheitsstrafen durch Geldstrafen enthalten. Spürbare Erleichterungen ergaben sich mit der Einführung des Jugendgerichtsgesetzes von 1923, das eine Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters von 12 auf 14 Jahre beinhaltete mit dem Ziel, ein vom Erziehungsgedanken geprägtes Sanktionssystem einzuführen. Weitere Entkriminalisierungen erfolgten im Rahmen der so genannten Emminger - Verordnung vom 04.01.1924, in welcher der Staatsanwaltschaft verboten wurde, geringfügige Übertretungen und Vergehen zu verfolgen, sofern diese nicht von öffentlichem Interesse waren (Roos 1981: 13).  
 
Nach dem 2. Weltkrieg entstand in den50er bis 70er Jahren in vielen europäischen Ländern eine Strafrechtsreformbewegung unter dem Motto „Sozialreform statt Strafrecht, Behandlung statt Strafe“. Parallel dazu gab es Forderungen, deren Ziel es war, diverse Straftatbestände, speziell im Bereich des Sexual- und Moral- sowie Drogenstrafrechts ersatzlos abzuschaffen. Als Alternative war u. a. an eine gesellschaftliche Selbstregulation gedacht, welche durch strafrechtliche Bestimmungen behindert würden (Steinert 1993: 11 f.).
Als Wendepunkt in der Strafrechtspflege werden die Geldstrafengesetze von 1921 bis 1924 bezeichnet. In ihnen war die Ersetzung kurzer Freiheitsstrafen durch Geldstrafen enthalten. Spürbare Erleichterungen ergaben sich mit der Einführung des Jugendgerichtsgesetzes von 1923, das eine Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters von 12 auf 14 Jahre mit dem Ziel beinhaltete, ein vom Erziehungsgedanken geprägtes Sanktionssystem einzuführen.
Auch in Deutschland wurden mit der „Großen Strafrechtsreform“ der 50er bis 70er Jahre erneut Entkriminalisierungsforderungen verbunden. Die Große Strafrechtskommission bestehend aus 24 Mitgliedern (Professoren, Richtern und Bundestagsabgeordneten) tagte von 1954 bis 1959. Die Kommission erarbeitete mehrere Gesetzesentwürfe. Der Entwurf des StGB von 1962 enthielt aber eher eine Überpönalisierung, da die Anzahl der Paragrafen von 370 auf 484 erhöht wurde (Roos 1981: 14 f.). Doch die Begrenztheit der Strafgewalt blieb die Leitidee bei den Reformbestrebungen. So enthielten bereits die ersten beiden Strafreformgesetze, die 1969 verabschiedet wurden, einige entsprechende Neuerungen. Durch das 2. Strafgesetz wurde der Allgemeine Teil des StGB neu gestaltet. In den folgenden Jahren wurden dann auch Änderungen im Besonderen Teil des StGB vorgenommen. Entscheidend für eine Entkriminalisierung war die Änderung, nach der nur noch Taten bestraft wurden, durch die ein Rechtsgut verletzt wurde. Strafbar war damit nicht mehr die Tatsache, dass eine Tat als unmoralisch angesehen wurde. Damit wurden einzelne Tatbestände gestrichen oder eingeschränkt. Es handelt sich um die folgenden Paragrafen:
 
Weitere Entkriminalisierungen erfolgten im Rahmen der so genannten Emminger - Verordnung vom 04.01.1924, in welcher der Staatsanwaltschaft verboten wurde, geringfügige Übertretungen und Vergehen zu verfolgen, sofern diese nicht von öffentlichem Interesse waren (Roos 1981: 13).
 
Nach dem 2. Weltkrieg entstand in den 50er bis 70er Jahren in vielen europäischen Ländern eine Strafrechtsreformbewegung unter dem Motto „Sozialreform statt Strafrecht, Behandlung statt Strafe“. Parallel dazu gab es Forderungen, deren Ziel es war, diverse Straftatbestände, speziell im Bereich des Sexual- und Moral- sowie Drogenstrafrechts ersatzlos abzuschaffen. Als Alternative war u. a. an eine gesellschaftliche Selbstregulation gedacht, welche durch strafrechtliche Bestimmungen behindert würden (Steinert 1993: 11 f.).
 
Auch in Deutschland wurden mit der „Großen Strafrechtsreform“ der 50er bis 70er Jahre erneut Entkriminalisierungsforderungen verbunden. Die Große Strafrechtskommission bestehend aus 24 Mitgliedern (Professoren, Richtern und Bundestagsabgeordneten) tagte von 1954 bis 1959. Die Kommission erarbeitete mehrere Gesetzesentwürfe. Der Entwurf des StGB von 1962 enthielt aber eher eine Überpönalisierung, da die Anzahl der Paragrafen von 370 auf 484 erhöht wurde (Roos 1981: 14 f.). Doch die Begrenztheit der Strafgewalt blieb die Leitidee bei den Reformbestrebungen. So enthielten bereits die ersten beiden Strafreformgesetze (1969) einige entsprechende Neuerungen. Durch das 2. Strafrechtsreformgesetz wurde der Allgemeine Teil des StGB neu gestaltet. In den folgenden Jahren wurden dann auch Änderungen im Besonderen Teil des StGB vorgenommen.
 
Entscheidend war die Änderung, nach der nur noch Taten bestraft wurden, durch die ein Rechtsgut verletzt wurde. Strafbar war damit nicht mehr die Tatsache, dass eine Tat als unmoralisch angesehen wurde. Damit wurden einzelne Tatbestände gestrichen oder eingeschränkt. Es handelt sich um die folgenden Paragrafen:
- (§172 a.F.) Ehebruch
- (§172 a.F.) Ehebruch
- (§175b a.F.) Unzucht zwischen Männern
- (§175b a.F.) Unzucht zwischen Männern
- (§175b a.F.) Widernatürliche Unzucht
- (§175b a.F.) Widernatürliche Unzucht
- (§180 a.F.) Kuppelei
- (§180 a.F.) Kuppelei
Durch die Änderung der Paragrafen (§§180a I, 181a II) bezüglich der Prostitution besteht inzwischen die Möglichkeit, den Prostituierten den Abschluss von Arbeitsverträgen und sichere Arbeitsbedingungen anzubieten.  
Durch die Änderung der Paragrafen (§§180a I, 181a II) bezüglich der Prostitution besteht inzwischen die Möglichkeit, den Prostituierten den Abschluss von Arbeitsverträgen und sichere Arbeitsbedingungen anzubieten.
 
Die Diskussion zur Entkriminalisierung ist in Deutschland keineswegs abgeschlossen. 1989 wurde z. B. im Auftrag der Bundesfraktion „Die Grünen“ von Beate Kohl und Sebastian Scheerer ein Konzept zur transformierenden Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte entwickelt.
Die Diskussion zur Entkriminalisierung ist in Deutschland keineswegs abgeschlossen. 1989 wurde z. B. im Auftrag der Bundesfraktion „Die Grünen“ von Beate Kohl und Sebastian Scheerer ein Konzept zur transformierenden Entkriminalisierung der gewaltlosen Eigentums- und Vermögensdelikte entwickelt.
1992 wurden von der Hessischen Kommission Kriminalpolitik Entkriminalisierungsvorschläge zum Straßenverkehrsrecht, zum Betäubungsmittelstrafrecht, zum Eigentums- und Vermögensstrafrecht sowie zum Strafverfahrensrecht vorgelegt.  
 
1992 wurden von der Hessischen Kommission Kriminalpolitik Entkriminalisierungsvorschläge zum Straßenverkehrsrecht, zum Betäubungsmittelstrafrecht, zum Eigentums- und Vermögensstrafrecht sowie zum Strafverfahrensrecht vorgelegt.
 
Ebenfalls 1992 brachte die Niedersächsische Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts Empfehlungen für Maßnahmen der Entkriminalisierung bei Bagatellverstößen gegen Eigentum und Vermögen, bei der Straßenverkehrsordnungsdelinquenz und bei dem Betäubungsmittel-Strafrecht heraus.
Ebenfalls 1992 brachte die Niedersächsische Kommission zur Reform des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts Empfehlungen für Maßnahmen der Entkriminalisierung bei Bagatellverstößen gegen Eigentum und Vermögen, bei der Straßenverkehrsordnungsdelinquenz und bei dem Betäubungsmittel-Strafrecht heraus.
Augenblicklich bestehen starke Bestrebungen zur Entkriminalisierung von Cannabis. Am 9. März 1994 erging der so genannte Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Erwerb, Besitz usw. von geringen Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch, nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden von einem Strafverfahren abgesehen werden kann. Der Ermessensspielraum wird in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gesehen. Die kriminalpolitische Diskussion darüber, ob der Cannabiskonsum eher durch eine Freigabe von Cannabis als durch eine generalpräventive Wirkung des Strafrechts vermindert werden kann, ist noch nicht beendet, da bislang noch keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse vorliegen. Da dieser Beschluss unbefriedigend für die Betroffenen ist, wurde am 21.10. 2010 von dem DHV eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten gestartet, über die im Bundestag beraten werden wird. Eine Anhörung hat am 25. 01.2012 in Berlin stattgefunden.  
 
==Entkriminalisierung von Cannabis ==
Am 9. März 1994 erging der so genannte Cannabis-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts demzufolge bei geringfügigen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz durch den Erwerb, Besitz usw. von geringen Mengen von Cannabis zum Eigenverbrauch, nach Ermessen der Strafverfolgungsbehörden von einem Strafverfahren abgesehen werden kann. Der Ermessensspielraum wird in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich gesehen. Die kriminalpolitische Diskussion darüber, ob der Cannabiskonsum eher durch eine Freigabe von Cannabis als durch eine generalpräventive Wirkung des Strafrechts vermindert werden kann, ist noch nicht beendet, da bislang noch keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse vorliegen. Da dieser Beschluss unbefriedigend für die Betroffenen ist, wurde am 21.10. 2010 von dem DHV eine Petition zur Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten gestartet, über die im Bundestag beraten werden wird. Eine Anhörung fand am 25. 01.2012 in Berlin statt.


== Typologien ==
== Typologien ==
1.841

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