Entkriminalisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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== Kritierien==
== Kritierien==
Entkriminalisierungen kommen immer dann in Betracht, wenn Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Einsatzes des Strafrechts zur Ächtung, Vorbeugung, Abschreckung und/oder Bestrafung eines Verhaltens aufkommen. Sei es, dass man das Verhalten nicht mehr so schlimm findet, sei es, dass man das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag problematisiert, und/oder weil man findet, der Staat habe mit der Kriminalisierung eines Verhaltens seine Befugnisse überschritten.
Entkriminalisierungen kommen immer dann in Betracht, wenn Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Einsatzes des Strafrechts zur Ächtung, Vorbeugung, Abschreckung und/oder Bestrafung eines Verhaltens aufkommen. Sei es, dass man
#das Verhalten nicht mehr so schlimm findet,
#das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag suboptimal findet - oder
#die Kompetenz des Staates zur strafrechtlichen Repression des Verhaltens bestreitet.


Das deutsche Verfassungsrecht kennt die drei Kriterien der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit. Wo auch nur eines dieser Kriterien nicht erfüllt ist - eine Strafnorm also entweder nicht geeignet oder nicht erforderlich oder nicht verhältnismäßig ist - ist sie verfassungswidrig.
Das deutsche Verfassungsrecht kennt die drei Kriterien der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit. Wo auch nur eines dieser Kriterien nicht erfüllt ist - eine Strafnorm also entweder nicht geeignet oder nicht erforderlich oder nicht verhältnismäßig ist - ist sie verfassungswidrig.


'''Ungeeignet''' ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Dass es auch dann verfassungswidrig ist, wenn es zwar zur Erreichung des Erfolgs geeignet, aber dazu gar '''nicht erforderlich''' ist, weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt, ist ein an der Aufklärung orientiertes Denken des politischen Liberalismus und des philosophischen Utilitarismus. Nicht ohne Grund schlug schon Cesare Beccaria in seiner kleinen, aber Epoche machenden Schrift über Verbrechen und Strafen aus dem Jahre 1764 einen hohen Ton an, als er postulierte (1764/1966: 52) "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, sagt der große Montesquieu, ist tyrannisch; ein Satz, der wie folgt sich verallgemeinern läßt: jeder Akt der Herrschaft eines Menschen über einen Menschen, der nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Dieser Gedanke tauchte dann sogar in Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 wieder auf, wo es hieß: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“ - In Deutschland erklärte es Mittermaier im Jahre 1819 zum "Grundfehler" seiner Zeit, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ - Kein geringerer als Franz von Liszt (zit. n. Roos 1981: 7f.) forderte in seiner Strafzweckslehre, dass ein Verhalten nur unter Strafe gestellt werden dürfe, wenn und soweit es dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Gustav Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.). - Eine Ausprägung findet das Kriterium der Notwendigkeit im Ultima-Ratio-Prinzip. Dieses besagt: Strafrecht darf als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. - Schließlich kann ein Strafgesetz verfassungswidrig sein, weil es allzu tief und '''unverhältnismäßig''' in die Grundrechte eingreift.  
'''Ungeeignet''' ist ein Strafgesetz dann, wenn es den angestrebten Erfolg gar nicht erreichen kann. Dass es auch dann verfassungswidrig ist, wenn es zwar zur Erreichung des Erfolgs geeignet, aber dazu gar '''nicht erforderlich''' ist, weil es andere und weniger einschneidende Mittel gibt, ist ein an der Aufklärung orientiertes Denken des politischen Liberalismus und des philosophischen Utilitarismus. Nicht ohne Grund schlug schon Cesare Beccaria in seiner kleinen, aber Epoche machenden Schrift über Verbrechen und Strafen aus dem Jahre 1764 einen hohen Ton an, als er postulierte (1764/1966: 52) "Jede Strafe, die nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, sagt der große Montesquieu, ist tyrannisch; ein Satz, der wie folgt sich verallgemeinern läßt: jeder Akt der Herrschaft eines Menschen über einen Menschen, der nicht aus unausweichlicher Notwendigkeit folgt, ist tyrannisch." Dieser Gedanke tauchte dann sogar in Artikel 8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1789 wieder auf, wo es hieß: „La loi ne doit établir que des peines strictement et évidemment nécessaires.“ - In Deutschland erklärte es Mittermaier im Jahre 1819 zum "Grundfehler" seiner Zeit, „die Strafgesetze zu vervielfältigen und das kriminelle Gebiet zu weit auszudehnen.“ - Kein geringerer als Franz von Liszt (zit. n. Roos 1981: 7f.) forderte in seiner Strafzweckslehre, dass ein Verhalten nur unter Strafe gestellt werden dürfe, wenn und soweit es dafür eine Notwendigkeit bestehe: „Wo andere sozialpolitische Maßnahmen oder eigene freiwillige Leistungen des Täters einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können, darf - mangels Notwendigkeit - nicht bestraft werden“ (zit. nach Roos 1981: 7 f.). Gustav Radbruch erklärte 1927 in seiner Schrift „Abbau des Strafrechts“, dass das Ziel der strafrechtlichen Entwicklung nicht die Verbesserung des Strafrechts sei, sondern das Ersetzen des Strafrechts durch etwas Besseres. Seitdem wurde eine Begrenzung des Strafrechts immer wieder gefordert (Roos 1981: 8 ff.). - Eine Ausprägung findet das Kriterium der Notwendigkeit im Ultima-Ratio-Prinzip. Dieses besagt: Strafrecht darf als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument nur eingesetzt werden, wenn andere gesellschaftliche oder gesetzliche Regulierungsmöglichkeiten unzureichend sind, um wichtige Rechtsgüter zu schützen. - Schließlich kann ein Strafgesetz verfassungswidrig sein, weil es allzu tief und '''unverhältnismäßig''' in die Grundrechte eingreift.


== Voraussetzungen ==
== Voraussetzungen ==
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