Staatsverstärkte Kriminalität: Unterschied zwischen den Versionen

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==Kriminalpolitischer Kontext==
==Kriminalpolitischer Kontext==
Gibt es die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht? Unsere Strafgesetzbücher sind auf bürgerlich-private Straftaten aufgebaut, die eine Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer annehmen, oder sogar, dass das Opfer stärker ist als der Täter. Bei politisch-staatlich abgeleiteten Straftaten ist das Opfer prinzipiell schwächer und der Täter stärker als im üblichen strafrechtlichen Grundmuster. Unsere positivistische Strafrechtsdogmatik ist auf staatsverstärkte Kriminalität nicht vorbereitet. Die herkömmliche Anwendung banalisiert staatsverstärkte Kriminalität auf zweierlei Weise: Staats-Kriminalität wird in ein "Täter A gegen Opfer B" Schema gepresst, während sie damit gleichzeitig die Besonderheit der Staatskriminalität ausblendet, und sie wird als vorübergehende Ausnahme aufgefasst. Darüberhinaus zeugt die angestrebte schnelle Rückkehr zur Privat-Kriminalität von einer fehlenden strafrechtlichen Berufsethik, ohne die auch die methodisch korrekte Anwendung von Strafgesetzen steuerlos ist.  
Gibt es die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht? Unsere Strafgesetzbücher sind auf bürgerlich-private Straftaten aufgebaut, die eine Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer annehmen, oder sogar, dass das Opfer stärker ist als der Täter. Bei politisch-staatlich abgeleiteten Straftaten ist das Opfer prinzipiell schwächer und der Täter stärker als im üblichen strafrechtlichen Grundmuster. Unsere positivistische Strafrechtsdogmatik ist auf staatsverstärkte Kriminalität nicht vorbereitet. Die herkömmliche Anwendung banalisiert staatsverstärkte Kriminalität auf zweierlei Weise: Staats-Kriminalität wird in ein "Täter A gegen Opfer B" Schema gepresst, während sie damit gleichzeitig die Besonderheit der Staatskriminalität ausblendet, und sie wird als vorübergehende Ausnahme aufgefasst. Darüberhinaus zeugt die angestrebte schnelle Rückkehr zur Privat-Kriminalität von einer fehlenden strafrechtlichen Berufsethik, ohne die auch die methodisch korrekte Anwendung von Strafgesetzen steuerlos ist.  


==Verwandte Begriffe==
==Verwandte Begriffe==
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Der durch Präventionstheorien geprägte Hintergrund der Einzelfallentscheidungen zur staatsverstärkten Kriminalität schien ein Grund für den Vorsprung des Unrechtstaats DDR im Strafprozess zu sein. Zu den Präventionstheorien kommt eine Staatstheorie, in der der Staat ein Instrument zur Erreichung historisch wechselnder politischer Ziele ist, in erster Linie im nationalen Rahmen. Bei der Zielerreichung ist das Strafrecht unerläßlich. Diese Theorie - das Denken in empirischen Interessen und realistischen Interessenausgleichen durch positives Strafrecht ist die größte Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Mit “Gesetzen” oder “Recht” werden die Mittel zur Staatszweckerreichung überhöht.
Der durch Präventionstheorien geprägte Hintergrund der Einzelfallentscheidungen zur staatsverstärkten Kriminalität schien ein Grund für den Vorsprung des Unrechtstaats DDR im Strafprozess zu sein. Zu den Präventionstheorien kommt eine Staatstheorie, in der der Staat ein Instrument zur Erreichung historisch wechselnder politischer Ziele ist, in erster Linie im nationalen Rahmen. Bei der Zielerreichung ist das Strafrecht unerläßlich. Diese Theorie - das Denken in empirischen Interessen und realistischen Interessenausgleichen durch positives Strafrecht ist die größte Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Mit “Gesetzen” oder “Recht” werden die Mittel zur Staatszweckerreichung überhöht.


==Beispiel für staatsverstärkte Kriminalität==
==Beispiel für staatsverstärkte Kriminalität==


===Mauerschützenprozesse
===Mauerschützenprozesse===
===
Mit dem Mauerbaubeginn quer durch Berlin am 13.8.1961 sollte der zunehmenden Republikflucht qualifizierter Arbeitskräfte und geistiger Elite aus der DDR Einhalt geboten werden.
Mit dem Mauerbaubeginn quer durch Berlin am 13.8.1961 sollte der zunehmenden Republikflucht qualifizierter Arbeitskräfte und geistiger Elite aus der DDR Einhalt geboten werden.


==Legaler Schießbefehl==
===Legaler Schießbefehl===
Für den Volkspolizistendienst an der Grenze galten zunächst offiziell die Grenzdienstordnung und die Schusswaffengebrauchsbestimmung (Dienstvorschrift der Grenztruppen der DDR). Die Vorschriften vor dem Mauer-Bau 1961 sahen eine Anwendung der Schusswaffe nur zum Eigenschutz der Grenzposten, zur Notwehr oder zur allgemeinen Gefahrenabwehr vor. (Vgl. DV III/2 Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten vom 12. Sept. 1958, in: Riemer 1995, S. 100ff.) Mit dem Grenzgesetz (1.Mai 1982) über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik, hier § 27, erlangte die Praxis, auf Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze scharf zu schießen, zum ersten Mal einen legalen Status. Vor der gesetzlichen Begründung des Schießbefehls im DDR-Recht gab es lediglich interne Anweisungen an die zur Grenzbewachung eingesetzten bewaffneten Kräfte. Diese Anweisungen unterschieden sich teilweise erheblich von der späteren Rechtsgrundlage.
Für den Volkspolizistendienst an der Grenze galten zunächst offiziell die ''Grenzdienstordnung'' und die ''Schusswaffengebrauchsbestimmung'' (Dienstvorschrift der Grenztruppen der DDR). Die Vorschriften vor dem Mauer-Bau 1961 sahen eine Anwendung der Schusswaffe nur zum Eigenschutz der Grenzposten, zur Notwehr oder zur allgemeinen Gefahrenabwehr vor. (Vgl. DV III/2 Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten vom 12. Sept. 1958, in: Riemer 1995, S. 100ff.) Mit dem Grenzgesetz (1.Mai 1982) über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik, hier § 27, erlangte die Praxis, auf Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze scharf zu schießen, zum ersten Mal einen legalen Status. Vor der gesetzlichen Begründung des Schießbefehls im DDR-Recht gab es lediglich interne Anweisungen an die zur Grenzbewachung eingesetzten bewaffneten Kräfte. Diese Anweisungen unterschieden sich teilweise erheblich von der späteren Rechtsgrundlage.


==Todesopfer==
===Todesopfer===


Die Zahl der Todesopfer an der 161 km langen Mauer schwankt zwischen 86 und 262. Die Arbeitsgemeinschaft 13.August 2009 (Mauermuseum am Checkpoint Charlie in Berlin) geht von 245 Maueropfern und 38 natürlichen Sterbefällen aus (Stand 2009).
Die Zahl der Todesopfer an der 161 km langen Mauer schwankt zwischen 86 und 262. Die Arbeitsgemeinschaft 13.August 2009 (Mauermuseum am Checkpoint Charlie in Berlin) geht von 245 Maueropfern und 38 natürlichen Sterbefällen aus (Stand 2009).


==Gerichtsverfahren==
===Gerichtsverfahren===
In Berlin, Potsdam und Neuruppin wurde 1992 gegen 277 Personen als Schützen und Tatbeteiligte - ehemalige Grenzsoldaten und Mannschaftsdienstgrade der NVA, führende Militärs, sowie Mitglieder der politischen Führung der DDR - Anklage erhoben.
In Berlin, Potsdam und Neuruppin wurde 1992 gegen 277 Personen als Schützen und Tatbeteiligte - ehemalige Grenzsoldaten und Mannschaftsdienstgrade der NVA, führende Militärs, sowie Mitglieder der politischen Führung der DDR - Anklage erhoben.
Die Täter, die sich darauf beriefen, dass ihr Staat und ihre Politik einmal Bestand gehabt haben, erfuhren eine strukturelle strafrechtliche Bevorzugung.
Die Täter, die sich darauf beriefen, dass ihr Staat und ihre Politik einmal Bestand gehabt haben, erfuhren eine strukturelle strafrechtliche Bevorzugung.
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Die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität schien zunächst erschwert und zum Teil verhindert durch die juristische Annahme, dass diese Kriminalität exakt positivrechtlich geregelt sein müsse, sie uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots unterstehe und sie durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht würde.
Die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität schien zunächst erschwert und zum Teil verhindert durch die juristische Annahme, dass diese Kriminalität exakt positivrechtlich geregelt sein müsse, sie uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots unterstehe und sie durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht würde.
===Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität===
Zunächst sah es so aus, als ob die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität erschwert und zum Teil verhindert würde durch die juristischen Annahme, dass diese Kriminalität exakt positivrechtlich geregelt sein müsse, sie uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots unterstehe und sie durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht würde.
Der BGH argumentierte 1994, dass schwere, strafwürdige Staatskriminalität nicht bestraft werden könne, weil kein Gesetz dasei. Er sprach Angehörige des Ministeriums des Staatssicherheitsdienstes der DDR davon frei, aus internationalen Postsendungen Geld entnommen und dem Staatshaushalt der DDR zugeschoben zu haben. Wolfgang Naucke nennt die Begründung des BGH ein bedrückendes Beispiel für die Nicht-Nutzung der Möglichkeiten des modernen strafrechtlichen Positivismus zur Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität.
Ein Grund für den Vorsprung des Unrechtstaats DDR im Strafprozess war der durch Präventionstheorien geprägte Hintergrund der Einzelfallentscheidungen zur staatsverstärkten Kriminalität. Zu den Präventionstheorien kommt eine Staatstheorie, in der der Staat ein Instrument zur Erreichung historisch wechselnder politischer Ziele ist, in erster Linie im nationalen Rahmen. Bei der Zielerreichung ist das Strafrecht unerläßlich. Diese Theorie - das Denken in empirischen Interessen und realistischen Interessenausgleichen durch positives Strafrecht ist die größte Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Mit “Gesetzen” oder “Recht” werden die Mittel zur Staatszweckerreichung überhöht.
Die Verfolgung und Bearbeitung der Strafverfahren gegen die Mauerschützen erfuhren  eine strukturelle strafrechtliche Bevorzugung  der Täter, die sich darauf beriefen, dass ihr Staat und ihre Politik einmal Bestand gehabt haben.


==Verfolgung und Bestrafung der staatsverstärkten Kriminalität==
==Verfolgung und Bestrafung der staatsverstärkten Kriminalität==


===bisherige strafrechtliche Spuren===
===bisherige strafrechtliche Spuren===
* erste Spur : einheitliches, reines, rechtsstaatliches Strafrecht, dem Rückwirkungs- und Analogieverbot verpflichtet,
* zweite Spur: Massregeln der Besserung und Sicherung für gefährliche schuldlose Täter,
* dritte Spur: Diversion).


===Entwicklung weiterer Spuren===
* erste Spur : einheitliches, reines, rechtsstaatliches Strafrecht, dem Rückwirkungs- und Analogieverbot verpflichtet,
* zweite Spur: Massregeln der Besserung und Sicherung für gefährliche schuldlose Täter,
* dritte Spur: [[Diversion]]


* Bekämpfung der BtM-Kriminalität und der organisierten Kriminalität,  
(weitere Spuren:
* Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung.
* Bekämpfung der BtM-Kriminalität und der organisierten Kriminalität,  
* Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung)


Die Mauerschützenentscheidung des BGH 1992/93 wurde noch als Teil der ersten Spur formuliert und zeigt die juristische Bevorteilung staatsverstärkter Kriminalität.
Die Mauerschützenentscheidung des BGH 1992/93 wurde noch als Teil der ersten Spur formuliert und zeigt die juristische Bevorteilung staatsverstärkter Kriminalität.


===vierte strafrechtliche Spur===
===vierte strafrechtliche Spur===
Naucke sieht im heutigen strafrechtlichen Positivismus eine Methode zur Erzielung weit auseinander liegender Möglichkeiten. Die Anwendung einer erneuerten Radbruch-Formel, in der das positive Strafrecht der DDR um das gesetzliche Unrecht verringert wird, könnte einen Weg aus dem Dilemma darstellen.


Naucke sieht im heutigen strafrechtlichen Positivismus eine Methode zur Erzielung weit auseinander liegender Möglichkeiten. Die Anwendung einer erneuerten Radbruch-Formel, in der das positive Strafrecht der DDR um das gesetzliche Unrecht verringert wird, könnte einen Weg aus dem Dilemma darstellen.
Die starke juristische Rückversicherung für die staatsverstärkte Kriminalität durch das Rückwirkungsverbot ist keine, weil das Rückwirkungsverbot bei stvK nicht zuständig sein kann. Auch in anderen Zusammenhängen wirkungslos gemacht, ist die Anwendung oder Nichtanwendung des Rückwirkungsverbots eine Sache des Wollens.
Die starke juristische Rückversicherung für die staatsverstärkte Kriminalität durch das Rückwirkungsverbot ist keine, weil das Rückwirkungsverbot bei stvK nicht zuständig sein kann. Auch in anderen Zusammenhängen wirkungslos gemacht, ist die Anwendung oder Nichtanwendung des Rückwirkungsverbots eine Sache des Wollens.
Naucke fordert das strafrechtliche Spezialgebiet der Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität, in dem die rechtsstaatlichen Regeln den Staatskriminellen wie jeden anderen Bürger schützen, aber nicht zur Verhinderung von Strafverfahren missbraucht werden. Dieses nennt er die vierte strafrechtliche Spur.
Naucke fordert das strafrechtliche Spezialgebiet der Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität, in dem die rechtsstaatlichen Regeln den Staatskriminellen wie jeden anderen Bürger schützen, aber nicht zur Verhinderung von Strafverfahren missbraucht werden. Dieses nennt er die vierte strafrechtliche Spur.
* vierte Spur für die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität.  
 
Sie kann mit Blick auf das Internationale Strafrecht auch im nationalen Recht gebildet werden. Sie ist eine Denkform zur Beurteilung staatsverstärkter Kriminalität, die für die Zeit der Tatbegehung gilt oder galt, nur faktisch nicht durchgesetzt werden konnte. Es würde sich im materiellen Recht eine Konzentration auf die vorsätzlichen Taten gegen Person und Eigentum und auf den Völkermord ergeben; weiterhin die Unzuständigkeit des Rückwirkungs- und des Analogieverbots, und die Wirkungslosigkeit der par in parem non habet imperium und der princeps legibus solutus Formeln.
* vierte Spur: für die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität.  
 
Sie kann mit Blick auf das Internationale Strafrecht auch im nationalen Recht gebildet werden. Sie ist eine Denkform zur Beurteilung staatsverstärkter Kriminalität, die für die Zeit der Tatbegehung gilt oder galt, nur faktisch nicht durchgesetzt werden konnte. Es würde sich im materiellen Recht eine Konzentration auf die vorsätzlichen Taten gegen Person und Eigentum und auf den [[Völkermord]] ergeben; weiterhin die Unzuständigkeit des Rückwirkungs- und des Analogieverbots, und die Wirkungslosigkeit der ''par in parem non habet imperium'' und der ''princeps legibus solutus'' Formeln.


==Kritik==
==Kritik==
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