Staatsverstärkte Kriminalität: Unterschied zwischen den Versionen

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==Kriminalpolitischer Kontext==
==Kriminalpolitischer Kontext==
Gibt es die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht? Unsere Strafgesetzbücher sind auf bürgerlich-private Straftaten aufgebaut, die eine Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer annehmen, oder sogar, dass das Opfer stärker ist als der Täter. Bei politisch-staatlich abgeleiteten Straftaten ist das Opfer prinzipiell schwächer und der Täter stärker als im üblichen strafrechtlichen Grundmuster. Unsere positivistische Strafrechtsdogmatik ist auf staatsverstärkte Kriminalität nicht vorbereitet. Die herkömmliche Anwendung banalisiert staatsverstärkte Kriminalität auf zweierlei Weise: Staats-Kriminalität wird in ein "Täter A gegen Opfer B" Schema gepresst, während sie damit gleichzeitig die Besonderheit der Staatskriminalität ausblendet, und sie wird als vorübergehende Ausnahme aufgefasst. Weil das Grundmuster bei der stvK nicht gilt, kann dies zu Privilegierung der stvK und zu behutsamerer Behandlung der Täter der stvK führen. Darüberhinaus zeugt die angestrebte schnelle Rückkehr zur Privat-Kriminalität von einer fehlenden strafrechtlichen Berufsethik, ohne die auch die methodisch korrekte Anwendung von Strafgesetzen steuerlos ist.  
Gibt es die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht? Unsere Strafgesetzbücher sind auf bürgerlich-private Straftaten aufgebaut, die eine Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer annehmen, oder sogar, dass das Opfer stärker ist als der Täter. Bei politisch-staatlich abgeleiteten Straftaten ist das Opfer prinzipiell schwächer und der Täter stärker als im üblichen strafrechtlichen Grundmuster. Unsere positivistische Strafrechtsdogmatik ist auf staatsverstärkte Kriminalität nicht vorbereitet. Die herkömmliche Anwendung banalisiert staatsverstärkte Kriminalität auf zweierlei Weise: Staats-Kriminalität wird in ein "Täter A gegen Opfer B" Schema gepresst, während sie damit gleichzeitig die Besonderheit der Staatskriminalität ausblendet, und sie wird als vorübergehende Ausnahme aufgefasst. Darüberhinaus zeugt die angestrebte schnelle Rückkehr zur Privat-Kriminalität von einer fehlenden strafrechtlichen Berufsethik, ohne die auch die methodisch korrekte Anwendung von Strafgesetzen steuerlos ist.  


==Verwandte Begriffe==
==Verwandte Begriffe==


[[Wolfgang Naucke]] hat den Begriff anstelle von [[Regimeverbrechen]], Staats- oder [[Regimekriminalität]] gestellt (Arendes, C. 2006). Der Begriff ist verwandt mit dem der [[Makrokriminalität]] (Jäger, H., 1989,1993), betont jedoch die verzweifelte Freiheitssituation des Opfers der Makrokriminalität stärker. Der Begriff 'Staatsverstärkte Kriminalität' zeigt die Begehungsweise wirklichkeitsnäher als der verwandte Begriff '[[Herrschaftskriminalität]]'.
[[Wolfgang Naucke]] hat den Begriff anstelle von [[Regimeverbrechen]], Staats- oder [[Regimekriminalität]] gestellt (Arendes, C. 2006). Der Begriff ist verwandt mit dem der [[Makrokriminalität]] (Jäger, H., 1989,1993), betont jedoch die verzweifelte Freiheitssituation des Opfers der Makrokriminalität stärker. Der Begriff 'Staatsverstärkte Kriminalität' zeigt die Begehungsweise wirklichkeitsnäher als der verwandte Begriff '[[Herrschaftskriminalität]]'. Nach ''Sebastian Scheerer'' 1993 ist Kriminalität der Mächtigen 'die Summe der Straftaten, die zur Stärkung oder Verteidigung überlegener Macht begangen werden'.


Nach ''Kai Ambos'' (2002) umfasst politische Makrokriminalität die sog. ''staatsverstärkte Kriminalität'', ''das politische bedingte Kollektivverbrechen'',  und die ''staatsinterne Kriminalität'', wobei auch nichtstaatliche Akteure [[Verbrechen]] gegen die Menschlichkeit ausüben können, wenn sie in einem ausgedehnten und systematischen Zusammenhang stehen.
Nach ''Kai Ambos'' (2002) umfasst politische Makrokriminalität die sog. ''staatsverstärkte Kriminalität'', ''das politische bedingte Kollektivverbrechen'',  und die ''staatsinterne Kriminalität'', wobei auch nichtstaatliche Akteure [[Verbrechen]] gegen die Menschlichkeit ausüben können, wenn sie in einem ausgedehnten und systematischen Zusammenhang stehen.


Sie ist mühelos daran erkennbar, dass die Freiheit des Einzelnen gegen die Unwiderstehlichkeit der gesammelten staatlichen Macht steht und untergeht. Ein Charakteristikum der staatsverstärkten Kriminalität ist es, eine feige Art der Kriminalität zu sein. Die Nutzung staatlicher Macht, um eine Straftat begehen zu können, ist im Prinzip eine feige Begehungsweise, an der die staatsverstärkte Kriminalität erkennbar ist.
Sie ist mühelos daran erkennbar, dass die Freiheit des Einzelnen gegen die Unwiderstehlichkeit der gesammelten staatlichen Macht steht und untergeht. Ein Charakteristikum der staatsverstärkten Kriminalität ist es, eine feige Art der Kriminalität zu sein. Die Nutzung staatlicher Macht, um eine Straftat begehen zu können, ist im Prinzip eine feige Begehungsweise, an der die staatsverstärkte Kriminalität erkennbar ist.


==Problemstellung==
==Problemstellung==
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Die staatsverstärkte Kriminalität ist zeitlich und räumlich ubiquitär. Statt sie als vorübergehende Unterbrechung der Normalität nach dem Muster von E. Schmidt(1965 §§345-347)anzusehen, ist ihre Bewältigung eine der Hauptaufgaben der Strafrechtsdogmatik.
Die staatsverstärkte Kriminalität ist zeitlich und räumlich ubiquitär. Statt sie als vorübergehende Unterbrechung der Normalität nach dem Muster von E. Schmidt(1965 §§345-347)anzusehen, ist ihre Bewältigung eine der Hauptaufgaben der Strafrechtsdogmatik.


Die Problematik bei der stvK besteht darin, dass die naturrechtswidrigen Staatsverbrechen gegen alle Erwartung einer positivistischen Strafrechtslehre als positivrechtlich strafbar ausgewiesen werden müssen.  
Die Problematik bei der stvK besteht darin, dass die naturrechtswidrigen Staatsverbrechen gegen alle Erwartung einer positivistischen Strafrechtslehre als positivrechtlich strafbar ausgewiesen werden müssen. Mit der staatsverstärkten Kriminalität sollte ein naturrechtliches Problem in die Arbeitsformeln des strafrechtlichen Positivismus gezwängt werden. Weil es weder natürliche Rechte und natürlich-gerechte Bestrafung noch ein überpositives Recht gäbe, habe man im positiven Recht zu suchen - nur dort findet sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht.
Mit der staatsverstärkten Kriminalität sollte ein naturrechtliches Problem in die Arbeitsformeln des strafrechtlichen Positivismus gezwängt werden. Weil es weder natürliche Rechte und natürlich-gerechte Bestrafung noch ein überpositives Recht gäbe, habe man im positiven Recht zu suchen - nur dort findet sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht.  


Rechtlich ist die staatsverstärkte Kriminalität kaum einzuordnen. Nach den Regeln des Positivismus, die nach Naucke ein offenes politisches Geschenk an ungerechte Staatsführungen sind, läßt sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht bestrafen. Dies führt zu nachsichtigen Strafverfahren gegen ungerechte Machthaber und zu unbefriedigenden Urteilen mit struktureller strafrechtlicher Bevorzugung jener Täter, die sich darauf berufen, dass ihr Staat und Ihre Politik einmal Bestand hatten.  
Rechtlich ist die staatsverstärkte Kriminalität kaum einzuordnen. Nach den Regeln des Positivismus, die nach Naucke ein offenes politisches Geschenk an ungerechte Staatsführungen sind, läßt sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht bestrafen. Dies führt zu nachsichtigen Strafverfahren gegen ungerechte Machthaber und zu unbefriedigenden Urteilen mit struktureller strafrechtlicher Bevorzugung jener Täter, die sich darauf berufen, dass ihr Staat und Ihre Politik einmal Bestand hatten.


Ist die Staats-Kriminalität prozessual und materiellrechtlich normale Kriminalität? Wie ist sie zu handhaben?
Ist die Staats-Kriminalität prozessual und materiellrechtlich normale Kriminalität? Wie ist sie zu handhaben?
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Mit Einsatz der Stärke der staatlichen Organisation, mit Uniformen, Titeln, Befehlssträngen, mit technischer Ausrüstung, Verwaltungsorganisation, mit den Möglichkeiten, große Menschenmassen in Bewegung zu setzen, hat die stvK den leicht erwerbbaren Schein von Legitimität. Die Freiheitsüberwindung des Einzelnen wird zusammengebracht mit Staatskennzeichen, Staatsorganisation und Staatsnotwendigkeit.
Mit Einsatz der Stärke der staatlichen Organisation, mit Uniformen, Titeln, Befehlssträngen, mit technischer Ausrüstung, Verwaltungsorganisation, mit den Möglichkeiten, große Menschenmassen in Bewegung zu setzen, hat die stvK den leicht erwerbbaren Schein von Legitimität. Die Freiheitsüberwindung des Einzelnen wird zusammengebracht mit Staatskennzeichen, Staatsorganisation und Staatsnotwendigkeit.


Das positive Strafrecht hat nach W.N. keine selbstverständlichen Grenzen. Wenn diese Grenzen berufen würden, handle es sich um eine gewollte Grenze. Dies ist eine strafjuristischen Grundströmung, die die politisch-staatlich abgeleitete Straftat gegenüber der bürgerlich-privaten Straftat besserstellt und die Täter staatsverstärkter Kriminalität privilegiert.  
Das positive Strafrecht hat nach W.N. keine selbstverständlichen Grenzen. Wenn diese Grenzen berufen würden, handle es sich um eine gewollte Grenze. Dies ist eine strafjuristischen Grundströmung, die die politisch-staatlich abgeleitete Straftat gegenüber der bürgerlich-privaten Straftat besserstellt und die Täter staatsverstärkter Kriminalität privilegiert.


Der BGH argumentierte 1994, dass schwere, strafwürdige Staatskriminalität nicht bestraft werden könne, weil kein Gesetz dasei. Er sprach Angehörige des Ministeriums des Staatssicherheitsdienstes der DDR davon frei, aus internationalen Postsendungen Geld entnommen und dem Staatshaushalt der DDR zugeschoben zu haben. Die Begründung ist nach Wolfgang Naucke ein bedrückendes Beispiel für die Nicht-Nutzung der Möglichkeiten des modernen strafrechtlichen Positivismus zur Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität.
Der BGH argumentierte 1994, dass schwere, strafwürdige Staatskriminalität nicht bestraft werden könne, weil kein Gesetz dasei. Er sprach Angehörige des Ministeriums des Staatssicherheitsdienstes der DDR davon frei, aus internationalen Postsendungen Geld entnommen und dem Staatshaushalt der DDR zugeschoben zu haben. Die Begründung ist nach Wolfgang Naucke ein bedrückendes Beispiel für die Nicht-Nutzung der Möglichkeiten des modernen strafrechtlichen Positivismus zur Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität.
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===Mauerschützenprozesse===
===Mauerschützenprozesse===
 
Mit dem Mauerbaubeginn quer durch Berlin am 13.8.1961 sollte der zunehmenden Republikflucht qualifizierter Arbeitskräfte und geistiger Elite aus der DDR Einhalt geboten werden.
Mit dem Mauerbaubeginn durch Berlin am 13.8.1961 sollte der zunehmenden Republikflucht qualifizierter Arbeitskräfte und geistiger Elite aus der DDR Einhalt geboten werden.


===Legaler Schießbefehl===
===Legaler Schießbefehl===
Für den Volkspolizistendienst an der Grenze galten zunächst offiziell die ''Grenzdienstordnung'' und die ''Schusswaffengebrauchsbestimmung'' (Dienstvorschrift der Grenztruppen der DDR). Die Vorschriften vor dem Mauer-Bau 1961 sahen eine Anwendung der Schusswaffe nur zum Eigenschutz der Grenzposten, zur Notwehr oder zur allgemeinen Gefahrenabwehr vor. (Vgl. DV III/2 Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten vom 12. Sept. 1958, in: Riemer 1995, S. 100ff.) Mit dem Grenzgesetz (1.Mai 1982) über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik, hier § 27, erlangte die Praxis, auf Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze scharf zu schießen, zum ersten Mal einen legalen Status. Vor der gesetzlichen Begründung des Schießbefehls im DDR-Recht gab es lediglich interne Anweisungen an die zur Grenzbewachung eingesetzten bewaffneten Kräfte. Diese Anweisungen unterschieden sich teilweise erheblich von der späteren Rechtsgrundlage.


Für den Volkspolizistendienst an der Grenze galten zunächst offiziell die ''Grenzdienstordnung'' und die ''Schusswaffengebrauchsbestimmung'' (Dienstvorschrift der Grenztruppen der DDR). Die Vorschriften vor dem Mauer-Bau 1961 sahen eine Anwendung der Schusswaffe nur zum Eigenschutz der Grenzposten, zur Notwehr oder zur allgemeinen Gefahrenabwehr vor. (Vgl. DV III/2 Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten vom 12. Sept. 1958, in: Riemer 1995, S. 100ff.)
===Todesopfer===
Mit dem Grenzgesetz (1.Mai 1982) über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik, hier § 27, erlangte die Praxis, auf Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze scharf zu schießen, zum ersten Mal einen legalen Status. Vor der gesetzlichen Begründung des Schießbefehls im DDR-Recht gab es lediglich interne Anweisungen an die zur Grenzbewachung eingesetzten bewaffneten Kräfte. Diese Anweisungen unterschieden sich teilweise erheblich von der späteren Rechtsgrundlage.


===Todesopfer===
Die Zahl der Todesopfer an der 161 km langen Mauer schwankt zwischen 86 und 262. Die Arbeitsgemeinschaft 13.August 2009 (Mauermuseum am Checkpoint Charlie in Berlin) geht von 245 Maueropfern und 38 natürlichen Sterbefällen aus (Stand 2009).
Die Zahl der Todesopfer an der 161 km langen Mauer schwankt zwischen 86 und 262. Die Arbeitsgemeinschaft 13.August 2009 (Mauermuseum am Checkpoint Charlie in Berlin) geht von 245 Maueropfern und 38 natürlichen Sterbefällen aus (Stand 2009).


===Gerichtsverfahren===
===Gerichtsverfahren===
 
In Berlin, Potsdam und Neuruppin wurde 1992 gegen 277 Personen als Schützen und Tatbeteiligte - ehemalige Grenzsoldaten und Mannschaftsdienstgrade der NVA, führende Militärs, sowie Mitglieder der politischen Führung der DDR - Anklage erhoben.
In Berlin, Potsdam und Neuruppin wurde 1992 gegen 277 Personen als Schützen und Tatbeteiligte - ehemalige Grenzsoldaten und Mannschaftsdienstgrade der NVA, führende Militärs, sowie Mitglieder der politischen Führung der DDR - Anklage erhoben.  
 
Die Täter, die sich darauf beriefen, dass ihr Staat und ihre Politik einmal Bestand gehabt haben, erfuhren eine strukturelle strafrechtliche Bevorzugung.
Die Täter, die sich darauf beriefen, dass ihr Staat und ihre Politik einmal Bestand gehabt haben, erfuhren eine strukturelle strafrechtliche Bevorzugung.
151 Täter wurden wegen ihrer Taten oder Beteiligungen zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen in den sogenannten Mauerschützenentscheidungen verurteilt. Überwiegend waren es Strafen von 6 bis 24 Monaten auf Bewährung, die längste Freiheitsstrafe betrug 10 Jahre. Mit zunehmender Verantwortung gab es höhere Strafen, siehe Anhang: Historischer Überblick.


151 Täter wurden wegen ihrer Taten oder  Beteiligungen zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen in den sogenannten ''Mauerschützen''entscheidungen verurteilt. Überwiegend waren es Strafen von 6 bis 24 Monaten auf Bewährung, die längste Freiheitsstrafe betrug 10 Jahre. Mit zunehmender Verantwortung gab es höhere Strafen, siehe Anhang: Historischer Überblick.
Die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität schien zunächst erschwert und zum Teil verhindert durch die juristische Annahme, dass diese Kriminalität exakt positivrechtlich geregelt sein müsse, sie uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots unterstehe und sie durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht würde.


Die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität schien zunächst erschwert und zum Teil verhindert durch die juristische Annahme, dass diese Kriminalität exakt positivrechtlich geregelt sein müsse, sie uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots unterstehe und sie durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht würde.
==Verfolgung und Bestrafung der staatsverstärkten Kriminalität==
 
==Die Bestrafung der staatsverstärkten Kriminalität==


===bisherige strafrechtliche Spuren===
===bisherige strafrechtliche Spuren===


* ''erste Spur'' : einheitliches, reines, rechtsstaatliches Strafrecht, dem Rückwirkungs- und Analogieverbot verpflichtet,  
* erste Spur : einheitliches, reines, rechtsstaatliches Strafrecht, dem Rückwirkungs- und Analogieverbot verpflichtet,
* ''zweite Spur'': Massregeln der Besserung und Sicherung für gefährliche schuldlose Täter,
* zweite Spur: Massregeln der Besserung und Sicherung für gefährliche schuldlose Täter,
* ''dritte Spur'': [[Diversion]]).
* dritte Spur: [[Diversion]]


Entwicklung weiterer Spuren: * Bekämpfung der BtM-Kriminalität und der organisierten Kriminalität, * Recht auf [[Schwangerschaftsunterbrechung]].
(weitere Spuren:  
* Bekämpfung der BtM-Kriminalität und der organisierten Kriminalität,  
* Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung)


Die Mauerschützenentscheidung des BGH 1992/93 wurde noch als Teil der ersten Spur formuliert und zeigt die juristische Bevorteilung staatsverstärkter Kriminalität.
Die Mauerschützenentscheidung des BGH 1992/93 wurde noch als Teil der ersten Spur formuliert und zeigt die juristische Bevorteilung staatsverstärkter Kriminalität.


===''vierte strafrechtliche Spur''===
===vierte strafrechtliche Spur===
 
Naucke sieht im heutigen strafrechtlichen Positivismus eine Methode zur Erzielung weit auseinander liegender Möglichkeiten. Die Anwendung einer erneuerten Radbruch-Formel, in der das positive Strafrecht der DDR um das gesetzliche Unrecht verringert wird, könnte einen Weg aus dem Dilemma darstellen.
Naucke sieht im heutigen strafrechtlichen Positivismus eine Methode zur Erzielung weit auseinander liegender Möglichkeiten. Die Anwendung einer erneuerten Radbruch-Formel, in der das positive Strafrecht der DDR um das gesetzliche Unrecht verringert wird, könnte einen Weg aus dem Dilemma darstellen.  


Die starke juristische Rückversicherung für die staatsverstärkte Kriminalität durch das Rückwirkungsverbot ist keine, weil das Rückwirkungsverbot bei stvK nicht zuständig sein kann. Auch in anderen Zusammenhängen wirkungslos gemacht, ist die Anwendung oder Nichtanwendung des Rückwirkungsverbots eine Sache des Wollens.
Die starke juristische Rückversicherung für die staatsverstärkte Kriminalität durch das Rückwirkungsverbot ist keine, weil das Rückwirkungsverbot bei stvK nicht zuständig sein kann. Auch in anderen Zusammenhängen wirkungslos gemacht, ist die Anwendung oder Nichtanwendung des Rückwirkungsverbots eine Sache des Wollens.
               
Naucke fordert das strafrechtliche Spezialgebiet der Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität, in dem die rechtsstaatlichen Regeln den Staatskriminellen wie jeden anderen Bürger schützen, aber nicht zur Verhinderung von Strafverfahren missbraucht werden. Dieses nennt er die ''vierte strafrechtliche Spur''.
* ''vierte Spur'' für die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität. Sie kann mit Blick auf das Internationale Strafrecht auch im nationalen Recht gebildet werden. Sie ist eine Denkform zur Beurteilung staatsverstärkter Kriminalität, die für die Zeit der Tatbegehung gilt oder galt, nur faktisch nicht durchgesetzt werden konnte. Es würde sich im materiellen Recht eine Konzentration auf die vorsätzlichen Taten gegen Person und Eigentum und auf den [[Völkermord]] ergeben; weiterhin die Unzuständigkeit des Rückwirkungs- und des Analogieverbots, und die Wirkungslosigkeit der ''par in parem non habet imperium'' und der ''princeps legibus solutus'' Formeln.


==Kritik==
Naucke fordert das strafrechtliche Spezialgebiet der Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität, in dem die rechtsstaatlichen Regeln den Staatskriminellen wie jeden anderen Bürger schützen, aber nicht zur Verhinderung von Strafverfahren missbraucht werden. Dieses nennt er die vierte strafrechtliche Spur.


Herbert Jäger (2006) bemängelt am Begriff der ''staatsverstärkten Kriminalität'', dass hier der Staat eher in einer Unterstützerrolle und 'nur' als Hintergrund eines im übrigen individuellen Geschehens gesehen werde und zieht für die im Völkerrecht geschaffenen Tatbestände den Begriff [[Makrokriminalität]] vor. Der Normverdeutlichung und Sichtbarmachung des Unrechts und seiner individuellen Zurechenbarkeit gibt Jäger Priorität gegenüber der faktischen Bestrafung, weist aber auch die Privilegierung kollektiver und staatlicher Untaten entschieden zurück.  
* vierte Spur: für die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität.  


Mit Dieter Rössner (1999) möchte H. Jäger 'vom Strafrechtsbegriff Abstand nehmen und von Rechtsfolgen im Kriminalrecht reden. Um einer 'Kriminalpolitik gegenüber krimineller Politik' mehr Raum zu geben, bevorzugt er den Ausdruck 'Völkerkriminalrecht' vor dem des Völkerstrafrecht.  
Sie kann mit Blick auf das Internationale Strafrecht auch im nationalen Recht gebildet werden. Sie ist eine Denkform zur Beurteilung staatsverstärkter Kriminalität, die für die Zeit der Tatbegehung gilt oder galt, nur faktisch nicht durchgesetzt werden konnte. Es würde sich im materiellen Recht eine Konzentration auf die vorsätzlichen Taten gegen Person und Eigentum und auf den [[Völkermord]] ergeben; weiterhin die Unzuständigkeit des Rückwirkungs- und des Analogieverbots, und die Wirkungslosigkeit der ''par in parem non habet imperium'' und der ''princeps legibus solutus'' Formeln.


Jörg Arnold beklagt mangelnde Rechtsstaatlichkeit bei einer vierten Strafrechtsspur. Naucke nennt dies eine künstliche Berufung auf den Rechtsstaat und begegnet dem Einwand mit dem Argument der kriminalpolitischen Realität, in der das Spur-Denken sowohl im Strafrecht als modern und elegant gilt, weil es den rechtsstaatlichen Beengungen entkommt, als auch international akzeptiert ist.
==Kritik==


Der Einwand stellt eine Chance dar, mit Behebung der in allen Spuren vorhandenen Mängel, diese Spuren wieder in das allgemeine Strafrecht zurückzuführen und die ''Neukonstruktion eines einheitlichen streng rechtsstaatlichen Strafrechts'' zu beginnen.
''Herbert Jäger'' (2006) bemängelt am Begriff der staatsverstärkten Kriminalität, dass hier der Staat eher in einer Unterstützerrolle und 'nur' als Hintergrund eines im übrigen individuellen Geschehens gesehen werde und zieht für die im Völkerrecht geschaffenen Tatbestände den Begriff Makrokriminalität vor. Der Normverdeutlichung und Sichtbarmachung des Unrechts und seiner individuellen Zurechenbarkeit gibt Jäger Priorität gegenüber der faktischen Bestrafung, weist aber auch die Privilegierung kollektiver und staatlicher Untaten entschieden zurück.


Mit ''Dieter Rössner'' (1999) möchte H. Jäger 'vom Strafrechtsbegriff Abstand nehmen und von Rechtsfolgen im Kriminalrecht reden. Um einer 'Kriminalpolitik gegenüber krimineller Politik' mehr Raum zu geben, bevorzugt er den Ausdruck 'Völkerkriminalrecht' vor dem des Völkerstrafrecht.


==Zusammenfassung==
''Jörg Arnold'' beklagt mangelnde Rechtsstaatlichkeit bei einer vierten Strafrechtsspur. Naucke nennt dies eine künstliche Berufung auf den Rechtsstaat und begegnet dem Einwand mit dem Argument der kriminalpolitischen Realität, in der das Spur-Denken sowohl im Strafrecht als modern und elegant gilt, weil es den rechtsstaatlichen Beengungen entkommt, als auch international akzeptiert ist.


Für Wolfgang Naucke waren die staatlich angeordneten Todesschüsse auf fliehende, unbewaffnete Menschen und die folgenden Gerichtsentscheidungen Ausgangspunkt, der Frage nachzugehen, ob es in der deutschen Strafjustiz eine Neigung gäbe, Politik, die sich hat durchsetzen können, dem Strafrecht nicht zu unterstellen.  
Der Einwand stellt eine Chance dar, mit Behebung der in allen Spuren vorhandenen Mängel, diese Spuren wieder in das allgemeine Strafrecht zurückzuführen und die Neukonstruktion eines einheitlichen streng rechtsstaatlichen Strafrechts zu beginnen.


Seine Abhandlung wurde nach der ersten Mauerschützenentscheidung veröffentlicht. 12 Jahre nach dem Beginn des ersten Prozesses und 15 Jahre nach dem Fall der Mauer ging der letzte Prozess mit einem Schuldspruch zu Ende. Der Vorsprung, den die staatsverstärkte Kriminalität bei Anklageerhebung genoss, konnte rechtsstaatlich doch noch aufgeholt werden.


==Anhang: Prozessgeschichte==
==Anhang: Prozessgeschichte==
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* Jäger, Herbert '' Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzepts'', KritV 1993, S. 259ff
* Jäger, Herbert '' Menschheitsverbrechen und die Grenzen des Kriminalitätskonzepts'', KritV 1993, S. 259ff


* Naucke, Wolfgang '' Die Strafjuristische Privilegierung Staatsverstärkter Kriminalität, Juristische Abhandlungen Band 29, Klostermann'', Frankfurt a.M 1996
* Naucke, Wolfgang '' Die Strafjuristische Privilegierung Staatsverstärkter Kriminalität, Juristische Abhandlungen Band 29, Klostermann'', 1996,Frankfurt a.M
 
* Rudolf Riemer, ''Das zweigeteilte Deutschland 1961-1962'', München 1995, S.115 ff.


* Riemer, Rudolf ''Das zweigeteilte Deutschland 1961-1962'', München, 1995 S.115 ff.
* Rössner, Dieter Kriminalrecht als unverzichtbare Kontrollinstitution. In: Otfried Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1999, S. 121ff.


* Schmidt, Eberhard Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege, §.Aufl., §§ 345-347, Göttingen, Vandenhoek  1965
* Scheerer, Sebastian Kriminalität der Mächtigen, in: Günther Kaiser, Hans-Jürgen Kerner, Fritz Sack und Hartmut Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg 1993, S. 246-249, S. 246
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