Staatsverstärkte Kriminalität: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Staatsverstärkte Kriminalität'''
Der von '''Wolfgang Naucke''' (1996:20) anlässlich der sogenannten Mauerschützenprozesse geprägte Begriff '''staatsverstärkte Kriminalität''' bezeichnet "die Unterdrückung des Wehrlosen durch die in der Staatsorganisation gespeicherte Macht." Der Begriff soll für Taten einer organisierten staatlichen Macht verwendet werden, die die Freiheit eines schwachen Einzelnen überwältigt.


Der Strafrechtler '''Wolfgang Naucke''' hat diesen Begriff in seiner Monographie ''Die Strafjuristische Privilegierung Staatsverstärkter Kriminalität'' (1996) eingeführt.  
==Kriminalpolitischer Kontext==
Gibt es die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht? Unsere Strafgesetzbücher sind auf bürgerlich-private Straftaten aufgebaut, die eine Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer annehmen, oder sogar, dass das Opfer stärker ist als der Täter. Bei politisch-staatlich abgeleiteten Straftaten ist das Opfer prinzipiell schwächer und der Täter stärker als im üblichen strafrechtlichen Grundmuster. Unsere positivistische Strafrechtsdogmatik ist auf staatsverstärkte Kriminalität nicht vorbereitet. Die herkömmliche Anwendung banalisiert staatsverstärkte Kriminalität auf zweierlei Weise: Staats-Kriminalität wird in ein "Täter A gegen Opfer B" Schema gepresst, während sie damit gleichzeitig die Besonderheit der Staatskriminalität ausblendet, und sie wird als vorübergehende Ausnahme aufgefasst. Darüberhinaus zeugt die angestrebte schnelle Rückkehr zur Privat-Kriminalität von einer fehlenden strafrechtlichen Berufsethik, ohne die auch die methodisch korrekte Anwendung von Strafgesetzen steuerlos ist.  


Der Begriff wird heute für Verbrechen während einer Diktatur oder eines Krieges verwendet, in der die Freiheit eines schwachen Einzelnen durch organisierte staatliche Macht überwältigt wird. Darunter fallen schwere [Menschenrecht]sverletzungen durch politische Makrokriminalität (Jäger 1989, 1993). Nach ''Kai Ambos'' (2002) umfasst politische Makrokriminalität die sog. ''staatsverstärkte Kriminalität'', ''das politische bedingte Kollektivverbrechen'',  und die ''staatsinterne Kriminalität'', wobei auch nichtstaatliche Akteure [Verbrechen] gegen die Menschlichkeit ausüben können, wenn sie in einem ausgedehnten und systematischen Zusammenhang stehen.
==Verwandte Begriffe==


Für W. Naucke waren die staatlich angeordneten Todesschüsse auf fliehende, unbewaffnete Menschen und die folgenden Gerichtsentscheidungen Ausgangspunkt, der Frage nachzugehen, ob es im deutschen Strafrecht eine Neigung gibt, Politik, die sich hat durchsetzen können, dem Strafrecht nicht zu unterstellen.
[[Wolfgang Naucke]] hat den Begriff anstelle von [[Regimeverbrechen]], Staats- oder [[Regimekriminalität]] gestellt (Arendes, C. 2006). Der Begriff ist verwandt mit dem der [[Makrokriminalität]] (Jäger, H., 1989,1993), betont jedoch die verzweifelte Freiheitssituation des Opfers der Makrokriminalität stärker. Der Begriff 'Staatsverstärkte Kriminalität' zeigt die Begehungsweise wirklichkeitsnäher als der verwandte Begriff '[[Herrschaftskriminalität]]'. Nach ''Sebastian Scheerer'' 1993 ist Kriminalität der Mächtigen 'die Summe der Straftaten, die zur Stärkung oder Verteidigung überlegener Macht begangen werden'.


Seine Abhandlung wurde nach der ersten Mauerschützenentscheidung veröffentlicht. Es ist sicherlich auch ihr Verdienst, dass 12 Jahre nach dem Beginn des ersten Prozesses und 15 Jahre nach dem Fall der Mauer der letzte Prozess mit einem Schuldspruch zu Ende ging, und der Vorsprung, den die staatsverstärkte Kriminalität bei Anklageerhebung genoss, rechtsstaatlich aufgeholt werden konnte.
Nach ''Kai Ambos'' (2002) umfasst politische Makrokriminalität die sog. ''staatsverstärkte Kriminalität'', ''das politische bedingte Kollektivverbrechen'',  und die ''staatsinterne Kriminalität'', wobei auch nichtstaatliche Akteure [[Verbrechen]] gegen die Menschlichkeit ausüben können, wenn sie in einem ausgedehnten und systematischen Zusammenhang stehen.


==Definition==
Sie ist mühelos daran erkennbar, dass die Freiheit des Einzelnen gegen die Unwiderstehlichkeit der gesammelten staatlichen Macht steht und untergeht. Ein Charakteristikum der staatsverstärkten Kriminalität ist es, eine feige Art der Kriminalität zu sein. Die Nutzung staatlicher Macht, um eine Straftat begehen zu können, ist im Prinzip eine feige Begehungsweise, an der die staatsverstärkte Kriminalität erkennbar ist.


Unter '''staatsverstärkter Kriminalität''' sind die Verbrechen eines Staates bzw. seiner politischen Führung zu verstehen, die während der politischen Machtausübung begangen werden, angeordnet werden, und/oder begangen lassen werden, z.B. Verschwinden lassen von Menschen in Deutschland, Japan, Vietnam, Chile, Jugoslawien, Ruanda, Kongo und weitere Staaten.
==Problemstellung==
 
[[Wolfgang Naucke]] hat den Begriff anstelle von [[Regimeverbrechen]], Staats- oder [[Regimekriminalität]] gestellt (Arendes, C. 2006). Der Begriff ist verwandt mit dem der [[Makrokriminalität]] (Jäger, H., 1989,1993), betont jedoch die verzweifelte Freiheitssituation des Opfers der Makrokriminalität stärker. Naucke stellt heraus, dass der Begriff 'Staatsverstärkte Kriminalität' die Begehungsweise wirklichkeitsnäher zeigt als der verwandte Begriff '[[Herrschaftskriminalität]]'.
 
Für W.N. sind Regierung - oder Parteikriminalität kein Synonym sondern nur Beispielsfälle der staatsverstärkten Kriminalität. Die strafjuristisch privilegierte staatsverstärkte Kriminalität bedeutet "die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht".
 
Nach Naucke ist staatsverstärkte Kriminalität die Unterdrückung des Wehrlosen durch die in der Staatsorganisation gespeicherte Macht. Die staatsverstärkte Kriminalität ist mühelos daran erkennbar, dass die Freiheit des Einzelnen gegen die Unwiderstehlichkeit der gesammelten staatlichen Macht steht und untergeht.


Ein Charakteristikum der staatsverstärkten Kriminalität ist es, eine feige Art der Kriminalität zu sein. Die Nutzung staatlicher Macht, um eine Straftat begehen zu können, ist im Prinzip eine feige Begehungsweise, an der die staatsverstärkte Kriminalität erkennbar ist.
Die staatsverstärkte Kriminalität ist zeitlich und räumlich ubiquitär. Statt sie als vorübergehende Unterbrechung der Normalität nach dem Muster von E. Schmidt(1965 §§345-347)anzusehen, ist ihre Bewältigung eine der Hauptaufgaben der Strafrechtsdogmatik.


==Problemstellung==
Die Problematik bei der stvK besteht darin, dass die naturrechtswidrigen Staatsverbrechen gegen alle Erwartung einer positivistischen Strafrechtslehre als positivrechtlich strafbar ausgewiesen werden müssen. Mit der staatsverstärkten Kriminalität sollte ein naturrechtliches Problem in die Arbeitsformeln des strafrechtlichen Positivismus gezwängt werden. Weil es weder natürliche Rechte und natürlich-gerechte Bestrafung noch ein überpositives Recht gäbe, habe man im positiven Recht zu suchen - nur dort findet sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht.


Die Staats-Kriminalität gilt als schwieriges Problem, das rechtlich kaum einzuordnen ist. Es führt zu nachsichtigen Strafverfahren gegen ungerechte Machthaber und zu unbefriedigenden Urteilen mit struktureller strafrechtlicher Bevorzugung jener Täter, die sich darauf berufen, dass ihr Staat und Ihre Politik einmal Bestand hatten. Wolfgang Naucke tritt den Beweis an, dass die Staats-Kriminalität prozessual und materiellrechtlich normale Kriminalität ist und mit einiger strafjuristischer Anstrengung als einfaches Problem zu handhaben ist.  
Rechtlich ist die staatsverstärkte Kriminalität kaum einzuordnen. Nach den Regeln des Positivismus, die nach Naucke ein offenes politisches Geschenk an ungerechte Staatsführungen sind, läßt sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht bestrafen. Dies führt zu nachsichtigen Strafverfahren gegen ungerechte Machthaber und zu unbefriedigenden Urteilen mit struktureller strafrechtlicher Bevorzugung jener Täter, die sich darauf berufen, dass ihr Staat und Ihre Politik einmal Bestand hatten.


Die Problematik bei der stvK besteht darin, dass die naturrechtswidrigen Staatsverbrechen gegen alle Erwartung einer positivistischen Strafrechtslehre als positivrechtlich strafbar ausgewiesen werden müssen.
Ist die Staats-Kriminalität prozessual und materiellrechtlich normale Kriminalität? Wie ist sie zu handhaben?
Mit der staatsverstärkten Kriminalität sollte ein naturrechtliches Problem in die Arbeitsformeln des strafrechtlichen Positivismus gezwängt werden. Weil es weder natürliche Rechte und natürlich-gerechte Bestrafung noch ein überpositives Recht gebe, habe man im positiven Recht zu suchen - und dort findet sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht. Nach den Regeln des Positivismus, die nach Naucke ein offenes politisches Geschenk an ungerechte Staatsführungen sind, läßt sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht bestrafen.


==Die Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität==
==Die Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität==


Wolfgang Naucke unterscheidet zwischen der politisch-staatlich abgeleiteten Straftat und der bürgerlich-privaten Straftat. Die Strafgesetzbücher sind auf dem Grundmuster aufgebaut:  Täter A gegen Opfer B, wobei die Notwehr das Mass für dieses Grundmuster ist. In der Notwehr-Dogmatik wird eine Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer angenommen oder dass das Opfer sogar stärker ist als der Täter. Dieses Grundmuster muss bei der staatsverstärkten K. aufgegeben werden: Im Falle staatsverstärkter Kriminalität ist das Opfer prinzipiell schwächer als im üblichen strafrechtlichen Grundmuster, und der Täter ist stärker als im StGB-Grundmuster. Eingesetzt wird die Stärke der staatlichen Organisation, mit Uniformen, Titeln, Befehlssträngen, mit technischer Ausrüstung, Verwaltungsorganisation, mit den Möglichkeiten, große Menschenmassen in Bewegung zu setzen. Damit hat die stvK den leicht erwerbbaren Schein von Legitimität. Die Freiheitsüberwindung des Einzelnen wird zusammengebracht mit Staatskennzeichen, Staatsorganisation und Staatsnotwendigkeit.
Die strafjuristisch privilegierte staatsverstärkte Kriminalität bedeutet "die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht".
 
Auch wenn das Grundmuster bei der staatsverstärkten K. nicht gilt, darf dies deshalb nicht zu behutsamerer Behandlung der Täter und ihrer Privilegierung führen.
 
Wolfgang Naucke weist nach, dass das positive Strafrecht keine selbstverständlichen Grenzen hat. Wenn diese Grenzen berufen würden, handle es sich um eine gewollte Grenze (sic!), die die Täter staatsverstärkter Kriminalität privilegiert. Ihm geht es darum, eine strafjuristische Grundströmung freizulegen, die die politisch-staatlich abgeleitete Straftat gegenüber der bürgerlich-privaten Straftat besserstellt.


Mit Einsatz der Stärke der staatlichen Organisation, mit Uniformen, Titeln, Befehlssträngen, mit technischer Ausrüstung, Verwaltungsorganisation, mit den Möglichkeiten, große Menschenmassen in Bewegung zu setzen, hat die stvK den leicht erwerbbaren Schein von Legitimität. Die Freiheitsüberwindung des Einzelnen wird zusammengebracht mit Staatskennzeichen, Staatsorganisation und Staatsnotwendigkeit.


==Beispiel für die Problematik der staatsverstärkten Kriminalität==
Das positive Strafrecht hat nach W.N. keine selbstverständlichen Grenzen. Wenn diese Grenzen berufen würden, handle es sich um eine gewollte Grenze. Dies ist eine strafjuristischen Grundströmung, die die politisch-staatlich abgeleitete Straftat gegenüber der bürgerlich-privaten Straftat besserstellt und die Täter staatsverstärkter Kriminalität privilegiert.


Ein Beispiel für die Problematik der stvK in unserer jüngsten Vergangenheit sind die [[Mauerschützen]], die ''Todesschüsse'' und nicht 'Staatsrettungsschüsse' abgegeben haben.
Der BGH argumentierte 1994, dass schwere, strafwürdige Staatskriminalität nicht bestraft werden könne, weil kein Gesetz dasei. Er sprach Angehörige des Ministeriums des Staatssicherheitsdienstes der DDR davon frei, aus internationalen Postsendungen Geld entnommen und dem Staatshaushalt der DDR zugeschoben zu haben. Die Begründung ist nach Wolfgang Naucke ein bedrückendes Beispiel für die Nicht-Nutzung der Möglichkeiten des modernen strafrechtlichen Positivismus zur Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität.


===Mauerbau===
Der durch Präventionstheorien geprägte Hintergrund der Einzelfallentscheidungen zur staatsverstärkten Kriminalität schien ein Grund für den Vorsprung des Unrechtstaats DDR im Strafprozess zu sein. Zu den Präventionstheorien kommt eine Staatstheorie, in der der Staat ein Instrument zur Erreichung historisch wechselnder politischer Ziele ist, in erster Linie im nationalen Rahmen. Bei der Zielerreichung ist das Strafrecht unerläßlich. Diese Theorie - das Denken in empirischen Interessen und realistischen Interessenausgleichen durch positives Strafrecht ist die größte Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Mit “Gesetzen” oder “Recht” werden die Mittel zur Staatszweckerreichung überhöht.


Am 13.8.1961 wurde mit dem Bau der Mauer durch Berlin begonnen. Sie sollte der zunehmenden Republikflucht qualifizierter Arbeitskräfte und geistiger Elite aus der DDR Einhalt gebieten.
==Beispiel für staatsverstärkte Kriminalität==


===[[Schießbefehl]]===
===Mauerschützenprozesse===
Mit dem Mauerbaubeginn quer durch Berlin am 13.8.1961 sollte der zunehmenden Republikflucht qualifizierter Arbeitskräfte und geistiger Elite aus der DDR Einhalt geboten werden.


Für den Volkspolizistendienst an der Grenze galt zunächst offiziell die ''Grenzdienstordnun'' sowie für den Gebrauch der Schusswaffe die ''Schusswaffengebrauchsbestimmung'' (Dienstvorschrift der Grenztruppen der DDR - Schusswaffengebrauchsbestimmung). Die Vorschriften vor dem Mauer-Bau 1961 sahen eine Anwendung der Schusswaffe nur zum Eigenschutz der Grenzposten, zur Notwehr oder zur allgemeinen Gefahrenabwehr vor. (Vgl. DV III/2 Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten vom 12. Sept. 1958, in: Riemer 1995, S. 100ff.)
===Legaler Schießbefehl===
Mit dem Grenzgesetz (1.Mai 1982) über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik, hier § 27, erlangte die Praxis, auf Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze scharf zu schießen, zum ersten Mal einen legalen Status. Vor der gesetzlichen Begründung des Schießbefehls im DDR-Recht gab es lediglich interne Anweisungen an die zur Grenzbewachung eingesetzten bewaffneten Kräfte. Diese Anweisungen unterschieden sich teilweise erheblich von der späteren Rechtsgrundlage.
Für den Volkspolizistendienst an der Grenze galten zunächst offiziell die ''Grenzdienstordnung'' und die ''Schusswaffengebrauchsbestimmung'' (Dienstvorschrift der Grenztruppen der DDR). Die Vorschriften vor dem Mauer-Bau 1961 sahen eine Anwendung der Schusswaffe nur zum Eigenschutz der Grenzposten, zur Notwehr oder zur allgemeinen Gefahrenabwehr vor. (Vgl. DV III/2 Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten vom 12. Sept. 1958, in: Riemer 1995, S. 100ff.) Mit dem Grenzgesetz (1.Mai 1982) über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik, hier § 27, erlangte die Praxis, auf Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze scharf zu schießen, zum ersten Mal einen legalen Status. Vor der gesetzlichen Begründung des Schießbefehls im DDR-Recht gab es lediglich interne Anweisungen an die zur Grenzbewachung eingesetzten bewaffneten Kräfte. Diese Anweisungen unterschieden sich teilweise erheblich von der späteren Rechtsgrundlage.


===Todesopfer===
===Todesopfer===
Die Zahl der Todesopfer an der 161 km langen Mauer schwankt zwischen 86 und 262. Die Arbeitsgemeinschaft 13.August 2009  (Mauermuseum am Checkpoint Charlie in Berlin) geht von 245 Maueropfern und 38 natürlichen Sterbefällen aus (Stand 2009).


==Gerichtsverfahren==
Die Zahl der Todesopfer an der 161 km langen Mauer schwankt zwischen 86 und 262. Die Arbeitsgemeinschaft 13.August 2009 (Mauermuseum am Checkpoint Charlie in Berlin) geht von 245 Maueropfern und 38 natürlichen Sterbefällen aus (Stand 2009).


In Berlin, Potsdam und Neuruppin wurde 1992 gegen 277 Personen als Schützen und Tatbeteiligte Anklage erhoben. Es waren ehemalige Grenzsoldaten und Mannschaftsdienstgrade der NVA, führende Militärs, sowie Mitglieder der politischen Führung der DDR.  
===Gerichtsverfahren===
In Berlin, Potsdam und Neuruppin wurde 1992 gegen 277 Personen als Schützen und Tatbeteiligte - ehemalige Grenzsoldaten und Mannschaftsdienstgrade der NVA, führende Militärs, sowie Mitglieder der politischen Führung der DDR - Anklage erhoben.
Die Täter, die sich darauf beriefen, dass ihr Staat und ihre Politik einmal Bestand gehabt haben, erfuhren eine strukturelle strafrechtliche Bevorzugung.
151 Täter wurden wegen ihrer Taten oder Beteiligungen zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen in den sogenannten Mauerschützenentscheidungen verurteilt. Überwiegend waren es Strafen von 6 bis 24 Monaten auf Bewährung, die längste Freiheitsstrafe betrug 10 Jahre. Mit zunehmender Verantwortung gab es höhere Strafen, siehe Anhang: Historischer Überblick.


151 Täter wurden wegen ihrer Taten oder  Beteiligungen zu Freiheits- oder Bewährungsstrafen in den sogenannten ''Mauerschützen''entscheidungen verurteilt. Überwiegend waren es Strafen von 6 bis 24 Monaten auf Bewährung, die längste Freiheitsstrafe betrug 10 Jahre. Mit zunehmender Verantwortung gab es höhere Strafen. Ein historischer Überblick ist im Anhang.
Die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität schien zunächst erschwert und zum Teil verhindert durch die juristische Annahme, dass diese Kriminalität exakt positivrechtlich geregelt sein müsse, sie uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots unterstehe und sie durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht würde.


===Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität===
==Verfolgung und Bestrafung der staatsverstärkten Kriminalität==


Zunächst sah es so aus, als ob die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität erschwert und zum Teil verhindert würde durch die juristischen Annahme, dass diese Kriminalität exakt positivrechtlich geregelt sein müsse, sie uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots unterstehe und sie durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht würde.
===bisherige strafrechtliche Spuren===


Der BGH argumentierte 1994, dass schwere, strafwürdige Staatskriminalität nicht bestraft werden könne, weil kein Gesetz dasei. Er sprach Angehörige des Ministeriums des Staatssicherheitsdienstes der DDR davon frei, aus internationalen Postsendungen Geld entnommen und dem Staatshaushalt der DDR zugeschoben zu haben. Wolfgang Naucke nennt die Begründung des BGH ein bedrückendes Beispiel für die Nicht-Nutzung der Möglichkeiten des modernen strafrechtlichen Positivismus zur Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität.
* erste Spur : einheitliches, reines, rechtsstaatliches Strafrecht, dem Rückwirkungs- und Analogieverbot verpflichtet,
* zweite Spur: Massregeln der Besserung und Sicherung für gefährliche schuldlose Täter,
* dritte Spur: [[Diversion]]


Ein Grund für den Vorsprung des Unrechtstaats DDR im Strafprozess war der durch Präventionstheorien geprägte Hintergrund der Einzelfallentscheidungen zur staatsverstärkten Kriminalität. Zu den Präventionstheorien kommt eine Staatstheorie, in der der Staat ein Instrument zur Erreichung historisch wechselnder politischer Ziele ist, in erster Linie im nationalen Rahmen. Bei der Zielerreichung ist das Strafrecht unerläßlich. Diese Theorie - das Denken in empirischen Interessen und realistischen Interessenausgleichen durch positives Strafrecht ist die größte Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Mit “Gesetzen” oder “Recht” werden die Mittel zur Staatszweckerreichung überhöht.
(weitere Spuren:
* Bekämpfung der BtM-Kriminalität und der organisierten Kriminalität,  
* Recht auf Schwangerschaftsunterbrechung)


Die Verfolgung und Bearbeitung der Strafverfahren gegen die Mauerschützen erfuhren  eine strukturelle strafrechtliche Bevorzugung  der Täter, die sich darauf beriefen, dass ihr Staat und ihre Politik einmal Bestand gehabt haben.
Die Mauerschützenentscheidung des BGH 1992/93 wurde noch als Teil der ersten Spur formuliert und zeigt die juristische Bevorteilung staatsverstärkter Kriminalität.


==Umgang mit der Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität und ihre Auflösung nach Naucke==
===vierte strafrechtliche Spur===
Naucke sieht im heutigen strafrechtlichen Positivismus eine Methode zur Erzielung weit auseinander liegender Möglichkeiten. Die Anwendung einer erneuerten Radbruch-Formel, in der das positive Strafrecht der DDR um das gesetzliche Unrecht verringert wird, könnte einen Weg aus dem Dilemma darstellen.


Naucke sieht im heutigen strafrechtlichen Positivismus eine Methode zur Erzielung weit auseinander liegender Möglichkeiten. Die Anwendung einer erneuerten Radbruch-Formel, in der das positive Strafrecht der DDR um das gesetzliche Unrecht verringert wird, könnte einen Weg aus dem Dilemma darstellen.  
Die starke juristische Rückversicherung für die staatsverstärkte Kriminalität durch das Rückwirkungsverbot ist keine, weil das Rückwirkungsverbot bei stvK nicht zuständig sein kann. Auch in anderen Zusammenhängen wirkungslos gemacht, ist die Anwendung oder Nichtanwendung des Rückwirkungsverbots eine Sache des Wollens.


Die starke juristische Rückversicherung für die staatsverstärkte Kriminalität durch das Rückwirkungsverbot ist keine, weil das Rückwirkungsverbot bei stvK nicht zuständig sein kann. Auch in anderen Zusammenhängen wirkungslos gemacht, ist die Anwendung oder Nichtanwendung des Rückwirkungsverbots eine Sache des Wollens.
Naucke fordert das strafrechtliche Spezialgebiet der Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität, in dem die rechtsstaatlichen Regeln den Staatskriminellen wie jeden anderen Bürger schützen, aber nicht zur Verhinderung von Strafverfahren missbraucht werden. Dieses nennt er die vierte strafrechtliche Spur.


Naucke fordert das strafrechtliche Spezialgebiet der Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität, in dem die rechtsstaatlichen Regeln den Staatskriminellen wie jeden anderen Bürger schützen, aber nicht zur Verhinderung von Strafverfahren missbraucht werden. Dieses nennt er die ''vierte strafrechtliche Spur''.  
* vierte Spur: für die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität.  


* ''erste Spur'':einheitliches, reines, rechtsstaatliches Strafrecht, dem Rückwirkungs- und Analogieverbot verpflichtet,
Sie kann mit Blick auf das Internationale Strafrecht auch im nationalen Recht gebildet werden. Sie ist eine Denkform zur Beurteilung staatsverstärkter Kriminalität, die für die Zeit der Tatbegehung gilt oder galt, nur faktisch nicht durchgesetzt werden konnte. Es würde sich im materiellen Recht eine Konzentration auf die vorsätzlichen Taten gegen Person und Eigentum und auf den [[Völkermord]] ergeben; weiterhin die Unzuständigkeit des Rückwirkungs- und des Analogieverbots, und die Wirkungslosigkeit der ''par in parem non habet imperium'' und der ''princeps legibus solutus'' Formeln.
* ''zweite Spur'': Massregeln der Besserung und Sicherung für gefährliche schuldlose Täter, 
* ''dritte Spur'': [[Diversion]]).
* ''vierte Spur'' für die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität Sie kann mit Blick auf das Internationale Strafrecht auch im nationalen Recht gebildet werden. Sie ist eine Denkform zur Beurteilung staatsverstärkter Kriminalität, die für die Zeit der Tatbegehung gilt oder galt, nur faktisch nicht durchgesetzt werden konnte. Es würde sich im materiellen Recht eine Konzentration auf die vorsätzlichen Taten gegen Person und Eigentum und auf den [[Völkermord]] ergeben; weiterhin die Unzuständigkeit des Rückwirkungs- und des Analogieverbots, und die Wirkungslosigkeit der ''par in parem non habet imperium'' und der ''princeps legibus solutus'' Formeln. Die Tatsache, dass die Mauerschützenentscheidung des BGH 1992/93 noch als Teil der ersten Spur formuliert wurde, zeigt die juristische Bevorteilung staatsverstärkter Kriminalität.


==Kritik==
==Kritik==


Den Einwand mangelnder Rechtsstaatlichkeit bei der vierten Strafrechtsspur (Arnold, J.1994) nennt Naucke eine künstliche Berufung auf den Rechtsstaat und begegnet ihm mit dem Argument der kriminalpolitischen Realität, in der das Spur-Denken sowohl im Strafrecht als modern und elegant gilt, um den rechtsstaatlichen Beengungen zu entkommen, als auch international akzeptiert ist. Die
''Herbert Jäger'' (2006) bemängelt am Begriff der staatsverstärkten Kriminalität, dass hier der Staat eher in einer Unterstützerrolle und 'nur' als Hintergrund eines im übrigen individuellen Geschehens gesehen werde und zieht für die im Völkerrecht geschaffenen Tatbestände den Begriff Makrokriminalität vor. Der Normverdeutlichung und Sichtbarmachung des Unrechts und seiner individuellen Zurechenbarkeit gibt Jäger Priorität gegenüber der faktischen Bestrafung, weist aber auch die Privilegierung kollektiver und staatlicher Untaten entschieden zurück.
 
Mit ''Dieter Rössner'' (1999) möchte H. Jäger 'vom Strafrechtsbegriff Abstand nehmen und von Rechtsfolgen im Kriminalrecht reden. Um einer 'Kriminalpolitik gegenüber krimineller Politik' mehr Raum zu geben, bevorzugt er den Ausdruck 'Völkerkriminalrecht' vor dem des Völkerstrafrecht.


* ''fünfte Spur'' mit der Bekämpfung der BtM-Kriminalität und der organisierten Kriminalität sei schon vorhanden, die
''Jörg Arnold'' beklagt mangelnde Rechtsstaatlichkeit bei einer vierten Strafrechtsspur. Naucke nennt dies eine künstliche Berufung auf den Rechtsstaat und begegnet dem Einwand mit dem Argument der kriminalpolitischen Realität, in der das Spur-Denken sowohl im Strafrecht als modern und elegant gilt, weil es den rechtsstaatlichen Beengungen entkommt, als auch international akzeptiert ist.


* ''sechste Spur'' mit dem Recht auf [[Schwangerschaftsunterbrechung]] zeichne sich ab.  
Der Einwand stellt eine Chance dar, mit Behebung der in allen Spuren vorhandenen Mängel, diese Spuren wieder in das allgemeine Strafrecht zurückzuführen und die Neukonstruktion eines einheitlichen streng rechtsstaatlichen Strafrechts zu beginnen.


Naucke sieht in dem Einwand eine Chance, mit Behebung der in allen Spuren vorhandenen Mängel, diese Spuren wieder in das allgemeine Strafrecht zurückzuführen und die ''Neukonstruktion eines einheitlichen streng rechtsstaatlichen Strafrechts'' zu beginnen.


==Anhang: Prozessgeschichte==
==Anhang: Prozessgeschichte==
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* Rudolf Riemer, ''Das zweigeteilte Deutschland 1961-1962'', München 1995, S.115 ff.
* Rudolf Riemer, ''Das zweigeteilte Deutschland 1961-1962'', München 1995, S.115 ff.
* Rössner, Dieter Kriminalrecht als unverzichtbare Kontrollinstitution. In: Otfried Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Suhrkamp, Frankfurt a. M., 1999, S. 121ff.
* Scheerer, Sebastian Kriminalität der Mächtigen, in: Günther Kaiser, Hans-Jürgen Kerner, Fritz Sack und Hartmut Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg 1993, S. 246-249, S. 246
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