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==Kriminalpolitischer Kontext== | ==Kriminalpolitischer Kontext== | ||
Gibt es die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht? Unsere Strafgesetzbücher sind auf bürgerlich-private Straftaten aufgebaut, die eine Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer annehmen, oder sogar, dass das Opfer stärker ist als der Täter. Bei politisch-staatlich abgeleiteten Straftaten ist das Opfer prinzipiell schwächer und der Täter stärker als im üblichen strafrechtlichen Grundmuster. Unsere positivistische Strafrechtsdogmatik ist auf staatsverstärkte Kriminalität nicht vorbereitet. Die herkömmliche Anwendung banalisiert staatsverstärkte Kriminalität auf zweierlei Weise: Staats-Kriminalität wird in ein "Täter A gegen Opfer B" Schema gepresst, während sie damit gleichzeitig die Besonderheit der Staatskriminalität ausblendet, und sie wird als vorübergehende Ausnahme aufgefasst. Darüberhinaus zeugt die angestrebte schnelle Rückkehr zur Privat-Kriminalität von einer fehlenden strafrechtlichen Berufsethik, ohne die auch die methodisch korrekte Anwendung von Strafgesetzen steuerlos ist. | Gibt es die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht? Unsere Strafgesetzbücher sind auf bürgerlich-private Straftaten aufgebaut, die eine Gleichheit der Stärke zwischen Täter und Opfer annehmen, oder sogar, dass das Opfer stärker ist als der Täter. Bei politisch-staatlich abgeleiteten Straftaten ist das Opfer prinzipiell schwächer und der Täter stärker als im üblichen strafrechtlichen Grundmuster. Unsere positivistische Strafrechtsdogmatik ist auf staatsverstärkte Kriminalität nicht vorbereitet. Die herkömmliche Anwendung banalisiert staatsverstärkte Kriminalität auf zweierlei Weise: Staats-Kriminalität wird in ein "Täter A gegen Opfer B" Schema gepresst, während sie damit gleichzeitig die Besonderheit der Staatskriminalität ausblendet, und sie wird als vorübergehende Ausnahme aufgefasst. Weil das Grundmuster bei der stvK nicht gilt, kann dies zu Privilegierung der stvK und zu behutsamerer Behandlung der Täter der stvK führen. Darüberhinaus zeugt die angestrebte schnelle Rückkehr zur Privat-Kriminalität von einer fehlenden strafrechtlichen Berufsethik, ohne die auch die methodisch korrekte Anwendung von Strafgesetzen steuerlos ist. | ||
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Die Problematik bei der stvK besteht darin, dass die naturrechtswidrigen Staatsverbrechen gegen alle Erwartung einer positivistischen Strafrechtslehre als positivrechtlich strafbar ausgewiesen werden müssen. | Die Problematik bei der stvK besteht darin, dass die naturrechtswidrigen Staatsverbrechen gegen alle Erwartung einer positivistischen Strafrechtslehre als positivrechtlich strafbar ausgewiesen werden müssen. | ||
Mit der staatsverstärkten Kriminalität sollte ein naturrechtliches Problem in die Arbeitsformeln des strafrechtlichen Positivismus gezwängt werden. Weil es weder natürliche Rechte und natürlich-gerechte Bestrafung noch ein überpositives Recht | Mit der staatsverstärkten Kriminalität sollte ein naturrechtliches Problem in die Arbeitsformeln des strafrechtlichen Positivismus gezwängt werden. Weil es weder natürliche Rechte und natürlich-gerechte Bestrafung noch ein überpositives Recht gäbe, habe man im positiven Recht zu suchen - nur dort findet sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht. | ||
Rechtlich ist die staatsverstärkte Kriminalität kaum einzuordnen. Nach den Regeln des Positivismus, die nach Naucke ein offenes politisches Geschenk an ungerechte Staatsführungen sind, läßt sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht bestrafen. Dies führt zu nachsichtigen Strafverfahren gegen ungerechte Machthaber und zu unbefriedigenden Urteilen mit struktureller strafrechtlicher Bevorzugung jener Täter, die sich darauf berufen, dass ihr Staat und Ihre Politik einmal Bestand hatten. | Rechtlich ist die staatsverstärkte Kriminalität kaum einzuordnen. Nach den Regeln des Positivismus, die nach Naucke ein offenes politisches Geschenk an ungerechte Staatsführungen sind, läßt sich die staatsverstärkte Kriminalität nicht bestrafen. Dies führt zu nachsichtigen Strafverfahren gegen ungerechte Machthaber und zu unbefriedigenden Urteilen mit struktureller strafrechtlicher Bevorzugung jener Täter, die sich darauf berufen, dass ihr Staat und Ihre Politik einmal Bestand hatten. | ||
Ist die Staats-Kriminalität prozessual und materiellrechtlich normale Kriminalität? Wie ist sie zu handhaben? | |||
==Die Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität== | ==Die Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität== | ||
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Die strafjuristisch privilegierte staatsverstärkte Kriminalität bedeutet "die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht". | Die strafjuristisch privilegierte staatsverstärkte Kriminalität bedeutet "die strukturelle Bevorzugung politischer Machtausübung durch das Strafrecht". | ||
Mit Einsatz der Stärke der staatlichen Organisation, mit Uniformen, Titeln, Befehlssträngen, mit technischer Ausrüstung, Verwaltungsorganisation, mit den Möglichkeiten, große Menschenmassen in Bewegung zu setzen, hat die stvK den leicht erwerbbaren Schein von Legitimität. Die Freiheitsüberwindung des Einzelnen wird zusammengebracht mit Staatskennzeichen, Staatsorganisation und Staatsnotwendigkeit. | |||
Das positive Strafrecht hat nach W.N. keine selbstverständlichen Grenzen. Wenn diese Grenzen berufen würden, handle es sich um eine gewollte Grenze. Dies ist eine strafjuristischen Grundströmung, die die politisch-staatlich abgeleitete Straftat gegenüber der bürgerlich-privaten Straftat besserstellt und die Täter staatsverstärkter Kriminalität privilegiert. | |||
Der BGH argumentierte 1994, dass schwere, strafwürdige Staatskriminalität nicht bestraft werden könne, weil kein Gesetz dasei. Er sprach Angehörige des Ministeriums des Staatssicherheitsdienstes der DDR davon frei, aus internationalen Postsendungen Geld entnommen und dem Staatshaushalt der DDR zugeschoben zu haben. Die Begründung ist nach Wolfgang Naucke ein bedrückendes Beispiel für die Nicht-Nutzung der Möglichkeiten des modernen strafrechtlichen Positivismus zur Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität. | |||
Der durch Präventionstheorien geprägte Hintergrund der Einzelfallentscheidungen zur staatsverstärkten Kriminalität schien ein Grund für den Vorsprung des Unrechtstaats DDR im Strafprozess zu sein. Zu den Präventionstheorien kommt eine Staatstheorie, in der der Staat ein Instrument zur Erreichung historisch wechselnder politischer Ziele ist, in erster Linie im nationalen Rahmen. Bei der Zielerreichung ist das Strafrecht unerläßlich. Diese Theorie - das Denken in empirischen Interessen und realistischen Interessenausgleichen durch positives Strafrecht ist die größte Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Mit “Gesetzen” oder “Recht” werden die Mittel zur Staatszweckerreichung überhöht. | |||
==Beispiel für die Problematik der staatsverstärkten Kriminalität== | ==Beispiel für die Problematik der staatsverstärkten Kriminalität== | ||
Ein Beispiel für die Problematik der stvK in unserer jüngsten Vergangenheit stellen die Verfahren gegen die [[Mauerschützen]] dar: | |||
Ein Beispiel für die Problematik der stvK in unserer jüngsten Vergangenheit | |||
===Mauerbau=== | ===Mauerbau=== | ||
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Am 13.8.1961 wurde mit dem Bau der Mauer durch Berlin begonnen. Sie sollte der zunehmenden Republikflucht qualifizierter Arbeitskräfte und geistiger Elite aus der DDR Einhalt gebieten. | Am 13.8.1961 wurde mit dem Bau der Mauer durch Berlin begonnen. Sie sollte der zunehmenden Republikflucht qualifizierter Arbeitskräfte und geistiger Elite aus der DDR Einhalt gebieten. | ||
===[[Schießbefehl]]=== | ===[[Legaler Schießbefehl]]=== | ||
Für den Volkspolizistendienst an der Grenze galt zunächst offiziell die ''Grenzdienstordnun'' sowie für den Gebrauch der Schusswaffe die ''Schusswaffengebrauchsbestimmung'' (Dienstvorschrift der Grenztruppen der DDR - Schusswaffengebrauchsbestimmung). Die Vorschriften vor dem Mauer-Bau 1961 sahen eine Anwendung der Schusswaffe nur zum Eigenschutz der Grenzposten, zur Notwehr oder zur allgemeinen Gefahrenabwehr vor. (Vgl. DV III/2 Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten vom 12. Sept. 1958, in: Riemer 1995, S. 100ff.) | Für den Volkspolizistendienst an der Grenze galt zunächst offiziell die ''Grenzdienstordnun'' sowie für den Gebrauch der Schusswaffe die ''Schusswaffengebrauchsbestimmung'' (Dienstvorschrift der Grenztruppen der DDR - Schusswaffengebrauchsbestimmung). Die Vorschriften vor dem Mauer-Bau 1961 sahen eine Anwendung der Schusswaffe nur zum Eigenschutz der Grenzposten, zur Notwehr oder zur allgemeinen Gefahrenabwehr vor. (Vgl. DV III/2 Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten vom 12. Sept. 1958, in: Riemer 1995, S. 100ff.) | ||
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Zunächst sah es so aus, als ob die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität erschwert und zum Teil verhindert würde durch die juristischen Annahme, dass diese Kriminalität exakt positivrechtlich geregelt sein müsse, sie uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots unterstehe und sie durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht würde. | Zunächst sah es so aus, als ob die Verfolgung und Bestrafung staatsverstärkter Kriminalität erschwert und zum Teil verhindert würde durch die juristischen Annahme, dass diese Kriminalität exakt positivrechtlich geregelt sein müsse, sie uneingeschränkt dem Schutz des Rückwirkungsverbots unterstehe und sie durch naturrechtliche Argumente nicht erreicht würde. | ||
Die Verfolgung und Bearbeitung der Strafverfahren gegen die Mauerschützen erfuhren eine strukturelle strafrechtliche Bevorzugung der Täter, die sich darauf beriefen, dass ihr Staat und ihre Politik einmal Bestand gehabt haben. | Die Verfolgung und Bearbeitung der Strafverfahren gegen die Mauerschützen erfuhren eine strukturelle strafrechtliche Bevorzugung der Täter, die sich darauf beriefen, dass ihr Staat und ihre Politik einmal Bestand gehabt haben. | ||
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Naucke sieht in dem Einwand eine Chance, mit Behebung der in allen Spuren vorhandenen Mängel, diese Spuren wieder in das allgemeine Strafrecht zurückzuführen und die ''Neukonstruktion eines einheitlichen streng rechtsstaatlichen Strafrechts'' zu beginnen. | Naucke sieht in dem Einwand eine Chance, mit Behebung der in allen Spuren vorhandenen Mängel, diese Spuren wieder in das allgemeine Strafrecht zurückzuführen und die ''Neukonstruktion eines einheitlichen streng rechtsstaatlichen Strafrechts'' zu beginnen. | ||
Für W. Naucke waren die staatlich angeordneten Todesschüsse auf fliehende, unbewaffnete Menschen und die folgenden Gerichtsentscheidungen Ausgangspunkt, der Frage nachzugehen, ob es im deutschen Strafrecht eine Neigung gibt, Politik, die sich hat durchsetzen können, dem Strafrecht nicht zu unterstellen. | |||
Seine Abhandlung wurde nach der ersten Mauerschützenentscheidung veröffentlicht. Es ist sicherlich auch ihr Verdienst, dass 12 Jahre nach dem Beginn des ersten Prozesses und 15 Jahre nach dem Fall der Mauer der letzte Prozess mit einem Schuldspruch zu Ende ging, und der Vorsprung, den die staatsverstärkte Kriminalität bei Anklageerhebung genoss, rechtsstaatlich aufgeholt werden konnte. | |||
==Anhang: Prozessgeschichte== | ==Anhang: Prozessgeschichte== |
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