Suizid im Strafvollzug

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Der Suizid ist ein Ereignis, bei dem verschiedene Faktoren ineinandergreifen. Die Wirkung von Suchtstoffen, Erkrankungen, die persönlichen Einstellungen, die soziale Umgebung und die Persönlichkeitsstruktur sind bei jedem Individuum einzigartig. Und in bestimmten Fällen führen sie in ihrer Mischung zum Suizid. Besonders in geschlossenen Institutionen, so auch im Vollzug, ist die Suzidrate deutlich höher als in der Bevölkerung. VOr allem in Deutschland und Österreich finden seit einigen Jahren regelmäßige Erhebungen statt. In anderen europäischen Ländern besteht diesbezüglich Nachholebedarf.

Definition

Bezüglich der Definition von Strafvollzug, verweise ich auf den bereits bestehenden Artikel.

Suizid, auch Selbsttötung, Freitod, Selbstmord, Lebensmüdigkeit oder Selbstdestruktion bezeichnet einen Suizidversuch, der zum Tode führt. Dabei ist ein Suizidversuch, ein selbstinitiiertes, gewolltes Verhalten eines [Menschen], der sich verletzt oder eine Substanz in einer Menge nimmt, die die therapeutische Dosis oder ein gewöhnliches Konsumniveau übersteigt und von welcher er glaubt, sie sei pharmakologisch wirksam. (Bronisch 1999: 11)


Statistik und ihre Bewertung

Die Erhebung von Suizid in der Bevölkerung weist in ihrer Zuverlässigkeit methodische Probleme auf. Viele Suizide werden nicht als solche erkannt oder definiert. Hinter Todesarten wie Verkehrsunfällen, Drogen oder Medikamenten sowie den ungeklärten Ursachen kann sich auch ein nicht erkannter Suizid verbergen. Von einer hohen Dunkelziffer ist daher auszugehen. (Fiedler 2007)

Außerdem ist die Vergleichbarkeit der Daten beispielsweise eingeschränkt durch:

  • unterschiedliche Definitionen des Suizid
  • unterschiedliche Dokumentationen
  • unterschiedliche Erhebungsquellen
  • unterschiedliche Erhebungsmethoden
  • unterschiedliche Zeiträume (Schmitt 2011: 118)
  • oder Verschleierung bspw. aus religiösen, gesellschaftlichen Gründen oder Rücksichtnahme auf Angehörige (Schmitt 2011: 123).

Die erhobenen Daten zu Suizid in der Bevölkerung sind somit nicht geeignet als Referenz- oder Vergleichsmaßstab für besondere Gruppen, wie z.B. Inhaftierte (ebenda), denn die Daten bzgl. der Suizide im Strafvollzug sind dagegen auf Grund einer mehrfachen Überprüfung und Darlegungen sowie der hohen Kontrolldichte gesichert. (Schmitt 2011: 125)

Schwierigkeiten in der Auswertung der Daten in „beiden“ Gruppen ergeben sich auch aus der retrospektiven Untersuchung. Im Bezug auf mögliche Auslöser und daraus abzuleitenden Präventionen kann nur auf Daten von Außenstehenden und Akten zurückgegriffen werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention beauftragte im Jahr 2001 eine Arbeitsgruppe, ein Suizidprogramm für Deutschland zu initiieren. Im Jahr 2005 entstand eine weitere Arbeitsgruppe für den Interventionsbereich „Strafvollzug“ unter Leitung von Frau Bennefeld- Kersten. Hier wurde begonnen bundesweit die Berichte aus den Anstalten zu „außerordentlichen Vorkommnissen“ für jeden Suizid von Gefangenen ab dem Jahr 2000 zu erheben. Neben Soziodemographischen Daten, wurden Daten zur Haft, der Kriminalität, psychischen Auffälligkeiten und dem Suizid an sich erhoben. Diese Totalerhebung soll bis 2019 fortgesetzt werden, um aussagekräftige Erkenntnisse zu bekommen.

So liegen für den Zeitraum von 2000- 2010 Daten über 907 Suizide im Strafvollzug vor. So erfolgen jährlich durchschnittlich 100 Suizide in deutschen Vollzugsanstalten. Die Anzahl männlicher Suizide ist seit 2004 kontinuierlich zurück gegangen, für Frauen jedoch seit 2002 angesteigen und erst seit 2007 wieder rückläufig.

Suizidmethoden

Die meisten Suizide wurden bei männlichen, wie weiblichen Gefangenen durch Erhängen vollzogen. Dabei wurden verschiedene Stoff- Utensilien eingesetzt, wie Kleidung, Bettwäsche, Vorhänge, Decken, Handtücher, Verbandmittel, Schuhbänder, Kordeln, aber auch Gürtel oder Elektrokabel.

Suizide durch Zug, Erschießen oder Sprung ereigneten sich während Vollzuglockerungen außerhalb der Anstalt.


Methode Anzahl gesamt Anzahl Männer n=884 Anzahl Frauen n=23
Erhängt 813 793 20
Schnitt 50 49 1
Medikamente 18 17 1
Erstickt 14 14 0
Drogen 7 6 1
Sprung 4 4 0
Schuss 4 4 0
Strom 4 4 0
Brand 1 1 0
Zug 1 1 0
Luft gespritzt 1 1 0
Stent beschädigt 1 1 0
nicht bekannt 3 3 0

aus Bennefeld- Kersten (2012), S.11

Erklärungsansatz für Suizid

Emile Durkheim erklärt mit seiner Anomietheorie die gesellschaftlichen Verhältnisse für das Zustandekommen der Häufigkeit des Suizids verantwortlich.

In jeder Gesellschaft gibt es eine Tendenz zum Suizid. Ändert sich die Gesellschaft nicht, so ändert sich auch nicht die Suizidfrequenz. Verändert sich die Struktur einer Gesellschaft, so ändert sich auch die Zahl der Suizide. Störungen in der Struktur einer Gesellschaft erhöhen die Suizidrate. Je stärker das Individuum allerdings in die Gesellschaft oder ein soziales Gefüge integriert ist, desto geringer ist die Suizidrate.

Dabei benennt Durkheim 4 Typen des Selbstmordes:

  • egoistischer Selbstmord - geringe wechselseitige Beziehung zwischen Individum und Gesellschaft
  • altruistischer Selbstmord - enge Bindung an die Gesellschaft
  • anomischer Selbstmord - Folge der Änderung des Gleichgewichts in der Gesellschaft durch Krisen und Störungen.

Weiterhin benennt er den "fatalistischen Selbstmord", geht aber darauf nicht näher ein.

Bis heute gilt diese Annahme als gesichert.

Bezogen auf den Vollzug lassen sich so möglicherweise auch die höheren Suizidraten erklären. Denn Freiheitsentzug stellt für viele Menschen eine belastende Situation dar. Die neue Situation ist unbekannt, es herrscht Misstrauen gegenüber der Autorität, es kommt zum plötzlichen Kontaktabbruch zu den nahestehenden Bezugspersonen, die sonst Unterstützung geben könnten, zu einer Einsicht des Versagens und vielleicht auch zu erniedrigenden Handlungen der Mitgefangenen.

Die Straffälligkeit der Inhaftierten rührt oft aus der fehlenden Integration in die Gesellschaft.

Unbeachtet lässt Durkheim jedoch mögliche Suchterkrankungen, gesundheitliche Probleme und psychische Erkrankungen, zeitbedingte Faktoren sowie auch offene Krisen außerhalb der Anstalt (Trennung von der Partnerin/ dem Partner, Schulden, Geburt des Kindes, …) und Strukturen der Anstalt. (Scheib 2000: 12f.)

Merkmale der Suizidenden

In der Studie zu „Suizide von Gefangenen in Deutschland“ kommt Frau Bennefeld- Kersten zu folgenden Ergebnissen:

Die meisten Suizidenten in Strafhaft waren in der Altersgruppe zwischen 20 und 40 Jahren. Ab dem Altern von 50 stieg die Suizidziffer an. Für Untersuchungsgefangene wurden keine entsprechenden Daten erhoben. Die Suizidentinnen waren durchschnittlich 36,7 Jahre, die männlichen Suizidenten 40, 5 Jahre alt.

24 Prozent der Suizidenten waren nichtdeutscher Nationalität und entsprachen damit der Gesamtpopulation im Strafvollzug.

Fast 70 % der Suizidenten war allein lebend. Mit der Erhebung zu den Beziehungen ist jedoch vorsichtig umzugehen, da die Angaben der Gefangenen zweckdienlich sein können, um entweder für Vollzugslockerungen mit stabilen Partnerbeziehungen positiver bewertet zu werden oder aber auch verneinende Angaben, um Kontaktaufnahmen durch den Vollzug zu Partnern zu vermeiden.

Bezüglich Schulabschluss und Ausbildung können in der Studie keine gesicherten Angaben gemacht werden. (Bennefeld- Kersten 2012: 15ff.)

Während in Deutschland ein großer Teil auf Grund eines Gewaltdeliktes in Haft ist, ist laut einer Studie in der USA der Grund für die Inhaftierung zu 70 % ein nicht personenbezogenes Vergehen. (Diehl 2009: 14)

Daraus lassen sich folgende Risikofaktoren ableiten.

Risikofaktoren

(Ziffern beziehen sich auf Deutschland, aus Bennefeld- Kersten (2012))

Auf Grund der kontinuierlichen Erhebungen für den Vollzug (in Österreich seit 1996, in Deutschland seit 2005) und anhand internationaler Literatur kann man folgende Risiokofaktoren benennen:

  • Untersuchungshaft (vor allem in den ersten Stunden und Tagen- Suizidziffer das 5fache der Suizidziffer in Strafhaft, 13 % töteten sich bereits innerhalb der ersten drei Tage)
  • Erstvollzug (die Erhebungen dazu sind nicht vollständig, jedoch für die Zahlen die vorliegen, sind 59 % der Männer und 86% der Frauen erstmalig in Haft)
  • zeitbezogene „Zäsuren“ (vor Prozessbeginn, nach Urteilsverkündung, bei Ablehnung von Haftverkürzung, …)
  • besondere Tage und Monate
  • Sonn- und Feiertage (ein Fünftel der Suizide erfolgte an den meist veranstaltungsarmen Sonn- und Feiertagen)
  • der Januar (entgegen der Meinung zur dunklen Jahreszeit und einem erhöhten Suizidrisiko dadurch, ist die Argumentation für den Januar eher, dass im Dezember den Gefangenen auf Grund der bevorstehenden Feiertagen und der Trennung von der Familie eine erhöhte Aufmerksamkeit zu Teil wurde und diese nun im Januar in ein "Loch" fallen
  • Einzelunterbringung (68 % aller Suizide erfolgt in Einzelunterbringung)
  • 63% der in Einzelunterbringung Untergebrachten begingen den Suizid in der Nacht, hingegen nur 22% der gemeinschaftlich Untergebrachten
  • Suizide von gemeinschaftlich untergebrachten Gefangenen liegen eher über den Tag verteilt, mit einer Spitze von 24% in der Zeit zwischen 13:00 und 17:00 Uhr. Hier wird angenommen, dass die Zeit der Abwesenheit von Mitgefangenen, bspw. zur Freistunde oder während des Duschen genutzt wird.
  • Ausländer in Schubhaft
  • bestimmte Deliktgruppen (Mord, Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Delikte innerhalb der Familie, …)
  • Suchtmittelabhängigkeit (Drogen, Alkohol, Medikamente) in der Vorgeschichte
  • psychiatrische Behandlungen/ Unterbringungen
  • Suizidversuche bereits in der Vorgeschichte
  • HIV- Positive, an AIDS und Hepatitis Erkrankte
  • Probleme mit Mitgefangenen und/ oder dem Personal
  • familiäre Probleme oder
  • keine familiäre Bindung (ca. 68% der Häftlinge lebte allein). (Sonneck 2000: 211)

Prävention

Suizidale Entwicklungen sind schwer zu erkennen. Besonders auf Grund zeitlich knappen Ressourcen, da Bedienstete oft auch in andere Bezüge eingebunden sind und damit wenig Kontakt zu den Gefangenen haben, ist die Gefahr groß, dass ein möglicher Suizid nicht erkannt wird. Besonderer Handlungsbedarf besteht daher bei:

  • Erkennen der Risikofaktoren (erhöhte Sensibilität und Aufmerksamkeit des Personals vor allem zu den kritischen Zeiten)
  • Schulung des Personals (Erste- Hilfe, Erkennen und Einschätzen des Suizidrisikos, Krisenintervention)
  • Schaffen von Anlaufstellen
  • Kriseninterventionsmitarbeiter, Ausbau des anstaltspsychologischen Dienstes und dessen regelmäßige Fortbildung, 24h Dienst, Telefonseelsorge oder Intranet zur anonymen Kontaktaufnahme
  • Schaffen von Rahmenbedingungen
  • Inhaftierten ein Maß an Sicherheit, Kommunikation und Autonomie garantieren, Kennenlernen seiner Situation in zeitnahen Erstgesprächen, Klärung der Problematiken, Schaffen von und Eingliedern in Sport-, Arbeits- und Freizeitangebote
  • regelmäßiger Austausch der Bediensteten untereinander und der Fachdienste bei Auffälligkeiten sowie Austausch in Fortbildungen und Foren zu gemachten Erfahrungen

Literatur

  • Bennefeld-Kersten, Katharina. Kriminologischer Dienst im Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzuges (2012): Suizide von Gefangenen in Deutschland 2000- 2010
  • Bronisch, Thomas (1999): Der Suizid. Ursachen. Warnsignale. Prävention 3. Auflage, München
  • Diehl, Christoph (2009): Selbstmorde inhaftierter Jugendlicher. In: Informationsdienst Straffälligenhilfe, Heft 2, Bonn, S. 13- 15
  • Fiedler, G. (2007). Suizide, Suizidversuche und Suizidalität in Deutschland. Daten und Fakten, Internet-Dokument: http://www.suicidology.de/online-text/daten.pdf
  • Frühwald, Stefan (1996) Kriminalität und Suizidalität – Selbstmorde in Österreichs Haftanstalten 1975 – 1994, Ursachen, Statistik, Schlussfolgerungen. ZfStrVo Heft 4.
  • Kriminologischer Dienst Niedersachsen (2008) Suizide von 621 männlichen Gefangenen, die sich 2000 bis 2006 im geschlossenen Vollzug das Leben genommen haben, in: Forum Strafvollzug 57. Heft 3: 101.
  • Missoni, Utting und Konrad (2003): Psychi(atri)sche Störungen bei Untersuchungsgefangenen. Zeitschrift für den Strafvollzug 6/03.
  • Neubacher, Frank (et al.)(2011): Gewalt und Suizid im Strafvollzug – Ein längsschnittliches DFG- Projekt im thüringischen und nordrhein- westfälischen Jugendstrafvollzug. In: Bewährungshilfe. Soziales. Strafrecht. Kriminalpolitik. S. 133- 146, Köln
  • Scheib, Karlheinz (2000): Kriminologie des Suizids, Groß Gerau
  • Schmitt, Günter (2011): Suizid im Strafvollzug und Bevölkerung – eine Diskussion der amtlichen Daten. In: Bewährungshilfe. Soziales. Strafrecht. Kriminalpolitik. S. 117- 132, Mönchengladbach
  • Sonneck, Gernot (2000): Krisenintervention und Suizidverhütung. Wien