Strafrechtsentwicklung

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Die Frage nach der Strafrechtsentwicklung - d.h. nach der Entstehung des Strafrechts, nach den geschichtlichen Bedingungen der Veränderungen seiner Form, seines Inhalts, seines Umfangs und seiner gesellschaftlichen Funktionen und Folgen bis hin zu den Bedingungen, Risiken und Chancen einer möglichen Abschaffung bzw. Überwindung des Strafrechts in der Zukunft - tangiert viele wissenschaftliche Disziplinen wie z.B. die Anthropologie, die vergleichende Rechts-Ethnologie, die Kriminalwissenschaften und die Soziologie.


Die Analyse von Wolfgang Naucke (1975)

  • Das moderne Strafrecht, das sich in Abhängigkeit und Parallelität zur staatlichen Innenpolitik entwickelt, ist immer auch eine staatliche Machtdemonstration. Während die Notwendigkeit eines disziplinierenden Strafrechts in der Öffentlichkeit begründungslos als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, existiert in der Theorie eine Strömung, die das Strafrecht als Machtinstrument diskreditieren will. Diese Kritik bleibt jedoch schwach, weil sie das Strafrecht als Begriff, nicht aber als Praxis angreift.
  • Der Aufstieg des Resozialisierungs-Diskurses verbreitet eine akzeptablere Vorstellung vom Strafrecht und lenkt davon ab, dass die Entwicklung harter Zwangsmittel hinter dem Schleier des Resozialisierungsdiskurses noch bemerkt oder skandalisiert wird.
  • De facto geht die Tendenz aber dahin, "im Ermittlungsverfahren Generalprävention, im Hauptverfahren Vergeltung und im Vollstreckungsverfahren Resozialisierung zu betreiben". Die einzelnen Abschnitte des Strafverfahrens werden auch verschiedenen Ausbildungsstätten mit verschiedenem rechtspolitischem Klima zugeordnet: das Ermittlungsverfahren den Polizeifachschulen, das Hauptverfahren der Universität, das Vollstreckungsverfahren den Abteilungen für Sozialarbeit und Sozialpädagogik" (S. 34)
  • Der Kampf gegen das Vergeltungsstrafrecht erfolgt in zwei Richtungen. Die eine Richtung wird genährt von der Überzeugung, "dass das nicht-vergeltende Resozialisierungsstrafrecht das Strafrecht der sich ändernden, sich selbst steuernden, also der modernen Gesellschaft ist. Vorstellungen aus dem Planungsrecht werden in das Strafrecht hineingetragen. Strafrecht wird zum Bestandteil eines weitgreifenden gesellschaftlichen Steuerungsprozesses. Das Strafrecht ist nicht mehr das Mittel, die Vergangenheit individueller Täter und Opfer aufzuarbeiten, sondern das Strafrecht wird das Mittel, die Zukunft der Gesellschaft mitzugestalten" (S. 36). Die zweite Richtung wundert sich über die Härte der Justiz gegenüber dem Täter, weil sie Täter und Opfer als gleich gut oder gleich böse ansieht: "Es entsteht ein neuer Begriff der Gleichheit vor dem Strafgesetz. Die Gleichheit vor dem Strafgesetz in ihrer überkommenen Fassung geht davon aus, dass jeder Bürger Straftaten zu begehen fähig ist und für den Fall der Begehung gleich behandelt werden soll. Der neue Begriff der Gleichheit vor dem Strafgesetz, der sich in einem Teil der Resozialisierungsdebatte niederschlägt, rechnet ein, dass die Begehung von Straftaten in den verschiedenen sozialen Gruppen verschieden häufig vorkommt. Der neue Begriff der Gleichheit vor dem Gesetz will diese verschiedene Verteilung aufheben, eben durch Resozialisierung oder durch Abbau des Strafrechts, beides verstanden als Zuteilung größerer sozialer Chancen" (37f.).
  • Die Tendenz der Anti-Vergeltung ist es, das Interesse auf den Täter zu konzentrieren, und zwar in wohlwollender, fürsorgerischer Absicht. Das Strafrecht ist auf dem Weg in ein Sozialhilferecht für Täter und ein Sozialhilferecht für Opfer. Zwischen der Fülle an Wissen über den Täter, das in einem Prozess aufgefunden wird, und der beschränkten Anzahl von Reaktionsmöglichkeiten herrscht ein Missverhältnis.
  • Umfang und Inhalt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs folgen der Resozialisierungsdebatte nicht. Hier herrscht ein viel repressiveres Klima. Vom Besonderen Teil geht ein enormer Druck in Richtung auf ein Vergeltungs- und Bekämpfungsstrafrecht aus. Dahinter stehen Interessengruppen: "Es sollen immer neue Bestimmungen in den Besonderen Teil des StGB und in das Nebenstrafrecht aufgenommen werden" (S. 44).
  • Der Besondere Teil des Strafrechts wird zu einem wichtigen Faktor im moralisch-politischen Haushalt des Staates: "Und zwar, dies scheint der wichtige Unterschied zu früheren Jahrzehnten zu sein, stellt der Besondere Teil nicht fest, was ohnehin feststeht, sondern er entscheidet, worüber man geteilter Ansicht sein kann, er stellt das berühmte ethische Minimum nicht fest, sondern er schafft es erst" (S. 45).
  • Zweiteilung des Strafrechts in ein gleichsam dem Alltags-Naturrecht entsprechendes Strafrecht zum Schutz von Individualrechtsgütern einerseits (feste Grenzen, relativ hohe Strafen) - und ein Strafrecht zum Schutz "großflächiger Rechtsgüter" andererseits, das durch ständig präsenten und flexibel einsetzbaren Druck zur Verhaltenssteuerung zu nahezu beliebigen Zwecken gekennzeichnet ist (Zweck-Zwangsrecht).
  • Die Bindung des Strafjuristen an das Gesetz nimmt ab. Der Gesetzgeber macht ungenaue Gesetze. Die Justiz wendet sie an. Mal so, mal so. Die Dogmatik verliert an Prestige, weil sie ihren Gegenstand verliert. Die Wissenschaft wendet sich der Gesetzgebung zu und der Praxis, trifft dabei aber, nachdem sie ihre eigentliche Aufgabe verloren hat, auf starke Konkurrenz. Man ist nicht mehr Kausalist oder Finalist, sondern fortschrittlich oder reaktionär.

Literatur

  • Émile Durkheim, Deux Lois de l'Evolution Penale. L'Annee Sociologique; Paris 1901; S. 65-95. engl. Übersetzung von A. Jones/A. Scull (1973) Two laws of penal evolution; Economy and Society 2; S. 284-308; neu verlegt in M.Gane (1992) The radical sociology of Durkheim and Mauss. London: S.21-49.
  • Wolfgang Naucke, Tendenzen in der Strafrechtsentwicklung. Karlsruhe: C.F.Müller Juristischer Verlag, 1975.