Spritzenvergabe im Strafvollzug

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Drogenproblematik in Justizvollzugsanstalten

Als Folge der strafrechtlichen Bewehrung des Drogengebrauches werden viele DrogenkonsumentInnen einmal oder mehrfach aufgrund von Drogen- und/oder Drogenbeschaffungsdelikten inhaftiert. Mehrere Studien zeigen übereinstimmend, dass die befragten DrogengebraucherInnen zu etwa zwei Dritteln Hafterfahrungen hatten - im Durchschnitt mehr als 12 Monate. Da zudem die Haftzeiten deutlich länger sind als Therapiezeiten, wird das Gefängnis jedenfalls phasenweise zur dominanten Lebenswelt vieler der geschätzten 100.000-150.000 KonsumentInnen von Spritzdrogen, vor allem von Heroin und Kokain. Wenn man insgesamt von etwa 10.000-20.000 inhaftierten DrogenkonsumentInnen ausgeht, ist trotz der scharfen Kontrollen in Deutschlands Strafanstalten etwa jede/r dritte bis sechste Gefangene KonsumentIn illegaler, vor allem intravenös applizierter Drogen. Hinzu kommt ein zahlenmäßig schwer einzugrenzender Anteil von KonsumentInnen, für die es erst in der Haft zu einem Einstieg in den intravenösen Drogenkonsum kommt.

Aufgrund der Tatsache, dass für viele Gefangene Drogenkonsum Teil der Alltagsrealität ist, lassen sich Entwicklungen und Erscheinungsformen des Drogengebrauchs außerhalb der Haft auch unter den Bedingungen des Strafvollzuges wiederfinden. Das gilt für die gesundheitlichen Risiken ebenso wie für zentrale Handlungsmuster und Verhaltensstrukturen: Bedingt durch das in der Haft besonders knappe Drogenangebot wird die oftmals ohnehin schon sehr minderwertige Ware nicht nur „gestreckt“ und somit noch gesundheitsgefährdender, sondern steigt auch drastisch im Preis. Da der drogenkonsumierende Inhaftierte in der Regel nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt, muss er sich anderweitig Geld beschaffen. Entweder vermittelt er selbst das Einbringen von Drogen in die Anstalt oder er dealt oder er prostituiert sich. Auch Diebstähle untereinander sowie ein nicht zu unterschätzendes „Schuldenmachen“, das eine Kette von Bedrohungen und Gewalttätigkeiten nach sich zieht, dienen der Befriedigung der Sucht. Ein weiteres gewaltförderndes Potential liegt in den Strukturen der in den Haftanstalten untereinander konkurrierenden Händlerhierarchien.

Insgesamt kann der Haftalltag durch die Strukturen, Konsequenzen und Erscheinungsformen des Drogengebrauchs so nachhaltig geprägt sein, dass die Umsetzung des zentralen Vollzugsauftrages stark beeinträchtigt wird.

Das Hauptproblem, dem das Konzept des Spritzentausches im Strafvollzug zu begegnen sucht, ist die Potenzierung gesundheitlicher Risiken bei intravenös drogenkonsumierenden Inhaftierten. Da steriles Spritzbesteck als Schmuggel- und damit als Mangelware zu gelten hat, ist ein gemeinsamer Gebrauch der Spritzen bis zu ihrem gänzlichen Verschleiß und unter völlig unzureichender Beachtung desinfizierender Maßnahmen die Folge. Dabei ist nicht nur die HIV-Infektion als einschlägiges Hauptrisiko zu benennen, neben möglichen Abszessbildungen aller Stadien besteht vor allem auch die Gefahr der Hepatitis-Infektion.

Sozialwissenschaftliche Aspekte

Der Soziologe Erving Goffman beschreibt auf der Grundlage seiner Theorien zu „Totalen Institutionen“ die Lebensbedingungen inhaftierter Personen. Goffman definiert Totale Institutionen als gegen die Außenwelt isolierte Einrichtungen, in denen die Insassen innerhalb eines umfassenden Reglements leben. Zentrales Merkmal solcher Institutionen ist ihr allumfassender Charakter: die Trennung zwischen den Lebens- und Kontaktbereichen Schlafen, Freizeit, Arbeiten wird weitgehend aufgehoben. Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität und mit stets den gleichen Gruppenmitgliedern statt (vgl. Goffman 1972).

Die von Goffman dargestellten Lebensbedingungen inhaftierter Personen verdeutlichen, dass die Schwierigkeit der sozialen Integration von Drogenkonsumenten durch die Charakteristika der Haftunterbringung noch potenziert wird. Vor allem die Gleichförmigkeit des Vollzugsalltages, der Abbruch gewohnter Regel- und Normsysteme und die fehlende Kontinuität der sozialen Bezüge können bei den Inhaftierten zu Einsamkeit, Langeweile und Perspektivlosigkeit führen. Der Einfluss dieser Deprivationsfaktoren erschwert nicht nur einen Ausstieg aus der Droge, sondern kann sogar den Drogenkonsum erst initiieren oder steigern.

Rechtliche Aspekte

Resozialisierungsgedanke

§ 2 S.1 StVollzG sieht als Ziel der Freiheitsstrafe vor, den Gefangenen zu befähigen, „künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Nicht mehr die Sicherung oder die Sühne sollen das vorrangige Ziel der Strafverfolgung sein (BVerfGE). Die Spritzenvergabe kann ein sehr sinnvoller und notwendiger Beitrag sein, die erforderliche Grundlage für eine Resozialisierung des Inhaftierten zu schaffen. Sie dient in erster Linie der Infektionsprophylaxe und soll weiterhin der Verelendungs- und Abhängigkeitstendenz entgegenwirken, die Eigenverantwortlichkeit fördern und auch dem Drogenkonsumenten im Strafvollzug ein selbstbestimmteres Handeln ermöglichen. Der Strafvollzug soll und kann kein sozialpädagogischer „Schonraum“ sein und auch die Zulassung von Gefahren kann in gewissem Maße als „Behandlung“ und als wichtiger Beitrag zur Bereitschaft des Inhaftierten für künftige grundsätzliche Bewusstseinsänderungen verstanden werden.

Vollzugsgrundsätze

Angleichung

Gem. § 3 Abs. 1 StVollzG soll das Leben im Vollzug soweit wie möglich den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichen werden Angleichungsgrundsatz, da die Strafe im Freiheitsentzug selbst besteht, nicht in der Art und Weise seines Vollzuges. Zwar werden Spritzentauschprogramme auch außerhalb der Haft durchgeführt, jedoch sind Situationen und Wirkungen außerhalb und innerhalb des Strafvollzuges nicht in jeder Hinsicht vergleichbar. Während z.B. in Freiheit ein Spritzenvergabeautomat problemlos gemieden werden kann und weniger auffällt, vermag die dauernde Konfrontation mit dem Angebot in der Haft eher eine Anreizwirkung zu entfalten.

Gegensteuerung

Der Gegensteuerungsgrundsatz gem. § 3 II StVollzG verpflichtet den Strafvollzug, schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken. Gesundheitsschäden sind Schäden in diesem Sinne, wenn den Suchtmittelabhängigen risikomindernde Maßnahmen verwehrt sind. Das Nichtvorhandensein sauberer Spritzen in der Anstalt wirkt sich bei fortgesetztem Konsum regelmäßig gesundheitsgefährdend aus. Das Ziel eines humanen Vollzuges für drogenabhängige Straftäter kann die Verfügbarkeit eines sterilen Spritzbestecks insbesondere dann nahe legen, wenn kapazitätsbedingt keine ausreichenden Therapiemöglichkeiten vorhanden sind.

Integrationsgrundsatz

Der Integrationsgrundsatz gem. § 3 Abs. 3 StVollzG verpflichtet den Vollzug, dem Gefangenen zu helfen, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern. Soziale Eingliederung meint auch verantwortungsvolles Handeln in und gegenüber der Gesellschaft. So kann die Vergabe steriler Spritzen ein sinnvoller Beitrag dazu sein, dass der Drogenkonsument sich und andere Drogenkonsumierende vor der Übertragung von Infektionskrankheiten schützt. Weil es keine drogenfreie Gesellschaft gibt, können auch die Integrationshilfen für Gefangene nicht ausschließlich auf Drogenabstinenz gerichtet sein.

Spritzenvergabe im Rahmen des Konzepts von „harm reduction“

Als Reaktion auf die Aidsausbreitung unter den intravenös Drogenkonsumierenden wird vermehrt auf solche schadensminimierenden Ansätze der Drogenpolitik zurückgegriffen, die von der Prämisse ausgehen, dass Abstinenz nicht von jedem Drogenkonsumenten und nicht zu jedem Zeitpunkt als ein realistisches und erstrebenswertes Ziel angesehen wird. Auch denjenigen, die vom therapeutischen Ziel der Abstinenz nicht erreicht werden, müssen gesundheitserhaltende und –fördernde Maßnahmen angeboten werden, um gesundheitliche und soziale Schäden so weit wie möglich zu reduzieren. Weitgehend akzeptiert sind solche Konzepte bereits im Drogenhilfesystem außerhalb des Strafvollzugs, beispielhaft seien die Einrichtung von Drogenkonsumräumen, die methadongestützte Substitutionsbehandlung, eine Duldung der offenen Drogenszene sowie die kontrollierte Abgabe von Heroin an Schwerstabhängige genannt. Auf den Strafvollzug werden diese Maßnahmen nur sehr zögerlich übertragen. Die Notwendigkeit schadensminimierender Angebote als Ergänzung zu den vorhandenen Maßnahmen der Abstinenzorientierung und solchen der medizinischen und psychosozialen Hilfen wird bestritten und man scheut ein mögliches Risiko für den Haftalltag. Schadensbegrenzung als eigenständiger Wert der gesetzlich verankerten Behandlung der Straftäter ist für viele Vollzugsbedienstete ein Ausdruck von Resignation vor der Verfügbarkeit und dem Konsum harter Drogen. Nicht zuletzt steht der Strafvollzug auch unter dem Erwartungsdruck der Öffentlichkeit und der Medien, die eine drogenfreie Haftanstalt fordern. Obwohl harm reduction also vielfach als sicherer Vorbote des Scheiterns des Sicherheitsauftrages angesehen wird, gewinnen Handlungsansätze wie das Konzept der Spritzenvergabe auch für den Strafvollzug an Bedeutung. Ausgangspunkt für diesen Sinneswandel ist die empirisch belegte Tatsache, dass im Strafvollzug viele intravenös Drogenabhängige zu finden sind, dass viele Inhaftierte den Drogenkonsum zumindest gelegentlich fortsetzen, dass Spritzen und Ersatzgeräte verdeckt beschafft und von vielen gemeinsam benutzt werden (needle-sharing).

Argumentations- und Diskussionsstand zur Spritzenvergabe in Haft

Gegner der Spritzenvergabe im Strafvollzug bestreiten den Bedarf für die Ausgabe steriler Spritzen. Haftursächliche HIV- Infektionen träten selten oder nie auf, seien nicht erwiesen und könnten auch bei einer Spritzenvergabe nicht vermieden werden. Daneben werden insbesondere Sicherheitsbedenken angeführt. So wird ein erhöhtes Gefahrenpotential infolge einer unüberschaubaren und unkontrollierbaren Zahl von kursierenden Spritzen befürchtet. Das Risiko, sich bei Zellenkontrollen durch einen Griff in eine versteckte Spritze zu verletzen, könne erheblich zunehmen und es sei nicht auszuschließen, dass die Spritzen als Waffe eingesetzt würden. Zudem sehen die Bediensteten die Glaubwürdigkeit ihrer dienstlichen Tätigkeit gefährdet. Insbesondere den mit der Spritzenausgabe verbundenen Widerspruch empfinden sie oftmals als demotivierend: Einerseits wird von ihnen verlangt, Drogen und deren Konsum zu verhindern und zu verfolgen, andererseits soll der Besitz einer ausgegebenen Spritze zulässig sein und keinen Anlass für weitere Kontrollen bieten. Das Verfügbarmachen steriler Spritzen komme einem Akzeptieren drogenbegleitender Maßnahmen und der Kapitulation vor dem Drogenproblem gleich, es könne von den Inhaftierten leicht als Signal zur Drogenfreigabe fehlinterpretiert werden. Ein wesentlicher Einwand stützt sich auf die mögliche Anreizwirkung der Spritzenvergabe für intravenös Drogenkonsumierende sowie für Neu- und Wiedereinsteiger. Auch wird die Ausgabe steriler Spritzen als unvereinbar mit den vorrangig zu verfolgenden, auf Drogenfreiheit ausgerichteten Therapiebestrebungen und Substitutionsangeboten empfunden. Schließlich werden auch ökonomische Bedenken vorgebracht. Angesichts der Überbelegung der Haftanstalten könne das ohnehin unterbesetzte Personal nicht noch zusätzliche Aufgaben wie die Wartung und Bestückung der Automaten oder die Ausgabe steriler Spritzen wahrnehmen.

Befürworter einer Spritzenvergabe betonen den unzureichenden Erfolg bisheriger repressiver Maßnahmen und berufen sich auf die Pflicht des Strafvollzuges, im Rahmen von harm reduction wenigstens die Gesundheit der Inhaftierten zu schützen. Die gemeinsame Nutzung einer Spritze durch mehrere Drogenkonsumenten stelle ein erhebliches Infektionsrisiko dar, das der Vollzug mit der Ausgabe sauberen Spritzbestecks verhindern könne. Weil das Einschleusen von Betäubungsmitteln nicht zu verhindern sei, müsse sich der Strafvollzug dem Drogenproblem stellen und notwendige Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der i.v. Drogenkonsumierenden ergreifen. Zudem sei die Situation der i.v. Drogenkonsumierenden im Vollzug an die Lebensbedingungen der zivilen Gesellschaft dadurch anzugleichen, dass die Inhaftierten die Möglichkeit erhielten, sich selbst vor Infektionen zu schützen. Schließlich erhofft man sich von der Ausgabe steriler Spritzen einen Rückgang subkultureller Einflüsse, einen offeneren Umgang der Inhaftierten mit ihrer Sucht und als Folge einen leichteren Zugang zu ihrer Drogenproblematik. Vom Rückgang des haftinternen Schwarzmarktwertes der Spritzen sei außerdem eine Reduzierung des Erpressungs- und Drohpotentials zu erwarten.

Chronologie verschiedener Spritzenvergabeprojekte in der Schweiz und Deutschland

Die erste Justizvollzugsanstalt Europas, in der inhaftierten Drogenabhängigen sterile Spritzen zugänglich gemacht wurden, war die halboffene Schweizer Männerstrafanstalt Oberschöngrün (Kanton Solorthurn). Der dortige Anstaltsarzt hatte im Oktober 1993 ohne Rücksprache mit der Anstaltsleitung damit begonnen, bei entsprechendem Bedarf sterile Spritzen an Haftinsassen auszuhändigen. Sein eigenmächtiges Handeln, das von der Vollzugsaufsichtsbehörde nachträglich gebilligt wurde, begründete er mit der ihm obliegenden Verantwortung für die Gesundheit der Insassen. Die händische Spritzenvergabe wurde nicht wissenschaftlich evaluiert. Das Konzept fußte einzig auf der Überzeugung der Notwendigkeit der Spritzenvergabe.

1994 begann die Frauenhaftanstalt Hindelbank (Kanton Bern) als weltweit erste Anstalt überhaupt, Inhaftierte über einen frei zugänglichen Automaten mit sterilen Spritzen zu versorgen. Zuvor hatte eine anstaltsinterne Erhebung über Drogenkonsum und Risikoverhalten im Vollzug besorgniserregende Ergebnisse des Ausmaßes i.v. Drogenkonsums und Spritzentauschs offen gelegt. Das Modellprojekt wurde zunächst auf ein Jahr begrenzt. Im Januar 1998 wurde jedoch aufgrund der positiven Erfahrungswerte verfügt, im Kanton Bern in allen Anstalten drogenabhängigen Inhaftierten einen Zugang zu sterilem Spritzbesteck zu ermöglichen.

In Deutschland installierte die JVA für Frauen in Vechta im April 1996 im Rahmen des Modellprojektes „Infektionsprophylaxe im Niedersächsischen Justizvollzug“ erstmals die Abgabe steriler Einwegspritzen im Vollzug. Die JVA für Männer in Lingen richtete im Juli1996 den Tausch steriler Spritzen ein. Es folgten die Vollzugseinheiten in Berlin Lichtenberg (JVA für Frauen), Lehrter Straße (JVA für Männer) sowie die Hamburger Frauenteilanstalt Hahnöfersand, die JVA Am Hasenberge sowie die JVA Vierlande.

Vorstellung des Hamburger Pilotprojektes der JVA Vierlande

Vorgeschichte

Das Projekt geht auf die Entscheidung des Justizsenators der Freien und Hansestadt Hamburg vom 9. Februar 1996 zurück, den Tausch von Spritzen über entsprechende Automaten in einer Anstalt des offenen Vollzuges zu erproben.

Anstalt

Die Wahl fiel auf die JVA Vierlande, eine Anstalt des offenen Vollzuges mit einer Belegungskapazität von 298 Haftplätzen für Männer und 21 Haftplätzen für Frauen. Im Jahr 1996 betrug die durchschnittliche Belegung 265 Gefangene. Der Vollzug Vierlande ist durch weitgehende Außenorientierung und große Insassenfluktuation gekennzeichnet. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1990 zeigte, dass 58% der Gefangenen eine Verweildauer unter sechs Monaten aufwiesen (81% unter zwölf Monaten). Die baulichen Gegebenheiten erfordern eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften. Der Anteil der drogenkonsumierenden oder drogengefährdeten Insassen wurde seinerzeit auf 30 Prozent geschätzt. Als Maßnahmen der Drogenhilfe gab es eine externe Drogenberatung und gezielte Hilfen zur Vorbereitung der Entlassung nach §§ 35 und 36 BtmG durch interne Fachkräfte.

Vorbereitungsphase

Im Vorwege des Projektes wurde eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe mit dem Auftrag eingesetzt, die für den Spritzentausch notwendigen Maßnahmen vorzubereiten und umzusetzen. Im Zentrum der Vorbereitungsphase stand neben der Klärung technischer Fragen das Bemühen, bei den Bediensteten und InsassInnen ein hohes Maß an Akzeptanz für den Spritzentausch zu erreichen.

Konzeption

Ab dem 26. Juni 1996 händigte die externe Drogenberatung den Insassen auf Wunsch eine Spritzenattrappe zur erstmaligen Nutzung der Automaten aus. Der Einstieg in den Spritzentausch war dadurch an den Erstkontakt zur Drogenberatung gekoppelt, aus dem sich ein möglichst intensiver Diskurs entwickeln sollte. Dies war allerdings keine Bedingung für den Spritzentausch, die Teilnahme war nicht an Vorleistungen seitens der Inhaftierten gebunden, da es sich ausdrücklich um ein niedrigschwelliges Angebot der Infektionsprophylaxe handelte. Der Spritzentausch erfolgte über sechs Automaten, die so konstruiert waren, dass die Ausgabe einer sterilen Spritze nur durch Rückgabe einer gebrauchten erfolgen konnte. Die Automatenstandorte gewährleisteten einen weitgehend anonymen Zugang, aber auch ein Minimum an Aufsicht über das Geschehen an den Geräten. Die Aufgabe des Vollzuges, bei den Gefangenen auf ein Leben ohne Drogenkonsum hinzuwirken, sollte durch das Projekt unangetastet bleiben. Daher waren Kontrollmaßnahmen zur Reduzierung des Drogenangebotes in den Anstalten ebenso weiterzuführen wie das Substitutionsangebot, die Betreuung und Beratung der Drogenabhängigen sowie die Vermittlung von Gefangenen in Angebote der externen Drogenhilfe. Die Kontrollen durch die Bediensteten waren aufrecht zu erhalten, allerdings musste verhindert werden, dass das Projekt von den Gefangenen deshalb nicht akzeptiert wurde, weil sie beim Auffinden einer Spritze vollzugliche Nachteile für sich befürchten mussten. Deshalb wurde der Besitz des Spritzenbestecks unter den festgelegten Regeln erlaubt und stellte für sich genommen keinen Anlass mehr für Revisionen dar.

Evaluation

Das Hamburger Spritzenvergabemodell wurde von zwei unabhängig voneinander arbeitenden Forschungsteams evaluiert. Mitarbeiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen führten eine Studie unter sozialwissenschaftlichen Aspekten durch, Mediziner der Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf evaluierten Stand und Veränderungen des gesundheitlichen Status der Betroffenen. Die Ergebnisse fielen im Detail unterschiedlich aus. Nach Ansicht der sozialwissenschaftlichen Begleitforschung konnte das gesteckte Projektziel nicht erreicht werden, durch Vergabe steriler Einwegspritzen das Virusinfektionsrisiko bei gemeinsamem Gebrauch von Spritzen zu reduzieren. Die Forscher ermittelten, dass das needle-sharing nur geringfügig zurück ging, die Zahl der Wiedereinsteiger und die Zahl der Umsteiger von anderen Applikationsformen hin zum intravenösen Konsum jedoch deutlich anstieg. Jeder dritte bis vierte Konsument oder Konsumgefährdete berichtete sogar von einer „In-Versuchung-führenden-Wirkung“ der Austauschautomaten. Als Gründe für nur geringfügigen Rückgang des needle-sharing wurden ermittelt: Unzuverlässigkeit der Automaten, unzureichende Anonymität der Automatenstandorte, alleinige Versorgung mit 12mm- statt mit 18mm- Kanülen, mangelhafte Versorgung mit Spritzenatrappen und das anhaltende Bedürfnis, sich eine nur gering vorhandene Menge des Stoffes zu teilen. Sowohl die Mitarbeiter als auch die Inhaftierten berichteten über eine hohe Zahl umlaufender Spritzen und eine Missachtung der für die Aufbewahrung geltenden Regeln. Das Forschungsteam ermittelte bei den Mitarbeitern der Haftanstalt das Gefühl einer steigenden Bedrohung durch die vermehrt umlaufenden Spritzen, außerdem hatten fast alle Mitarbeiter Schwierigkeiten mit dem Widerspruch, entsprechend dem Abstinenzparadigma Drogen zu konfiszieren und andererseits den Besitz einer Spritze zu dulden. Zwar wurde das Kontrollverhalten der Bediensteten von Inhaftierten und Bediensteten als insgesamt gleich bleibend beschrieben, doch während viele der Bediensteten mit Resignation reagierten und über sanktionsbedürftige Situationen hinwegsahen, griffen andere entgegen den Erfordernissen und Weisungen unverhältnismäßig hart durch. Die sozialwissenschaftliche Begleitforschung empfahl daher eine Fortführung der Spritzenausgabe über Automaten nur unter geänderten Rahmenbedingungen, die Mehrzahl der Bediensteten und ein Teil der Inhaftierten sprachen sich für eine Handvergabe der Spritzen aus.

Die medizinische Begleitforschung äußerte dagegen keine grundlegenden Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Infektionsprophylaxe durch Spritzenausgabe, da mehr als 80 Prozent der Personen mit riskantem Konsum von dem Spritzenvergabeangebot erreicht worden seien und sogar zwei Drittel der i.v. Drogenkonsumenten während des Projekts vollständig auf needle-sharing verzichtet hatten. Auch das Ziel einer Vermeidung von Transmissionsereignissen wurde als erreicht angesehen, obwohl aufgrund des begrenzten Untersuchungszeitraumes keine eindeutigen Nachweise für eine effektive Verminderung von Virusneuinfektionen vorgelegt werden konnten. Es wurden zwar einige Wiedereinsteiger in den i.v. Drogenkonsum dokumentiert, es waren aber keine Neueinstiege festzustellen.

aktuelle Situation der Spritzenvergabe im deutschen Strafvollzug

Die Spritzenvergabe in der JVA Vierlande wurde bis zum Zustandekommen der Koalition zwischen CDU und Schill-Partei im Jahr 2001 fortgeführt. Im Koalitionsvertrag vom 19.10.2001 heißt es: "In den Strafvollzugsanstalten werden zukünftig keine Spritzen mehr ausgegeben. Den Süchtigen werden verstärkt ausstiegsorientierte Hilfen, z.B. verbesserte Therapiemöglichkeiten, angeboten. Dies schließt eine kontrollierte Substitution unter medizinischer Aufsicht ein" (Stöver/Nelles: 2003).

Mit Ausnahme der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Berlin Lichtenberg wurde zwischenzeitlich die Spritzenvergabe auch in allen anderen deutschen Strafvollzugseinrichtungen aufgrund politischer Entscheidungen eingestellt.

Literaturverzeichnis

Canadian HIV/AIDS Legal Network: Prison Needle Exchange: Lessons from A Comprehensive Review of International Evidence and Experience, 2004.

Goffmann, E.: Asyle, Frankfurt/Main 1972.

Gross, U.: Wissenschaftliche Begleitung und Beurteilung des Spritzentauschprogramms im Rahmen eines Modellversuchs des Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg. Evaluationsbericht eines empirischen Forschungsprojekts. KFN-Forschungsbericht 73, Hannover 1998.

Heinemann, A./Püschel, K.: Drogen und Infektionen im Hamburger Strafvollzug, Teil 3, Hamburg 1998.

Hoffmann, K./Kreuzer, A./Suleck, T.: Spritzenvergabe im Strafvollzug. Rechtliche und tatsächliche Probleme eines umstrittenen Modells der Infektionsprophylaxe, Baden-Baden 2002.

Jacob, J./Keppler, K./Stöver, H. (Hrsg.): Drogengebrauch und Infektionsgeschehen (HIV/AIDS und Hepatitis) im Strafvollzug, Berlin 1997.

Meyenberg, R./ Stöver, H./Jacob. J./Pospeschill M. (Hrsg.): Infektionsprophylaxe im Niedersächsischen Justizvollzug, Oldenburg 1999.

Dies.: Infektionsprophylaxe im Niedersächsischen Justizvollzug, Oldenburg 1997.

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Michels, L.L.: Testfall Knast, in: D.A.H.-aktuell, Januar/Februar 1990.

Nelles, J./Fuhrer, A. (Hrsg.): Risikominderung im Gefängnis. Strategien gegen Drogen, AIDS und Risikoverhalten, Bern 1997.

Plaisir, T.: Spritzenvergabe im Strafvollzug. Ausgewählte Rechtsfragen und praxisorientierte Analyse eines umstrittenen Modells der Infektionsprophylaxe im Strafvollzug, Bremen/Gießen 2003.

Stöver, H./Nelles J.: 10 Jahre Spritzenvergabe an DrogenkonsumentInnen im Justizvollzug und das Ende für deutsche Projekte, in: Abhängigkeiten. Forschung und Praxis der Prävention und Behandlung, Jg. 9, 2003.

Weblinks: http://www.kfn.de/Forschungsbereiche_und_Projekte/Abgeschlossene_Projekte/Spritzentauschprogramm_im_Hamburger_Strafvollzug.htm

http://www.dah.aidshilfe.de