Kriminalprognose: Unterschied zwischen den Versionen

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===Prognose-Instrumente===
(3) Prognose-Instrumente  


Der allgemeinen Risikodiagnose und Rückfallprognose dient die Psychopathie-Checkliste in der Form der Psychopathy Checklist Revisited (PCL-R; Hare & Neumann 2006). Überprüft werden 20 Items, die sich auf den Verhaltens- und Lebensstil des Probanden beziehen. Inzwischen gibt es auch eine 12 Items umfassende Screening-Variante (PCL: SV) und eine Version für Jugendliche (PCL-YV). Eine deutsche Version, die zur Begutachtung eines Probanden ein 90-120minütiges Interview erfordert, stammt von Sevecke und Krischer (2005). Ein weiteres Verfahren - das ebenfalls in deutscher Übersetzung vorliegt - ist der Violence Risk Appraisal Guide (VRAG). Zudem gibt es neuerdings das Kieler Psychopathie Inventar (KPI) von Dennis Köhler. - Speziell für Straftäter mit einer psychischen Störung ist das Historical Clinical Risk Assessment (HCR-20) bestimmt (deutsche Version: Müller-Isberner u.a. 1998).
Der allgemeinen Risikodiagnose und Rückfallprognose dient die Psychopathie-Checkliste in der Form der Psychopathy Checklist Revisited (PCL-R; Hare & Neumann 2006). Überprüft werden 20 Items, die sich auf den Verhaltens- und Lebensstil des Probanden beziehen. Inzwischen gibt es auch eine 12 Items umfassende Screening-Variante (PCL: SV) und eine Version für Jugendliche (PCL-YV). Eine deutsche Version, die zur Begutachtung eines Probanden ein 90-120minütiges Interview erfordert, stammt von Sevecke und Krischer (2005). Ein weiteres Verfahren - das ebenfalls in deutscher Übersetzung vorliegt - ist der Violence Risk Appraisal Guide (VRAG). Zudem gibt es neuerdings das Kieler Psychopathie Inventar (KPI) von Dennis Köhler. - Speziell für Straftäter mit einer psychischen Störung ist das Historical Clinical Risk Assessment (HCR-20) bestimmt (deutsche Version: Müller-Isberner u.a. 1998).
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(4) Zuverlässigkeit von Methoden und von Gutachten
===Zuverlässigkeit von Methoden und von Gutachten===


Vor allem für statistische Verfahren gilt: Noch ist die Erprobungsphase bei vielen Verfahren noch nicht abgeschlossen. Besonders die deutschen Versionen angloamerikanischer Instrumente befinden sich meist noch im Prozess systematischer Validierung. Die statistischen Verfahren haben zudem typischerweise mit der sog. Mittelfeld-Problematik zu tun. Die meisten Probanden werden sich dank der Normalverteilungskurve in der Mitte wiederfinden, wo sie keine eindeutige Prognose erhalten ("Tendenz zur Mitte"). Die juristische Entscheidung ist aber eine Ja/Nein-Entscheidung und erfordert eine klare Wertung. Der Nutzen statistischer Verfahren ist damit für die große Zahl "mittlerer Fälle" eher gering. Darüber hinaus ist mangels Kreuzvalidierungen in unabhängigen Stichproben bei den quantitativen Verfahren die richtige Gewichtung einzelner Prädiktoren keineswegs gesichert.
Vor allem für statistische Verfahren gilt: Noch ist die Erprobungsphase bei vielen Verfahren noch nicht abgeschlossen. Besonders die deutschen Versionen angloamerikanischer Instrumente befinden sich meist noch im Prozess systematischer Validierung. Die statistischen Verfahren haben zudem typischerweise mit der sog. Mittelfeld-Problematik zu tun. Die meisten Probanden werden sich dank der Normalverteilungskurve in der Mitte wiederfinden, wo sie keine eindeutige Prognose erhalten ("Tendenz zur Mitte"). Die juristische Entscheidung ist aber eine Ja/Nein-Entscheidung und erfordert eine klare Wertung. Der Nutzen statistischer Verfahren ist damit für die große Zahl "mittlerer Fälle" eher gering. Darüber hinaus ist mangels Kreuzvalidierungen in unabhängigen Stichproben bei den quantitativen Verfahren die richtige Gewichtung einzelner Prädiktoren keineswegs gesichert.
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Obwohl die Gütekriterien von Gutachten im Prinzip bekannt sind, weisen Gutachten in der Praxis immer wieder erhebliche Mängel auf. Ob Schuldfähigkeits- oder Prognosegutachten: immer wieder fehlen Familien-, Sexual-, Eigen- und Deliktanamnesen, Angaben zum Krankheitsverlauf und testpsychologische Befunde; Vorbefunde werden unkritisch übernommen, die Auslösetat wird nicht hinreichend (z.B. im Hinblick auf psychotrope Substanzen) analysiert, der jüngere Entwicklungsverlauf des Begutachteten, seine Außenkontakte und Zukunftsperspektive werden nicht berücksichtigt. In diesem Sinne "schlecht" oder "sehr schlecht" sind sicherlich nicht alle Gutachten, wohl aber ein großer Teil - vielleicht die Hälfte.  
Obwohl die Gütekriterien von Gutachten im Prinzip bekannt sind, weisen Gutachten in der Praxis immer wieder erhebliche Mängel auf. Ob Schuldfähigkeits- oder Prognosegutachten: immer wieder fehlen Familien-, Sexual-, Eigen- und Deliktanamnesen, Angaben zum Krankheitsverlauf und testpsychologische Befunde; Vorbefunde werden unkritisch übernommen, die Auslösetat wird nicht hinreichend (z.B. im Hinblick auf psychotrope Substanzen) analysiert, der jüngere Entwicklungsverlauf des Begutachteten, seine Außenkontakte und Zukunftsperspektive werden nicht berücksichtigt. In diesem Sinne "schlecht" oder "sehr schlecht" sind sicherlich nicht alle Gutachten, wohl aber ein großer Teil - vielleicht die Hälfte.  


(5) Klinische vs. diagnostisch-statistische Prognosestrategien
===Klinische vs. diagnostisch-statistische Prognosestrategien===


Anstatt die klinische Einzelfallprognose und die auf statistischen Verfahren beruhenden Instrumente gegeneinander auszuspielen, haben Endres (2000) und Dahle (2005) Kombinationsverfahren vorgeschlagen, die eine differenzierte Datensammlung mit hoher Transparenz des Vorgehens verbinden.  
Anstatt die klinische Einzelfallprognose und die auf statistischen Verfahren beruhenden Instrumente gegeneinander auszuspielen, haben Endres (2000) und Dahle (2005) Kombinationsverfahren vorgeschlagen, die eine differenzierte Datensammlung mit hoher Transparenz des Vorgehens verbinden.  


(6) Standards
===Standards===


Ein Zug zur Etablierung von Standards ist unverkennbar. Ausgehend von der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1999 zu Mindeststandards bei Glaubhaftigkeitsgutachten (BGHSt 45: 164) ist auch die Qualität von Prognosegutachten erneut in den Blickpunkt gerückt worden (vgl. Dahle 2005: 13). Standardisierungsversuche wurden etwa von Bötticher u. a. (2006) unternommen. Danach muss der Prognosegutachter belegte Informationen und Befunde transparent und für den Rechtsanwender nachvollziehbar zu Grunde legen und aus diesen seine Wahrscheinlichkeitsaussagen nachvollziehbar ableiten. Prognosegutachter werden die verfügbaren schriftlichen Informationen wie Gerichtsakten, Urteilsbegründungen, ggf. vorhandene Vorgutachten sowie die Dokumentation der bisherigen Vollstreckung auswerten. In der ausführlichen Exploration wird neben der biografischen und insbesondere kriminellen Anamnese zu beurteilen sein, wie der Verurteilte zum Anlassdelikt steht, welche Sichtweisen zum Tatvorlauf bzw. mit Blick auf eventuell Geschädigte der Verurteilte aktuell einnimmt usw. Eigenes Beziehungsverhalten sowie Suchtmittelkonsum sind weitere unverzichtbare Themenfelder. Zudem wird der Prognosegutachter in der Exploration im Zuge seiner Verhaltensbeobachtung, die er gegebenenfalls durch testpsychologische Befunde ergänzt, seinen Eindruck zur Persönlichkeitsentwicklung bzw. zur aktuellen psychischen Befindlichkeit des Betroffenen erheben. Darüber hinaus werden in jüngster Zeit empirisch relativ gut abgesicherte Schätzverfahren verwendet (vgl. Hart u. a. 1995 sowie Müller-Isberner u. a. 1998)), die auf der Grundlage der erhobenen Daten geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens künftiger Verhaltensauffälligkeiten abzuschätzen. Am Ende hat sich die kriminalprognostische Aussage auf die Umstände einzugrenzen, für die die Prognose gelten soll. Es sind diejenigen Variablen zu benennen, die dass individuelle Rückfallrisiko beeinflussen können. Kritisch zu solchen Standards äußert sich Pfäfflin (2006).
Ein Zug zur Etablierung von Standards ist unverkennbar. Ausgehend von der Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1999 zu Mindeststandards bei Glaubhaftigkeitsgutachten (BGHSt 45: 164) ist auch die Qualität von Prognosegutachten erneut in den Blickpunkt gerückt worden (vgl. Dahle 2005: 13). Standardisierungsversuche wurden etwa von Bötticher u. a. (2006) unternommen. Danach muss der Prognosegutachter belegte Informationen und Befunde transparent und für den Rechtsanwender nachvollziehbar zu Grunde legen und aus diesen seine Wahrscheinlichkeitsaussagen nachvollziehbar ableiten. Prognosegutachter werden die verfügbaren schriftlichen Informationen wie Gerichtsakten, Urteilsbegründungen, ggf. vorhandene Vorgutachten sowie die Dokumentation der bisherigen Vollstreckung auswerten. In der ausführlichen Exploration wird neben der biografischen und insbesondere kriminellen Anamnese zu beurteilen sein, wie der Verurteilte zum Anlassdelikt steht, welche Sichtweisen zum Tatvorlauf bzw. mit Blick auf eventuell Geschädigte der Verurteilte aktuell einnimmt usw. Eigenes Beziehungsverhalten sowie Suchtmittelkonsum sind weitere unverzichtbare Themenfelder. Zudem wird der Prognosegutachter in der Exploration im Zuge seiner Verhaltensbeobachtung, die er gegebenenfalls durch testpsychologische Befunde ergänzt, seinen Eindruck zur Persönlichkeitsentwicklung bzw. zur aktuellen psychischen Befindlichkeit des Betroffenen erheben. Darüber hinaus werden in jüngster Zeit empirisch relativ gut abgesicherte Schätzverfahren verwendet (vgl. Hart u. a. 1995 sowie Müller-Isberner u. a. 1998)), die auf der Grundlage der erhobenen Daten geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens künftiger Verhaltensauffälligkeiten abzuschätzen. Am Ende hat sich die kriminalprognostische Aussage auf die Umstände einzugrenzen, für die die Prognose gelten soll. Es sind diejenigen Variablen zu benennen, die dass individuelle Rückfallrisiko beeinflussen können. Kritisch zu solchen Standards äußert sich Pfäfflin (2006).
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