Marburger Programm: Unterschied zwischen den Versionen

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==Kritik==
==Kritik==
Der deutsche Rechtswissenschaftler [[Karl von Birkmeyer]] merkte 1907 in seiner Schrift „Was lässt von Liszt vom Strafrecht übrig? kritisch an, dass sein Festhalten am Strafrecht inkonsequent sei. Da von Liszt die Gesinnung des Täters zum ausschlaggebenden Punkt erklärt, müsse eingeschritten werden, bevor die Tat begangen worden sei. Weiterhin kritisiert er, dass der Strafe bei der Bekämpfung des Verbrechens durch die Ablehnung der Vergeltungsstrafe und Forderung der zweckorientierten Schutzstrafe eine untergeordnete Rolle zukäme.
Der deutsche Rechtswissenschaftler [[Karl von Birkmeyer]] merkte 1907 in seiner Schrift „Was lässt von Liszt vom Strafrecht übrig? kritisch an, dass sein Festhalten am Strafrecht inkonsequent sei. Da von Liszt die Gesinnung des Täters zum ausschlaggebenden Punkt erklärt, müsse eingeschritten werden, bevor die Tat begangen worden sei. Weiterhin kritisiert er, dass der Strafe bei der Bekämpfung des Verbrechens durch die Ablehnung der Vergeltungsstrafe und Forderung der zweckorientierten Schutzstrafe eine untergeordnete Rolle zukäme.
[[Wolfgang Naucke]] kritisierte 1982 in seinem Aufsatz über die „Kriminalpolitik des Marburger Programms“ den unbestimmten Umgang mit den Autoritäten, die lückenhafte und vereinfachte Wiedergabe von Kants und Hegels Gedanken sowie der Geschichte des Strafrechts, die seines Erachtens zu einseitige und absolute Darstellung der Evolutionslehre, die den Boden für das Marburger Programm bereit habe und zu emotionale Untertöne in einer eher bürokratisch gehaltenen Abhandlung. Im Hinblick auf das Marburger Programm in der NS-Zeit legte Naucke dar, dass das selbige keine Regeln enthalte, für wen es gelten solle, d.h. selbst die Nationalsozialisten, die nur den Gedanken des Wegsperrens bzw. Vernichtens der Unverbesserlichen aufgriffen, können somit mit dem zum Zeitpunkt des Erscheinens des Marburger Programms als liberal und sozial geltenden von List in Zusammenhang gebracht werden. Weiterhin machte Naucke auf die Abhängigkeit der sozialen und liberalen Form der Verbrechensbekämpfung von günstigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umständen aufmerksam.  
[[Wolfgang Naucke]] kritisierte 1982 in seinem Aufsatz über die „Kriminalpolitik des Marburger Programms“ den unbestimmten Umgang mit den Autoritäten, die lückenhafte und vereinfachte Wiedergabe von Kants und Hegels Gedanken sowie der Geschichte des Strafrechts, die seines Erachtens zu einseitige und absolute Darstellung der Evolutionslehre, die den Boden für das Marburger Programm bereit habe und zu emotionale Untertöne in einer eher bürokratisch gehaltenen Abhandlung. Im Hinblick auf das Marburger Programm in der NS-Zeit legte Naucke dar, dass das selbige keine Regeln enthalte, für wen es gelten solle, d.h. selbst die Nationalsozialisten, die nur den Gedanken des Wegsperrens bzw. Vernichtens der Unverbesserlichen aufgriffen, können somit mit dem zum Zeitpunkt des Erscheinens des Marburger Programms als liberal und sozial geltenden von List in Zusammenhang gebracht werden. Weiterhin machte Naucke auf die Abhängigkeit der sozialen und liberalen Form der Verbrechensbekämpfung von günstigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Umständen aufmerksam.  
Anders als von Liszt ging der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes, [[Winfried Hassemer]], von der Indeterminiertheit und damit von einem freien Willen des Täters und dessen Verantwortlichkeit aus und begründete seine Auffassung mit dem in unserer Kultur vorherrschenden Grundsatz von Personalität und Menschenwürde. Bezogen auf das materielle Strafrecht würde der Grundsatz der Menschenwürde im Prinzip der subjektiven Zurechnung wirksam und diese begründe die Schuld. Im Gegensatz zu Hassemer ging von Liszt, der zwar auch von „subjektiven Gesichtspunkten“ sprach und letztendlich ein subjektivistisches Täter- und Gesinnungsstrafrecht forderte, von physiologisch begründeten psychologischen Momenten der Eigenart des Täters aus. Hierzu zählte er Triebe, Süchte aber auch „Überzeugungstreue“, worunter er die aus grundsätzlicher Ablehnung gegenüber der herrschenden Rechtsordnung handelnden Gewohnheitstäter fasste.
Anders als von Liszt ging der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes, [[Winfried Hassemer]], von der Indeterminiertheit und damit von einem freien Willen des Täters und dessen Verantwortlichkeit aus und begründete seine Auffassung mit dem in unserer Kultur vorherrschenden Grundsatz von Personalität und Menschenwürde. Bezogen auf das materielle Strafrecht würde der Grundsatz der Menschenwürde im Prinzip der subjektiven Zurechnung wirksam und diese begründe die Schuld. Im Gegensatz zu Hassemer ging von Liszt, der zwar auch von „subjektiven Gesichtspunkten“ sprach und letztendlich ein subjektivistisches Täter- und Gesinnungsstrafrecht forderte, von physiologisch begründeten psychologischen Momenten der Eigenart des Täters aus. Hierzu zählte er Triebe, Süchte aber auch „Überzeugungstreue“, worunter er die aus grundsätzlicher Ablehnung gegenüber der herrschenden Rechtsordnung handelnden Gewohnheitstäter fasste.
==Auswirkungen und kriminologische Relevanz ==
==Auswirkungen und kriminologische Relevanz ==
Nach anfänglicher spärlicher Beachtung ist der Einfluss des Marburger Programms auf die Gesetzgebung in den zwanziger Jahren an der Einführung des ersten Jugendgerichtsgesetzes mit Schwerpunkt auf erzieherischen Maßnahmen, Beginn der Herausnahme von Bagatell- und Kleinkriminalität aus dem Strafrecht, stärkerer Differenzierung der Strafarten, vor allem Ausbau der Geldstrafen und einer Fixierung von spezialpräventiv gerichteten Vollzugsgrundsätzen erkennbar. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden von Liszts innovative Postulate weitestgehend zerstört. Nur in dem Gesetz gegen gemeingefährliche Gewohnheitsverbrecher von 1933 sind einzelne, aus dem Zusammenhang genommene Gedanken von ihm bzgl. des Umgangs mit unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechern erkennbar. Die in der Nachkriegszeit zunächst eher in den Hintergrund gerückten Gedanken von Liszts fanden sich dann 1966 in dem von 14 Strafrechtslehrern vorgelegten „Alternativentwurf“ des Allgemeinen Teils des StGB wieder, indem die spezialpräventive Auffassung mit besonderer Betonung des Resozialisierungsgedankens und des Rechtsgüterschutzes besonderen Ausdruck fand. Der Alternativentwurf  übte nachhaltigen Einfluss auf die kriminalpolitische Entwicklung in Deutschland aus und trug maßgeblich zu den beiden Strafrechtsreformgesetzen von 1969 bei. Liszts Einteilung der Gefährlichkeit eines Verbrechens in objektive und subjektive Gesichtspunkte erhielt bei der Untersuchung einer Straftat in der heutigen Praxis üblichen Unterteilung in objektiven und subjektiven Tatbestand sowie Rechtswidrigkeit und Schuld Einzug. In § 46 (1) StGB (Grundsätze der Strafzumessung) wird eine Vereinigung des Vergeltungs- und des Zweckgedankens deutlich, wobei unter dem Vergeltungsgedanken im heutigen Sinn eher eine das Verhalten missbilligende, normbestätigende anstatt einer die Person des Täters verdammende Botschaft zu verstehen ist. In Satz 1 heißt es, dass die Schuld des Täters die Grundlage für die Zumessung der Strafe bilde, während in Satz 2 Liszts Forderung nach positiven spezialpräventiven Wirkungen der Strafe Berücksichtigung findet. Der Streit über die Annahme des freien Täterwillens auf der einen oder seiner Determiniertheit durch fremde Einflüsse auf der anderen Seite wurde weder zugunsten von Liszts noch seiner Widersacher entschieden, sondern ist heute noch nicht beigelegt. § 20 StGB fordert lediglich ein „frei sein von Mängeln“ und keinen Nachweis über den zum Zeitpunkt der Tat freien Willen des Beschuldigten.
Nach anfänglicher spärlicher Beachtung ist der Einfluss des Marburger Programms auf die Gesetzgebung in den zwanziger Jahren an der Einführung des ersten Jugendgerichtsgesetzes mit Schwerpunkt auf erzieherischen Maßnahmen, Beginn der Herausnahme von Bagatell- und Kleinkriminalität aus dem Strafrecht, stärkerer Differenzierung der Strafarten, vor allem Ausbau der Geldstrafen und einer Fixierung von spezialpräventiv gerichteten Vollzugsgrundsätzen erkennbar. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden von Liszts innovative Postulate weitestgehend zerstört. Nur in dem Gesetz gegen gemeingefährliche Gewohnheitsverbrecher von 1933 sind einzelne, aus dem Zusammenhang genommene Gedanken von ihm bzgl. des Umgangs mit unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechern erkennbar. Die in der Nachkriegszeit zunächst eher in den Hintergrund gerückten Gedanken von Liszts fanden sich dann 1966 in dem von 14 Strafrechtslehrern vorgelegten „Alternativentwurf“ des Allgemeinen Teils des StGB wieder, indem die spezialpräventive Auffassung mit besonderer Betonung des Resozialisierungsgedankens und des Rechtsgüterschutzes besonderen Ausdruck fand. Der Alternativentwurf  übte nachhaltigen Einfluss auf die kriminalpolitische Entwicklung in Deutschland aus und trug maßgeblich zu den beiden Strafrechtsreformgesetzen von 1969 bei. Liszts Einteilung der Gefährlichkeit eines Verbrechens in objektive und subjektive Gesichtspunkte erhielt bei der Untersuchung einer Straftat in der heutigen Praxis üblichen Unterteilung in objektiven und subjektiven Tatbestand sowie Rechtswidrigkeit und Schuld Einzug. In § 46 (1) StGB (Grundsätze der Strafzumessung) wird eine Vereinigung des Vergeltungs- und des Zweckgedankens deutlich, wobei unter dem Vergeltungsgedanken im heutigen Sinn eher eine das Verhalten missbilligende, normbestätigende anstatt einer die Person des Täters verdammende Botschaft zu verstehen ist. In Satz 1 heißt es, dass die Schuld des Täters die Grundlage für die Zumessung der Strafe bilde, während in Satz 2 Liszts Forderung nach positiven spezialpräventiven Wirkungen der Strafe Berücksichtigung findet. Der Streit über die Annahme des freien Täterwillens auf der einen oder seiner Determiniertheit durch fremde Einflüsse auf der anderen Seite wurde weder zugunsten von Liszts noch seiner Widersacher entschieden, sondern ist heute noch nicht beigelegt. § 20 StGB fordert lediglich ein „frei sein von Mängeln“ und keinen Nachweis über den zum Zeitpunkt der Tat freien Willen des Beschuldigten.
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