Neutralisationstechniken: Unterschied zwischen den Versionen

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Sykes und Matza kritisieren an ihrer Theorie selbst, dass sie wenig Aufschluss darüber liefert, in welchen Situationen welche Neutralisierungstechniken konkret aktualisiert werden und wie die Techniken sozialstrukturell in der Gesellschaft verteilt sind. Sie nehmen an, dass bestimmte Techniken für bestimmte Delikte prädestiniert sind und regen weitere Forschung in diese Richtung an. Ein weiterer Kritikpunk ist die Tatsache, dass bis heute empirisch nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, ob die Neutralisierungstechniken wirklich vor der abweichenden Handlung ausgebildet werden oder ob sie nur im Nachhinein als Rechtfertigung dienen. In diesem Fall wären sie keine Theorie zur Erklärung, wie und warum abweichendes Verhalten entsteht. Die bisherige neutralisierungstheoretische Forschung zur Verhaltenswirksamkeit von Rechenschaften konnte keinen kausalen Zusammenhang zwischen Neutralisierungstechniken und abweichendem Verhalten nachweisen. Fritsche (2003) konnte aber mithilfe eines Experiments erstmals die Wirkung präbehavioraler Rechenschaft auf beobachtetes normwidriges Verhalten zeigen. Maruna und Copes hingegen sehen die Wichtigkeit der Neutralisierungsthese eher in Bezug auf sekundäre [[Devianz]] (Lemert 1951) und nicht als  ursächliche Erklärung für primäre [[Devianz]].
Sykes und Matza kritisieren an ihrer Theorie selbst, dass sie wenig Aufschluss darüber liefert, in welchen Situationen welche Neutralisierungstechniken konkret aktualisiert werden und wie die Techniken sozialstrukturell in der Gesellschaft verteilt sind. Sie nehmen an, dass bestimmte Techniken für bestimmte Delikte prädestiniert sind und regen weitere Forschung in diese Richtung an. Ein weiterer Kritikpunk ist die Tatsache, dass bis heute empirisch nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, ob die Neutralisierungstechniken wirklich vor der abweichenden Handlung ausgebildet werden oder ob sie nur im Nachhinein als Rechtfertigung dienen. In diesem Fall wären sie keine Theorie zur Erklärung, wie und warum abweichendes Verhalten entsteht. Die bisherige neutralisierungstheoretische Forschung zur Verhaltenswirksamkeit von Rechenschaften konnte keinen kausalen Zusammenhang zwischen Neutralisierungstechniken und abweichendem Verhalten nachweisen. Fritsche (2003) konnte aber mithilfe eines Experiments erstmals die Wirkung präbehavioraler Rechenschaft auf beobachtetes normwidriges Verhalten zeigen. Maruna und Copes hingegen sehen die Wichtigkeit der Neutralisierungsthese eher in Bezug auf sekundäre [[Devianz]] (Lemert 1951) und nicht als  ursächliche Erklärung für primäre [[Devianz]].


====Ausblick====
====Anwendungsbereich====


Obwohl Sykes und Matza an der Erklärung von [[Jugendkriminalität|Jugenddelinquenz]] interessiert waren, eignen sich die Neutralisierungstechniken auch für andere Bereiche abweichenden Verhaltens. Schon 1974 generalisierte Karl-Dieter Opp die Neutralisierungsthese generell auf Verhalten, das von sozialen Normen abweicht und auch auf einen größeren Täterkreis, der sich nicht nur auf Jugendliche beschränkt. Einige empirische Studien zu Mord, Vergewaltigung, Genozid oder abweichendem Freizeitverhalten behandeln Neutralisierungstechniken, besondere Bedeutung haben sie allerdings im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Hier gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Neutralisierungsthese beschäftigen, wie zum Beispiel der Aufsatz von Roland Hefendehl (2005) über den Fall Ackermann (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank).
Obwohl Sykes und Matza an der Erklärung von [[Jugendkriminalität|Jugenddelinquenz]] interessiert waren, eignen sich die Neutralisierungstechniken auch für andere Bereiche abweichenden Verhaltens. Schon 1974 generalisierte Karl-Dieter Opp die Neutralisierungsthese generell auf Verhalten, das von sozialen Normen abweicht und auch auf einen größeren Täterkreis, der sich nicht nur auf Jugendliche beschränkt. Einige empirische Studien zu Mord, Vergewaltigung, Genozid oder abweichendem Freizeitverhalten behandeln Neutralisierungstechniken, besondere Bedeutung haben sie allerdings im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Hier gibt es zahlreiche Studien, die sich mit der Neutralisierungsthese beschäftigen, wie zum Beispiel der Aufsatz von Roland Hefendehl (2005) über den Fall Ackermann (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank).
Womöglich ist die Frage, ob Täter Neutralisationstechniken anwandten, weniger fruchtbar als diejenigen, aus welcher Quelle sie sie bezogen. Die von Sykes und Matza beschriebenen Jugendlichen bezogen ihre Neutralisationstechniken - also ihre Interpretationen der Situation, die sie subjektiv zur Tat berechtigten - vor allem aus ihrer Gruppe (Peer-Group, Bande, Freundeskreis). Sie waren weder ganz allein noch waren sie aber auch von den herrschenden Normen gedeckt. Von hier aus lassen sich zwei Extrempunkte denken: einerseits Situationen, in denen ein Individuum ganz allein eine Legitimation für sein Handeln erfinden muss (Amokläufer) und andererseits Situationen, in denen nicht nur eine Gruppe, sondern die herrschende Meinung in der Gesamtgesellschaft die Legitimation zum Handeln liefert (Straftaten im Auftrag einer herrschenden Weltanschauung). Im Fall des Amokläufers handelt es sich um extreme Abweichung von der Norm, im Fall der jugendlichen Gruppentäter um Konformität mit den Gruppennormen und Abweichung von den herrschenden Normen, und im Fall der Straftaten im Kontext einer herrschenden Meinung um Konformität mit den herrschenden Normen, die aber zu einer Straftat auffordern (Genozid im NS-Staat, in Ruanda etc.).


==Literatur==
==Literatur==
31.738

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