Polizeikultur

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Der Begriff Polizeikultur beschreibt formelle und informelle Wertmaßstäbe und Verhaltensmuster, die das Sozialgefüge innerhalb der Polizei prägen und das Alltagshandeln neben rechtlichen Rahmenbedingungen beeinflussen.

Begriffsbestimmung

Kultur kann allgemein als ein System von Wertvorstellungen, Verhaltensnormen sowie Denk- und Handlungsweisen beschrieben werden, die das Verhalten von Organisationsmitgliedern prägen (vgl. Bleicher 1991, S. 732). Rafael Behr spezifiziert Polizeikultur als ein „Bündel von Wertbezügen, die als transzendentaler Rahmen das Alltagshandeln von Polizeibeamten ermöglichen, begrenzen und anleiten“ (Behr 2006, S.48). Wertbezüge geben darüber Auskunft, in welchen Situationen welche Werte und Tugenden in welchem Ausmaß Geltung erlangen. Als zentrale Orientierungspunkte fungieren das aus unmittelbaren Erfahrungen abgeleitete polizeiliche Selbstverständnis und die damit einhergehenden Gerechtigkeitsvorstellungen (vgl. ebd.).

Während die rechtlichen Rahmenbedingungen polizeilichen Handelns durch Recht und Gesetz (StGB, StPO, Polizeigesetze etc.) definiert sind, kann die praktische Art und Weise des Agierens im konkreten Fall nicht verwaltungstechnisch organisiert werden, sondern wird maßgeblich durch intrasystemisch sozialisierte Verhaltensmuster beeinflusst. Innerhalb der Polizei existiert jedoch nicht nur eine klar umrissene Polizeikultur. Vielmehr muss von vielen verschiedenen Polizeikulturen gesprochen werden, welche sich je nach Arbeitsbereich, Funktion aber auch Hierarchieebene unterscheiden (vgl. Vera/Kölling 2016, S. 16 ff., Behr 2016, S.14).

Generell ist die Entstehung von informellen Wertesystemen nicht typisch für die Organisationen der Polizei. Vielmehr bilden sich vergleichbare Wertesysteme auch in anderen Organisationen heraus. Da Polizeibeamte häufig in gewaltgeprägten Situationen agieren müssen, kommt der Polizeikultur eine besondere Bedeutung zu. Hierbei wird Gewalt zum einen gegen Polizeibeamte aber auch von ihnen eingesetzt (vgl. Vera/Kölling 2016, S.17). Fälle vermeintlicher Polizeigewalt oder scheinbar steigende Gewalt gegen Polizeibeamte finden medial große Beachtung.

Abgrenzung von Polizei- und Polizistenkultur

Maßgeblich von Behr geprägt wird zwischen der offiziell in Form von Leitbildern gezeichneten Polizeikultur und der informell gelebten Polizistenkultur (Cop Culture) unterschieden. Zwar lässt sich die polizeiliche Basis nicht direkt mit der Polizistenkultur gleich setzen und auch die polizeiliche Führung nicht in Gänze der Polizeikultur zuordnen, dennoch sind entsprechende Tendenzen erkennbar. Der Bezug zur Polizeikultur nimmt zu, je weiter sich eine Person vom polizeilichen Arbeitsalltag („auf der Straße“) entfernt. Dies kann sowohl horizontal (durch den Arbeitsbereich) als auch vertikal (durch die Hierarchieebene) bedingt sein (vgl. Behr 2016, S. 14). Insgesamt sind Polizei- und Polizistenkultur nicht trennscharf abgrenzbar. Insbesondere in der mittleren Führungsebene (z.B. Dienstabteilungsleiter) mischen sich die unterschiedlichen Wertvorstellungen. Zudem wurden auch Beamte in höheren Führungsfunktionen durch einen schrittweisen Aufstieg in der Hierarchie zunächst in der polizeilichen Basis mit Werten der Cop Culture sozialisiert, was das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Kulturen abfedern kann (vgl. ebd. S. 15 f.).

Polizeikultur

Die Polizeikultur entsteht durch die idealtypischen Erwartungen der Gesellschaft an die Arbeit der Polizei und ist direkt an bürokratische Rahmenbedingungen geknüpft (vgl. Vera 2016, S.17). Dieser idealisierte Anspruch beinhaltet Aspekte wie Zuverlässigkeit, Objektivität und Rechtsstaatlichkeit und spiegelt sich in polizeipolitischen Vorgaben wider. Diese politischen Vorgaben werden von der polizeilichen Managementebene adaptiert. Sie schlagen sich in Erlassen, Leitbildern und offiziellen Selbstdarstellungen nieder und werden so an die polizeiliche Basis weiter gegeben (top down). Insgesamt handelt es sich bei Leitbildern um eine idealisierte Selbstdarstellung anhand einer politisch korrekten Wirklichkeitskonstruktion, die sehr unverbindlich und wenig praxisorientiert sind und daher im Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit bleiben. Ihre tatsächliche Umsetzung in der Praxis ist weder möglich noch intendiert. Vielmehr dienen sie der theoretischen Ausrichtung der Organisation sowie als Kommunikationsangebot mit der Öffentlichkeit (vgl. Behr 2016, S.16).

Polizistenkultur

Im Gegensatz zur Polizeikultur bildet sich die Polizistenkultur (Cop Culture) von der Basis ausgehend als notwendiges Korrektiv zur nicht praktikablen, offiziellen Polizeikultur. Cop Culture ist an den Erfordernissen des polizeilichen Einsatzhandelns orientiert und fungiert mittels einer „komplexitätsreduzierenden Praxisanleitung“ als Strategie zur Alltagsbewältigung (Behr 2006, S. 39). Es handelt sich um eine auf Erfahrungswissen beruhende Kultur, die mündlich durch „Geschichten“ und durch konkludentes Handeln von Generation zu Generation weitergegeben wird. Der polizeiliche Alltag ist vom Handeln unter einem chronischen Informationsdefizit geprägt. Entscheidungen müssen in Einsatzsituationen ad hoc getroffen werden, wohingegen die rechtliche Bewertung der getroffenen Entscheidung erst im Nachhinein unter vollständiger Information durch Vorgesetzte erfolgt. Oft finden informelle Lösungsstrategien Anwendung, welche nicht nur die Effektivität steigern, sondern auch eine moralische Komponente beinhalten. So wird mitunter aus Sicht des Einsatzpolizisten gerecht, wenn auch nicht immer streng gesetzlich gehandelt; Legalität und Legitimität stimmen in der polizeilichen Praxis nicht zwingend überein und mitunter wird Illegalität bemüht um Legalität zu erzielen (vgl. Schweer/Strasser 2008, S. 18f., Behr 2006, S. 73 ff.)

Neben etwaigen widerstreitenden Interessen zwischen moralisch und rechtlich korrektem Handeln, spielt auch das Thema Gewalt und Gefahr eine primäre Rolle innerhalb der Polizeikultur. Insbesondere geschlossene Einheiten (z.B. Bereitschaftspolizei), Spezialeinheiten sowie Beamte des Einsatz- und Streifendienst verstehen sich als „Gefahrengemeinschaft“, da sie sich im täglichen Dienst häufig mit potentiell überfordernden Situationen und psychischen und physischen Angriffen konfrontiert sehen. Wegen dieser omnipräsenten potentiellen Gefahr und des stets drohenden Souveränitätsverlusts, stellt Loyalität eines der wichtigsten Elemente der Cop Culture dar (vgl. Behr 2010, S. 61). Diese uneingeschränkte Unterstützung ist aus Sicht der Einsatzbeamten für die tägliche Dienstverrichtung unerlässlich und ermöglicht erst erfolgreiches polizeiliches Handeln. Problematisch gestaltet sich diese Solidarität, wenn sie sich als „Mauer des Schweigens“ an den Grenzen des Tolerierbaren niederschlägt (Vera/Kölling 2016, S. 24).

Mit Werten wie Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mut, Loyalität und Ehre ist die Polizistenkultur von Männlichkeitsmustern geprägt und weist einen gewissen Institutionspatriotismus auf (vgl. Behr 2016, S.18). Cop Culture kann grundsätzlich als Homogenitätskultur bezeichnet werden, die Diversität nicht betont, sondern nivelliert. Von einigen Spielräumen und Nischen abgesehen, verlangt sie von ihren Mitgliedern eine hohe Assimilationsbereitschaft und bewirkt so Konformität. Im Gegensatz zur absoluten internen Solidarität und extremem Vertrauen werden Außenstehende und Fremde tendenziell mit defensiver Vorsicht behandelt. Rückhalt wird daher zumeist durch die Bezugnahme auf die eigene Gruppe und durch das geteilte Wissen der „Schattenseite der Gesellschaft“ erfahren (Behr 2006, S. 77). Cop Culture stellt insgesamt gewissermaßen die Seele der Polizeiarbeit dar und sichert die polizeiliche Handlungsfähigkeit. Denn nur mit dem Wissen, sich in Notsituationen bedingungslos auf den Partner verlassen zu können, ist polizeiliches Einsatzhandeln möglich. Darüber hinaus bietet der innerhalb der Cop Culture bestehende Gruppenzusammenhalt normative Orientierung und Rückhalt und fördert so die Verarbeitung belastender Situationen für den Einzelnen (vgl. ebd., S. 78 ff.). Ferner erzeugt der Anspruch dem Idealbild der Polizistenkultur zu entsprechen, ein enormes Einsatzpotential weit über das geforderte Maß hinaus. Polizisten bringen sich selbst in Gefahr, um dem Idealbild der Cop Culture zu entsprechen, denn auch Pflichterfüllung und Aufopferung für Andere („Heldentum“) sind fester Bestandteil der Polizistenkultur (vgl. ebd., S.98 f.).

Einflussfaktoren und Ausblick

Während die Ursprünge der Forschung zur Polizeikultur in den USA liegen, ist in jüngerer Vergangenheit auch in Deutschland ein gesteigertes Interesse an dem Themenkomplex zu verzeichnen. Aktuelle wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass der Prozess der Anpassung nicht stereotyp erfolgt und die Annahme einer festgefügten Polizeikultur zugunsten einer inhomogenen Vielfalt von Polizeimilieus differenziert werden muss. Darüber hinaus steht zu erwarten, dass die von Behr beschriebene Polizistenkultur mit der Ausprägung hegemonialer Männlichkeitsstrukturen und extremer Binnenkohäsion in Zukunft tendenziell abnehmen wird (vgl. Dübbers 2016, S.37). Dies ist neben der generell zunehmend individualisierten Gesellschaft einigen strukturellen Änderungen innerhalb der Polizei geschuldet:

  1. Auflösung der Gruppenhomogenität: Durch die verstärkte Einstellung von Polizistinnen und Menschen mit Migrationshintergrund wird zunehmend Diversität betont, was dem Homogenitätsgedanken der Cop Culture prinzipiell entgegensteht (vgl. Behr 2006, S. 124 ff.). Inwiefern sich dieser Aspekt in der Praxis entsprechend auswirkt wird kontrovers diskutiert. So ergab z.B. eine amerikanische Studie, dass ethnische Minderheiten in ihrer Bemühung um Akzeptanz in der Gruppe die polizeiinternen Werte und Normen noch stärker annehmen und so keinen positiven Einfluss auf die Öffnung der Polizistenkultur nehmen (vgl. Burton/Lamnek 2001, S. 57).
  2. Auflockerung des Gruppenkonstrukts: Durch neue Arbeitszeitmodelle und die vermehrte Aufhebung fester Arbeitsschichten zugunsten flexibler, bedarfsorientierter Arbeitszeitmodelle im Einsatz- und Streifendienst wird die schichtdienstbedingte soziale Isolation verringert. Mit der Auflösung fester Dienstschichten vergrößert sich der Personenkreis der unmittelbar zusammen arbeitenden Menschen, wodurch sich deren Gruppenzusammenhalt und Zugehörigkeitsgefühl potentiell verringert (vgl. Behr 2008).
  3. Verändertes Führungsverhalten: Innerhalb der Polizei ist der Trend zu einem kooperativeren Führungsstil unter verstärkter Einbeziehung der polizeilichen Basis erkennbar. Durch ein Abflachen der Hierarchie und eine verbesserte Kommunikation zwischen polizeilicher Führung und Basis könnte eine Annäherung von Polizei- und Polizistenkultur bewirkt und dadurch das Spannungsverhältnis zwischen den gegensätzlich ausgerichteten Kulturen verringert werden. (vgl. Mensching 2008, S.325 ff.).
  4. Akademisierungsprozess: Die veränderten Einstellungsmodalitäten bewirken durch die Umwandlung der Ausbildung in ein Akademiestudium in vielen Bundesländern, dass vornehmlich Abiturienten in den Polizeidienst eingestellt werden. Personen, die sich über längere Zeit in Bildungszusammenhängen befunden haben, neigen tendenziell zu einer reflektierteren Problembewältigung. Auch die mit der Akademisierung einhergehende Abschaffung der Kasernierung dürfte eine geringere Binnenkohäsion der Polizeianwärter bewirken. Hinzu kommt, dass sich das Bewerberpotential der Polizei durch die vermehrte Einstellung von Abiturienten eher auf ein gutbürgerliches Herkunftsmilieu stützt (vgl. Dübbers 2016, S. 29 ff.).

Literatur

BEHR, Rafael (2006): Polizeikultur. Routinen-Rituale-Reflexionen. Bausteine zu einer Theorie der Praxis der Polizei, Wiesbaden.

BEHR, Rafael (2010): Intimität oder Abschottung – warum Polizisten am liebsten unter sich sind. Ein Essay zu den Ambivalenzen im polizeilichen Selbstverständnis. In: Groß, Hermann u.a. (Hrsg.): Polizei – Polizist – Polizieren? Überlegungen zur Polizeiforschung. Festschrift für Hans-Joachim Asmus, Frankfurt, S. 59-74.

BEHR, Rafael (2016): Die Polizei im Spannungsfeld von staatlicher und gesellschaftlicher Gewalt. Anmerkungen aus der Polizeikulturforschung. In: Polizei & Wissenschaft. Unabhängige Zeitschrift für Wissenschaft und Polizei, 2/2016, S. 13-24.

BLEICHER, Knut (1991): Organisation. Strategien - Strukturen - Kulturen, 2. Auflage, Wiesbaden.

BURTON, Sabina/ LAMNEK, Siegfried (2001): The Police Subculture in the U.S.. In: Lorei, Clemens (Hrsg.): Polizei & Wissenschaft. Unabhängige Zeitschrift für Wissenschaft und Polizei, 3/2001, Frankfurt, S. 51-59.

DÜBBERS, Carsten (2016): Veränderungen der Kultur der Polizei durch den Akademisierungsprozess. Ergebnisse aus quantitativ empirischen Studien in der Kölner Polizei. In: Polizei & Wissenschaft. Unabhängige Zeitschrift für Wissenschaft und Polizei, 2/2016, S. 25-38.

MENSCHING, Anja (2008): Gelebte Hierarchien. Mikropolitische Arrangements und organisationskulturelle Praktiken am Beispiel der Polizei, Wiesbaden.

SCHWEER, Thomas/ Strasser, Herrmann (2008): Cop Culture und Polizistenkultur. In: SCHWEER Thomas/ STRASSER, Herrmann/ ZDUN, Steffen: „Das da draußen ist ein Zoo und wir sind die Dompteure“ Polizisten im Konflikt mit ethnischen Minderheiten und sozialen Randgruppen, Wiesbaden, S. 11-38.

VERA, Antonio/ KÖLLING, Katharina (2012): Cop Culture in einer alternden Polizei. In: Vera, Antonio (Hrsg.): Schriftenreihe der Deutschen Hochschule der Polizei, 2/2012. Organisation und Personalmanagement in der Polizei unter den Bedingungen des demografischen Wandels, Münster, S. 11-56.


Internetquellen

BEHR, Rafael (2008): Die ethische Dimension staatlicher Gewaltausübung. Zum Verhältnis von Handlungsethik und Organisationskultur der Polizei, elektronische Ressource, verfügbar unter http://www.hamburg.de/contentblob/2238604/data/ethische-dimension.pdf (abgerufen am: 23.02.2017).