Pathologisierung

Jede Epoche hält einige Zustände für normal, andere für krankhaft - und die Grenze verschiebt sich andauernd. So werden Zustände zum Gegenstand der Normalisierung einerseits und der Pathologisierung andererseits. Manches, was früher als krank galt, gilt heute als normal - bei anderen Verhaltensweisen und Zuständen ist es anders herum. Der Index der Gegenwart ist der in ständiger Ausweitung begriffene "Index of Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems" (ICD; aktuell: ICD-10). Diese Ausweitung kann einerseits auf eine Vermehrung psychischer Leiden hindeuten, andererseits auch auf eine Tendenz zur Pathologisierung von Zuständen und Gefühlen, die der herrschenden Norm widersprechen.

Möglicherweise nimmt die Krankheit der Verbitterung zu - oder aber die Norm des Gut-Drauf-Seins fordert angesichts einer Vielzahl von Abweichlern ihren Tribut in Gestalt der Pathologisierung. Als "posttraumatische Verbitterung" - protokolliert von Ärzten der Berliner Charité im Gefolge der Umwälzungen im Prozess der deutschen Einheit - hat die Verbitterung gute Chancen, bei künftigen Revisionen des ICD oder schon in der für 2012 geplanten 5. Auflage des Standardwerks für die Bestimmung von Geisteskrankheiten, des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) offiziell als Krankheit anerkannt zu werden - mit all den Selbstverstärkungseffekten einer offiziellen Anerkennung, die dazu führen werden, dass viele Phänomene, die früher normalisiert wurden, nunmehr von Experten als krank definiert und von Betroffenen auch als Krankheit erfahren werden.

Quellen

  • Thiel, Thomas (2009) Als die Bitterkeit ihre Unschuld verlor. FAZ 04.11.09: N 5.