Neurokriminologie

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Neurokriminologie ist eine Theorie- und Forschungsdisziplin, die Kriminalität neurobiologisch zu erklären versucht. Die zentrale Fragestellung, die sich daraus ergibt ist die nach der Willensfreiheit und der Schuldfähigkeit des Menschen. Als Argumentationsgrundlagen dienen Ergebnisse und Erkenntnisse aus interdisziplinären Wissenschaften und Fachgebieten, der Endokrinologie, der Genetik, der Kriminalitätsanthropologie, der Neurologie, der Psychiatrie und der forensischen Rechtsmedizin.


Entstehung und Fiktion

Die Neuro-Kriminologie beschäftigt sich mit einer biologisch begründbaren Kriminalitätstheorie, bei der davon ausgegangen wird, dass es Menschen mit einer neurobiologisch determinierten Veranlagung zu kriminellen Handlungen gibt. Zur Stützung dieser Theorie wird mittels einer Kombination aus bildgebenden und biochemischen Verfahren nach Hinweisen und Beweisen in den Gehirnen von Gewalt- und Sexualstraftätern und Psychopathen in Abgrenzung zu normkonform agierenden Menschen gesucht. Das Gehirn wird als verantwortlicher Ursprungsort und zentrale Schaltstelle für kriminell abweichendes Verhalten angenommen, ergänzt von interagierenden neurophysiologischen Erkenntnissen und Befunden von Gen-, Hormon- und Transmitterveränderungen. Einige Neurobiologen gehen davon aus, dass ausschließlich die menschliche Biologie kriminelles Verhalten steuere. Sie verneinen aufgrund neurobiologischer Untersuchungsergebnissen die Existenz eines freien Willen, halten ihn für eine Illusion (Lamnek 2008). Lässt sich eine kortikale Gewalt- und Verbrechenszentrale nachweisen oder wären mikro- und makroskopische Korrelate des Bösen im Gehirn lokalisierbar, dann würden auch Aussagen darüber getroffen werden können, ob jemand eine Vulnerabilität zum Verbrecher hat und auch, wie hoch das Rückfallrisiko von Straftätern aufgrund ihrer biologischen Bedingtheiten eingestuft werden kann. Potentiell Kriminelle würden vor Straffälligkeit biotechnologisch präventiv erkennbar sein. Dies hätte weitreichende Konsequenzen für das Strafrecht. Die Schuldfähigkeit vor Gericht würde mit einem Hirnscreening überprüft und die Neurobiologie fände Eingang ins Strafgesetzbuch.

Geschichte

Der deutsche Arzt Franz Josef Gall (1758 – 1828), der Begründer derforensischen Phrenologie, war der Erste, der nach Hinweisen für kriminelles Handeln im Gehirn suchte. Er glaubte gegen Ende des 18ten Jahrhunderts einen sogenannten ‘‘Würge- und Mordsinn‘‘ ausgemacht zu haben, welchen er als tastbaren Wulst des Schädelknochens hinter den Ohren vermutete (Markowitsch 2007). Cesare Lombroso (1835 – 1909), ein italienischer Psychiater, Gerichtsmediziner und Gefängnisarzt sah die Neigung eines Menschen zum kriminellen Handeln in der biologischen Organik der abweichend handelnden Person fest verankert (Markowitsch 2007). Lombroso stellte phänotypische Vermessungen an, um Verbrecher mittels äußerer Merkmale und Erscheinungsbilder erkennen und kategorisieren zu können. Mit seinem Buch L´Uomo delinquente, welches er 1889 auf deutsch übersetzt, unter dem Titel Der Verbrecher veröffentlichte, begründete er mit seinen Theorien die Wende von der Tat- zum Täterstrafrecht. Lombrosos These, die einen ausmessbaren Zusammenhang zwischen geistiger Abnormität und typisierbaren Merkmalen der Delinquenz suggerierte, wurde vor allem zwischen 1890 und 1945 von Medizinern vertreten. Bis Ende des 19ten Jahrhunderts wurde von führenden Psychiatern, unter ihnen Benedikt August Morel (1809 – 1873) und Wilhelm Griesinger (1871 – 1868) ein degenerativer und atavistischer kriminalitätstheoretischer Ansatz propagiert. Lombrosos Theorie wurde von Enrico Ferri (1856 – 1929), ein Kriminologe und Politiker 1896 weitergeführt. E. Ferri kreierte den Begriff des „geborenen Verbrechers“, der Lombroso später zugeschrieben wurde (Markowitsch 2007). Ferri betonte, trotz aller Biologismen, auch die Wichtigkeit der sozialen Verhältnisse für das Entstehen von Verbrechen. Lombroso revolutionierte das Strafrecht, denn er widersprach dem Prinzip der uneingeschränkten Verantwortlichkeit und setzte sich dafür ein, eine Bestrafung nicht nur nach dem Verbrechen festzulegen, sondern auch den Täter und die Tatumstände zu berücksichtigen. Er begründete mit seinen Aussagen die Wende vom Tat- zum Täterstrafrecht.

Moritz Benedikt (1835 – 1920), Professor für Neurologie an der Universität Wien, galt als ein weiterer Vertreter einer biologischen Kriminalitätsvorstellung. Er veröffentlichte 1876 eine Studie über drei Verbrechergehirne, die er in der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie gesammelt hatte (Markowitsch 2007).

Erbbiologische Annahmen und Lombrosos Verbrecher-Typisierungen übernahmen die Nazis in der NS-Zeit und begründeten damit ihre Euthanasie und ihre biologisch-rassistische Ausrottungspolitik.

Die Frage nach der Willensfreiheit, die er aber weniger einem lokalisierbaren Ort im menschlichen Körper zuwies, hatte schon Sigmund Freud aufgeworfen, als er eine von vier Kränkungen des Menschen als die beschrieb, „nicht Herr im eigenen Hause zu sein‘‘, da sich viele Handlungen der Bewußtheit und des Willens entziehe (Freud 2010).

Entwicklung

In der Vergangenheit wurde an den sezierten Gehirnen von Toten geforscht. Mit dem technischen Fortschritt, vor allem seit der Erfindung der Röntgengeräte und späterer hoch spezialisierter apparativer Untersuchungsmethoden, wurde es möglich, Organe und Strukturen am lebenden Körper und ohne inonisierende oder belastende Röntgenstrahlen darzustellen. Mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) können auch aktivierte Hirnareale mit hoher räumlicher Auflösung dargestellt werden. Die beobachtbaren Signalanhebungen nach Aktivierung in bestimmten Hirnregionen geben als interpretierbare Reiz- und Reaktionsmuster Hinweise auf kognitive und emotionale Prozesse. Visuelle und auditive Reize werden dargeboten, die dann bestimmte Hirnaktivierungen auslösen oder nicht. Beobachtet wird, wie Veränderungen und Schädigungen mancher Hirnregionen, sowie Fehlfunktionen des Stoffwechsels oder aus der Balance gerate Botenstoffe und Neurotransmitter zu psychischen Störungen und Persönlichkeitsveränderungen führen können. Mit den apparativen Untersuchungsmethoden hofft man Hinweise auf ein Verbrechergehirn zu finden. Einige Forscher berufen sich zur Untermauerung ihrer neurobiologischen Theorien und Thesen auf Experimente und auf Befunde von Patienten nach Krankheiten und Unfällen.

Experimente

Der Neurobiologe Benjamin Libet maß 1979 mit einem Elektroenzephalogramm (EEG) die zeitliche Abfolge eines Bereitstellungspotentials für eine Bewegung bezogen auf den Zeitpunkt des Willensentschlusses und die motorische Umsetzung einer Handbewegung mit einem Elektromyogramm (EMG). Dabei stellte er fest, dass der Willensentschluss deutlich nach dem Beginn des Bereitstellungspotentials auftrat. Somit konnte der Willensentschluss nicht das Bereitstellungspotential gestartet haben, da dieser später auftrat. Daraus schlussfolgerte Libet, die scheinbar „gewollte“ Bewegung müsse unbewusst schon vorbereitet und durch das Bereitstellungspotential initiiert worden sein. Libet wies damit nach, dass das Gehirn „entscheidet“ eine Bewegung vorzubereiten und einzuleiten, bevor es irgendein subjektives Bewusstsein davon gibt. Libets Experimente sind zwischenzeitlich mit ähnlichen Ergebnissen verschiedentlich wiederholt worden. Libet selbst sah seine Experimente nicht als ein Ergebnis zur Widerlegung der Willensfreiheit an, weil er davon ausging, dass jede Bewegung von einem bewussten ‘‘Veto‘‘ gestoppt werden könnte (Roth 2009).

Caspi und Moffitt (Psychologen) nahmen in ihrer Langzeitstudie des „Life-Course-Persister“ in Neuseeland, ab den 1970er Jahren, Gen-Material der Probanden mit in ihre Untersuchungen auf. In dieser als Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study bekannt gewordenen Studie, zeigte sich, dass eine mangelnde Aktivität des MAOA-Genotyps mit Gewaltverbrechen und antisozialem Verhalten korrelierte. Vulnerabel für Gewalt waren aber nur die Männer, die auch in ihrer Kindheit misshandelt worden waren. Da sich das Enzym MAOA auf dem X-Chromosom befindet, konnten Frauen in einer vergleichbaren Situation, den Mangel mit ihrem zweiten X-Chromosom im Gegensatz zu den Männern mit nur einem X-Chromosom besser kompensieren (Hofinger 2013).

Adrian Raine, Neuropsychiater an der University of Southern California untersuchte Anfang der 1990er Jahre im Gefängnis per Positronen-Emissionstomographie (PET) die Gehirne von Gewaltverbrechern und Mördern. Bei 41 verurteilten Mördern registrierte er im Frontalhirn eine deutlich geringere Aktivität als bei „normalen“ Personen. In einer weiteren Studie untersuchte er 21 Probanden mit einer antisozialen Persönlichkeit, die durch Verantwortungslosigkeit, ausgeprägte Impulsivität, geringe emotionale Tiefe, fehlendes Mitgefühl und mangelnde Reue gekennzeichnet waren. Bei allen 21 Personen war das Volumen ihres präfrontalen Kortex um elf Prozent reduziert (Raine 1993).

Fallanalysen

Phileas Gage erlitt als Vorarbeiter einer Eisenbahngesellschaft einen Arbeitsunfall. Bei einer Explosion wurde ihm aufgrund der Druckwellen eine Eisenstange in die linke Wange geschossen, die an der Schädeldecke wieder austrat. Gage überlebte den Unfall, war aber durch die Hirnverletzungen im präfrontalen Cortex (PFC) in seiner Persönlichkeit nach dem Unfall verändert. Aus einem ehemals ruhigen und besonnenen Menschen war ein aufbrausender und impulsiver Charakter geworden. Die Bedeutsamkeit des präfrontalen Cortex für die Steuerungsfähigkeit eines Menschen und seine Impulskontrolle konnte in diesem Fall demonstriert werden. Neben der Funktion als übergeordnete Kontrollinstanz hemmt der PFC aggressive Impulse aus dem Emotionszentrum des limbischen Systems. Ebenso werden das Moralempfinden und das rationale Denken über den präfrontalen Cortex gesteuert (Damasio 2000).

Damasio beschrieb 1994 den Fall Elliot (Damasio 2000 ). Elliot wies nach der Entfernung eines Hirntumors dauerhaft erhebliche Charakter- und Verhaltensänderungen auf, die konträr zu seinem Verhalten vor der Operation standen. Die charakterliche Wandlung nach Zerstörung bestimmter Hirnareale geben Hinweise, wo sich Zentren für aggressiv-sexuelles oder gewalttätiges Verhalten finden und bestätigen eine biologistische Sichtweise menschlichen Verhaltens.

Techniken und Verfahren

  • funktionelle Magnet-Resonanz-Tomografie (fMRT)
  • Positronen-Emissions-Tomografie (PET)
  • Elektroenzephalogramm (EEG) und Elektromyogramm (EMG)
  • MAOA-Gene
  • Hormone und Neurotransmitter wie Testosteron, Osytocin, Dopamin, Serotonin
  • Lobotomie, früherer hirnchirurgischer Eingriff zur Zerstörung von Bereichen im Hypothalamus, dort wo aggressiv-sexuelles und gewalttätiges Verhalten vermutet wurde, um weiteres strafwürdiges Verhalten zu unterbinden.

Kritik

Scharfe Kritik an den neurobiologischen Erklärungen für menschliches Verhalten übt Felix Hasler. Der Neuropharmakologe prägte in seinem Buch „Neuromythologie“ den Begriff der ‘‘Cyber-Phrenologie‘‘ ( Hasler 2014). Bislang ist es nicht möglich, präzise Aussagen über den Sitz des Bösen im Gehirn zu machen. Man kann Reize und Signale in Gehirnen messen, doch die dadurch evozierten Bilder, Signalanreicherungen und Sauerstoff- und Blutkonzentrationsveränderungen unterliegen noch weitestgehend einer Interpretation der Befunde. Eindeutige Beweise sind diese nicht, bestenfalls Hinweise, die es aber zu präzisieren gilt.

Siehe auch

  • Ekman, Paul, Ausdrucks- und Emotionspsychologe, Begründer des Facial Action Coding System (FACS). Ekman geriet in Kritik weil er Flughafenpersonal, um potentielle Straftäter präventiv auszumachen, in der Wahrnehmung von Mikroexpressionen im Gesicht schulte.

Filme

  • M., Eine Stadt sucht einen Mörder. Deutschland 1931, 117 Minuten Länge, Regie: Fritz Lang, Drehbuch: Thea von Harbou und Fritz Lang
  • Shutter Island, USA 2010, 138 Minuten Länge, Regie: Martin Scorsese, Drehbuch: Laeta Kalogridis
  • Poll, Deutschland 2010 129 Minuten Länge, Regie und Drehbuch: Chris Kraus.

Weblinks

Das Böse – Eine Reise in die Abgründe der Seele – Wissen- Süddeutsche.de http://www.sueddeutsche.de/wissen/das-boese-eine-reise-in-die-abgruende-der-seele-1.910370-4 (Stand 07.04.2014)

Kritik an Neuroscans: „Hirnforscher sollten nicht überreizen“ www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kritik-an-fmrt-hirnscans-interview-mit-felix-hasler-a-867591.html (Stand 07.04.2014)

Prof. Dr. Bernhard Linke „Willensfreiheit und Gehirnforschung“ http://www.gotteswahn.info/Personen/Detlef_Linke_Hirnforscher.htm#Autor (Stand 20.04.2014)

Themen der Zeit: Die Lobotomie: Wie ein Relikt aus finsterer Zeit, Ärzteblatt.de http://www.aerzteblatt.de/archiv/60000/Die-Lobotomie-Wie-ein-Relikt-aus-finsterer-Zeit (Stand 04.04.2014)

Literatur

  • Ekman, Paul (2004): Gefühle lesen. Wie sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren. Heidelberg.
  • Damásio, António R. (2000): Descartes´Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München.
  • Freud, Sigmund (2010): Das Unbehagen in der Kultur und warum Krieg. Neu gesetzte Auflage. Wiesbaden.
  • Geyer, Christian (2013): Hirnforschung und Willensfreiheit. 8. Auflage. Frankfurt.
  • Hasler, Felix (2014): Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. 4. Unveränderte Auflage. Bielefeld.
  • Hofinger, Veronika (2013): Der Rückfalltäter von Lombrosos „geborenen Verbrecher“ bis zu Moffitts „Life-Course-Persister“ In: Krim.Journal, 45. Jg.
  • Lamnek, Siegfried (2008): Theorien abweichenden Verhaltens II. Moderne Ansätze. 3.Auflage. Paderborn
  • Markowitsch, Hans J., Welzer, Harald (2005): Das autobiografische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart.
  • Markowitsch, Hans J., Siefer,Werner (2007): Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens. Campus Verlag.
  • Raine, Adrian (1993): The Psychopathology of Crime. Criminal Behavior as an Clinical Disorder. USA.
  • Roth, Gerhard (2009): Aus der Sicht des Gehirns. Frankfurt.