Moralentwicklung

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Die Moralentwicklung als wissenschaftlicher Gegenstand untersucht die Entstehung und Entwicklung moralischer Einsicht und moralischen Handelns von den frühen Kindheitsjahren bis in das Erwaschsenenalter. Moralentwicklung ist Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, wird aber vorrangig innerhalb verschiedener Zweige der Psychologie (Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Kognitive Psychologie) untersucht.

Moral (von lat. moralis) bezeichnet Sittlichkeit im Sinne sittlichen Verhaltens. Der diesem Verhalten zugrunde liegende moralische Sinn (moral sense) liegt in der Natur des Menschen und umschreibt die Unterscheidungsgabe zwischen Recht und Unrecht. Seit Mitte des 18. Jh. wird Moral auch als Ersatz für Ethik verwandt. Auf gesellschaftlich normativer Ebene ist Moral eine Sammelbezeichnung für die der gesellschaftlichen Praxis zugrunde liegenden und als verbindlich akzeptierten ethisch-sittlichen Normen und Normensysteme des Handelns und der Werturteile, der Tugenden und Ideale einer bestimmten Gesellschaft, bestimmter gesellschaftlicher Gruppen und der ihnen integrierten Individuen bzw. einer historischen Epoche.

Lawrence Kohlberg, 25.10.1927 - 19.01.1987

Frühe Theorien der Moralentwicklung

Psychoanalytische Theorie

In der Psychoanalyse werden moralische Gefühle (Scham und Schuld) dem sogenannten Über-Ich zugesprochen, das durch Verinnerlichung elterlicher Autorität und gesellschaftlicher Normen dem System der Triebe abgerungen wurde. Positive moralische Gefühle werden dem Ich-Ideal zugesprochen.[1]

Lerntheoretisches Modell

In der Lerntheorie wird der Prozess der moralischen Entwicklung als Anpassung an die Regeln der Gesellschaft verstanden. Diese Anpassung ist das Produkt sozialer Lernprozesse, in denen Verhalten verstärkt oder bestraft wurde. Schuld und Schamgefühl gelten als Ergebnis von Tadel und Sanktionen, Empathie ist Ergebnis von Lob oder Belohnung. Spätere Entwicklungen innerhalb der Lerntheorie beschreiben das Lernen am Modell durch Beobachtung prosozialen Verhaltens. Beide Ansätze ergänzen sich, lassen aber keinen Platz für kognitive Prozesse.[2]

Moralische Entwicklung nach Piaget

Einer der wichtigsten Wegbereiter der zeitgenössischen Sicht auf Moralentwicklung war der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget (9. August 1896 in Neuchatel - 16. September in Genf). Laut Piaget beinhaltet der Prozess der moralischen Sozialisation kognitive Aspekte und vollzieht sich in verschiedenen Typen von Beziehungen. Piaget setzte auf die Rekapitulationshypothese, wonach sich die moralische Entwicklung der Stammesgeschichte in der Entwicklung des heranwachsenden Individuums spiegelt. Zentraler Gedanke seiner Entwicklungstheorie ist, dass menschliche Kognition, hierzu zählt auch das moralisches Denken, in einer Auseinandersetzung des menschlichen Organismus mit seiner Umwelt herausgebildet wird.

Stadien der kognitiven Entwicklung Alter
1. Sensu-motorische Phase < 2 Jahre
2. Voroperationale Phase 2 - 7 Jahre
3. Phase der konkreten Operation 8 - 10 Jahre
4. Phase der formalen Operation 11 - 12 Jahre

Von Relevanz für die moralische Bildung innerhalb der voroperationalen Phase ist das egozentrische Denken des Kindes. Dies ist die Unfähigkeit des jungen Menschen, ein Ereignis aus Sicht eines anderen wahrzunehmen. Als Voraussetzung für moralisches Denken und Handeln erweisen sich kognitive Qualitäten, die sich in der Phase der formalen Operation kristallisieren:

- Das systematische Vorgehen zur Findung v. Lösungen, d.h. die Fähigkeit, logisch und systematisch über konkrete und abstrakte Probleme nachzudenken.

- Die Fähigkeit, Vermutungen über mögliche Lösungen anzustellen (Hypothesenbildung) und diese zu überprüfen.

- Die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit der Frage: "Was wäre wenn?" als gedankliche Vorwegnahme von Konsequenzen.

- Das idealistische Denken und die Spekulation über ein wünschenswertes Leben.

Piaget gliederte die moralische Entwicklung in vier Stufen:

Moralstufen nach Piaget
Einfacher moralischer Realismus Was nicht bestraft wird ist erlaubt; was bestraft wird ist verboten.
Heteronome (fremdbestimmte) Moral Was andere Personen gut heißen ist erlaubt; was andere Personen nicht gut heißen ist verboten.
Autonome (selbstbestimmte) Moral Unabhängigkeit der Bewertung eigenen Verhaltens

Die Stufen der Moralentwicklung nach Kohlberg

Lawrence Kohlberg (25. Oktober 1927 in New York - 19. Januar 1987 in Boston) war ein US-amerikanischer Psychologe und Erziehungswissenschaftler. Kohlberg ist der Begründer der Stufentheorie der Moralentwicklung. Kohlberg sah in Übereinstimmung mit Piaget Moral als Ausdruck von Vernunft, die Moralentwicklung folglich als Entwicklung moralischer Vernunft. Nach Kohlberg durchläuft jeder Mensch verschiedene Stufen seiner moralischen Entwicklung. Abgesehen von individuellen Reifeunterschieden durchläuft jeder Mensch ab einem gewissen Alter die unterschiedlichen Stufen. Zur Entwicklung seiner Theorie bediente sich Kohlberg moralische Konfliktsituationen (Dilematta)[3]. Er legte Kindern und Jugendlichen eine Reihe von Dilematta vor und ordnete die Reaktionen den einzelnen Stufen bzw. Stadien zu.

Stufen der Moralischen Entwicklung Orientierung Perspektive
Level 1: Präkonventionelle Stufe 1.Stufe: Orientierung an Strafe und Gehorsam egozentrisch, unilateral
2.Stufe: Instrumentell-relativistische Orientierung Perspektivenkoordination, mutuale Perspektive
Level 2: Konventionelle Stufe 3. Stufe: Interpersonelle Konkordanz Perspektive der Beziehung, Beobachterperspektive
4. Stufe: Orientierung an Recht und Ordnung Perspektive des sozialen Systems
Level 3: Postkonventionelle Stufe 5. Stufe: Legalistische oder Sozialvertragsorientierung Perspektive aller rationalen Subjekte
6. Stufe: Universelle ethische Prinzipien Perspektive aller rationalen Subjekte

Stufe 1, Orientierung an Strafe und Gehorsam: Handlungen werden nicht interpretiert, sondern moralische Urteile gelten als selbstevident und sind in der Setzung von Autoriäten begründet. Eine Sanktionierung durch Autoritäten weist eine Handlung als moralisch falsch aus.

Stufe 2, Instrumentell-relativistische Orientierung: Was moralisch richtig ist, wird aus der Situation sowie der Perspektive des jeweiligen Handelnden im Sinne der eigenen Interessen bestimmt. Interessen Anderer können wahrgenomen werden, im marktwirtschaftlichen Sinne wird versucht die Befriedigung der eigenen Interessen zu maximieren

Stufe 3, Interpersonelle Konkordanz: Moralische Erwartungen Anderer werden anerkannt und ihnen wird entsprochen. Korrespondierend werden moralische Erwartungen an Dritte formuliert. Soziale Beziehungen beruhen auf der gegenseitigen Anerkennung von Normen der Reziprozität.

Stufe 4, Orientierung an Recht und Ordnung: Das Individuum erkennt die Bedeutung moralischer Normen für das Funktionieren einer Gesellschaft. Pflichten und Rechte werden aus der Perspektive des gesellschaftlichen Systems definiert.

Stufe 5, Legalistische Orientierung am Sozialvertrag: Der Mensch orientiert sich an der Idee eines Gesellschaftsvertrages. Diese Perspektive ermöglicht moralische Autonomie im Sinne einer kritischen gewissensorientierten Haltung gegenüber Normen der jeweiligen Gesellschaft.

Stufe 6, Orientierung an universellen ethischen Prinzipen: Das richtige Handeln wird mit selbstgewählten ethischen Prinzipien, die sich auf Universalität und Widerspruchslosigkeit berufen in Einklang gebracht. Moralische Regeln werden abstrahiert.

Kritik an Kohlbergs Stufenmodell

Die Universalitätsklausel geht davon aus, das sich Dilemmata von einem Kulturkreis zu einem anderen übertragen lassen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Kohlberg davon ausgeht, dass sich die invariante Abfolge seiner qualitativen Moralstufen universell in allen Kulturen wiederfinden lässt. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt an Kohlbergs Theorie ist die Konzentration auf kognitive Aspekte unter Missachtung von Emotionen. Betroffenheit und empathisches Mitgefühl sind Voraussetzung für die Bedeutsamkeit des Wohlergehens anderer Menschen. Unabhängig vom Alter ist Bildungserfahrung die wichtigste Erklärung für moralische Entwicklung. Geschlechtsunterschiede bleiben bei Kohlberg unberücksichtigt. Generell bleiben bei Kohlberg biologische Aspekte unerwähnt. Kohlbergs Prognose der kognitiven Moralentwicklung ist optimistisch. Für eine mangelnde Moralentwicklung oder einen moralischen Regress hat Kohlberg keine Erklärung. Die Frage, neben den methodischen Fallstriken bei der Feststellung individueller moralischer Orientierung ist, ob es überhaupt zulässig ist, die moralische Stufe eines anderen Menschen zu diagnostizieren und dabei einen moralischen Qualitätsunterschied zu unterstellen. Zudem belegte Kohlberg seine Forschungsbefunde in den vorgelegten Publikationen nur unzureichend.(Für einen Überblick: [4])

Sozio - kulturelle Aspekte der Moralentwicklung

Im Sinne einer Kritik wurde angemerkt, dass bei Kohlberg situationsbezogenes, kontextualistisches Denken vernachlässigt wurde. Feministische Moraltheorien streichen eine Geschlechtsspezifität der Stufenentwicklung heraus. Kohlberg beschreibt über die verschiedenen Stufen hinweg einen Urteilsmodus, bei dem moralische Dilemmata auf der Basis kontextunabhängiger Fairness gelöst werden. Kohlberg vernachlässige eine für weibliche Personen charakteristische Fürsorge, die kontextbezogen operiert und die statt Fairness die Verantwortung für andere Personen und für zwischenmenschliche Beziehungen in den Mittelpunkt stellt (Becker, 2011). Mehrere Studien verweisen auf kulturelle Unterschiede von Moralvorstellungen und somit auf eine kulturelle Abhängigkeit der Moralentwicklung. Personen aus asiatischen Gesellschaften seien altruistisch geprägt und fühlen sich somit stärker Interessen Dritter verpflichtet. Moralische Verpflichtungen seien in diesen Gesellschaften naturgegeben und obligatorisch. Li (2002) verweist auf konfuzianischen Kulturen, in denen die Erlernung moralischer Tugenden Teil der allgemeinen Entwicklung zur Selbst-Perfektion darstellt und Leistungen zum Wohl der Familie, der Gesellschaft und letztlich das Wohl der Welt fokussiert werden. Westliche Gesellschaften hingegen pflegten ein dualistisches Konzept des individuumszentrierten Selbst gegenüber seiner sozialen Rolle. In individuumszentrierten Gesellschaften wird individuellen Rechten politische und soziale Priorität zugesprochen, moralische Verpflichtungen weichen einer voluntaristischen, freiwilligen Moralvorstellung, die sich aus höheren Wertvorstellungen und Prinzipien ableiten lässt.

Emotionale Aspekte der Moralentwicklung

Neben kognitiven und sozio-kulturellen Aspekten sind emotionsbezogene Fähigkeiten Grundlagen der Gerechtigkeitsmoral. Emotionen regulieren Handeln. Emotionen können handlungsbezogene Kognitionen beeinflussen. Auf dieser Ebende bekommt Moral eine intuitionistische Perspektive. In dieser werden moralische Entscheidungen und Bewertungen im Alltag häufig durch unbewusste, automatische Prozesse verursacht. Mitunter dient die Kognition der retrospektiven Rechtfertigung solcher Intuition und deraus folgenden Handlungen (Eisenberg, 2000).

Evolutionäre und biologische Aspekte der Moralentwicklung

Die Moral des Individuums ist nicht nur ein Produkt von Lernvorgängen und sozio-kulturellen Faktoren, sondern auch von biologischen Faktoren, wobei insbesondere evolutionäre, verhaltensgenetische und neuronale Prozesse Bedeutung besitzen. Maßstäbe einer unbewussten biologischen Moral sind erfolgreiche Selbsterhaltung und Förderung eines Reproduktionsvorteils. Hinzu kommen neurowissenschaftliche Korrelate moralischen Handelns bzw. moralischen Defizites. Hier steht insbesonder der (ventromediale) präfrontale Kortex[5] im Fokus. Geschlechtshormone (Testosteron) und deren Einfluss auf moralisches Handeln werden kontrovers diskutiert, es gibt aber Hinweise auf rücksichtloseres Vorgehen hinsichtlich moralischer Dilematta (Carney, 2010).[6]

Mangelnde Moralentwicklung

Dissoziale Persönlichkeitsstörung

Gemäß ICD 10 ist die Dissoziale Persönlichkeitsstörung[7] eine Störung, die durch eine Missachtung sozialer Verpflichtungen und herzloses Unbeteiligtsein an Gefühlen Anderer gekennzeichnet ist (vgl. Antisoziale Persönlichkeitsstörung). Zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht eine erhebliche Diskrepanz. Das Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht veränderungsfähig. Es besteht eine geringe Frustrationstoleranz und eine niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten, eine Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten, durch das die betroffene Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten ist. [8] Den meisten Menschen mit Dissozialer Persönlichkeitsstörung mangelt es an der Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Perspektivübernahme. Es domininiert eine Art autistischer Selbstbezug, in dem eigene Ziele engstirnig und egoistisch durchgesetzt werden. Der Dissozialen Persönlichkeitsstörung liegt das Konstrukt der Psychopathie zugrunde, das durch Cleckley eingehend klinisch beschrieben und durch Hare weitergehend operationalisiert wurde. In Langzeitstudien wurde als Prädiktor für diese Form der moralischen Fehlanpassung das Ausmaß antizozialen und impulsgestörten Verhaltens in der Kindheit herausgearbeitet. Diese Entwicklung bahnt sich hierbei vor dem 15. Lebensjahr an (Fiedler, 2007) Eine genetische Disposition kann angenommen werden, wobei die Anteile der Erb- und Umwelteinflüsse letztlich nicht quantifiziert werden können (Fiedler, 2007). Strafrechtlich wird die Dissoziale Persönlichkeitsstörung als andere seelische Abartigkeit unter §20 StGB gewürdigt. [9]

Antisozialisation

Laut Eysenck können durch Antisozialisation Kinder dissoziales Handeln von dissozialen Eltern oder einem subkulturellen sozialen Umfeld erlernen (in Klemm, 2003). Diese Erklärung kommt ohne eine Entwicklungsstörung oder dissoziale Temperamentsprädisposition aus. Jurkovic und Prentice (in Fiedler, 2012) unterscheiden diese Gruppe in zwei Subgruppen, die psychopathischen Delinquenten (die nur wenig Gewissensbisse zeigen) und sogenannten neurotische Delinquenten (die unter Angst, Schuldgefühlen und Depression leiden).

Literatur

  • Amelang, M. (1986). Sozial abweichendes Verhalten, Entstehung, Verbreitung, Verhinderung. Berlin, Springer. ISBN 3540169652
  • Becker, G. (2011). Kohlberg und seine Kritiker: Die Aktualität von Kohlbergs Moralpsychologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. ISBN 3531930494
  • Berk, L. (2011). Entwicklungspsychologie (5. aktualisierte Aufl). München: Pearson-Studium. ISBN 9781283736329
  • Carney, D. (2010). Decision making and testosterone: when the ends justify the means. Journal of experimental social psychology, 46(4), 668-671.
  • Eisenberg, N. (2000). Emotion, regulation, and moral Development. Annual Review of Psychology, 51, 665-697.
  • Fiedler, P. (2007). Persönlichkeitsstörungen. Weinheim: Beltz. ISBN 362127622X
  • Garz, D. (2006). Sozialpsychologische Entwicklungstheorien: Von Mead, Piaget und Kohlberg bis zur Gegenwart. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. ISBN 3531231588
  • Keller, M. (2005). Moralentwicklung und moralische Sozialisation. In D. Horster & J. Oelkers (Hrsg.), Pädagogik und Ehtik (pp. 149-172). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. ISBN 3810039764
  • Klemm, T. (2003). Delinquenz, Haftfolgen und Therapie mit Straftätern. Leipziger Wissenschaftsverlag. ISBN 978386660976
  • Kirchner, F. (2013). Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner. ISBN 9783787325009
  • Kohlberg, L. (2014). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. ISBN 3518288326
  • Li, J. (2002). Learning models in different cultures. New directions for Child and Adolescent Development, 96, 45-63.
  • Mietzel, G. (2003). Pädagogische Psychologie des Lernens und Lehrens. Göttingen: Hogrefe. ISBN 3801718069
  • Piaget, J. (1981). Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. ISBN 3518076272

Weblinks