Antisoziale Persönlichkeitsstörung

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Antisoziale Persönlichkeitsstörung

Die antisoziale Persönlichkeitsstörung ist gekennzeichnet durch Mißachtung sozialer Normen, geringe Gefühlstiefe und fehlendes Mitgefühl (Emphathie) gegenüber Mitmenschen und Tieren. Das Verhalten ist auf den eigenen Vorteil ausgerichtet, negative Konsequenzen führen nicht zu Verhaltensänderungen. Impulsive Ausbrüche, Aggressionen und instrumentalisierte Gewalttätigkeit sind häufig. Laut DSM-IV sind 4% der amerikanischen Männer und 1% der amerikanischen Frauen betroffen. Synonyme sind dissoziale Persönlichkeitsstörung, Psychopathie bzw. Soziopathie (Davison und Neale, 1998).


Allgemeines

Im 19. Jahrhundert beschrieb der Franzose Philippe Pinel einen Patienten, der zwar in seinen Augen verrückt war, jedoch keine der üblichen Symptome des Wahnsinns zeigte. Er bezeichnete die Krankheit als manie sans délire. Aufmerksam auf diese Krankheit wurde er durch einen cholerischen Aristokraten, der ein Pferd geschlagen, einen Hund zu Tode getreten und eine Bäuerin in einen Brunnen geworfen hatte. Der englische Psychiater James Prichard beschrieb 1835 eine Krankheit, die er moralischen Wahnsinn nannte. Beide Wissenschaftler bezogen sich auf eine Persönlichkeitsstörung, die heutzutage als antisoziale Persönlichkeitsstörung beschrieben wird. Synonym gebrauchte Bezeichnungen für diese Krankheit sind Psychopathie bzw. Soziopathie. Das Diagnostic and Statistical Manual der American Psychiatric Association, das DSM-IV beschreibt die antisoziale Persönlichkeitsstörung als Konzept mit zwei Hauptkomponenten. Die erste bezieht sich auf Verhaltensstörungen im Alter vor 15 Jahren, wie Schuleschwänzen, Weglaufen von Zuhause, häufiges und grundloses Lügen, Diebstahl, Brandstiftung, Körperverletzung, Vandalismus und ähnliche antisoziale Verhaltensweisen. Der zweite Teil der DSM-IV-Definition verweist auf die Fortsetzung dieses Verhaltens im Erwachsenenalter, wie nur zeitweiliges Arbeiten, Gesetzesübertretungen, Gereiztheit, körperlich aggressives Verhalten, Nichtbezahlung von Schulden und Rücksichtslosigkeit. Der Betroffene handelt impulsiv, plant nicht im voraus und wird von unangemessenen Motivationen getrieben. Bestimmte Verhaltensweisen werden impulsiv ausgeführt und dienen scheinbar vor allem dem Nervenkitzel und der Spannung. Der Betroffene zeigt keinen Respekt vor der Wahrheit und keine Reue für Verfehlungen, keine Scham. Ein weiteres Symptom ist Gefühlsverarmung sowohl positiver als auch negativer Emotionen. Das Fehlen negativer Emotionen macht es Psychopathen unmöglich, aus Fehlern zu lernen. Das Fehlen positiver Emotionen verhindert den Aufbau einer verantwortlichen Beziehung zu Mitmenschen. Psychopathen können außergewöhnlich charismatisch sein und manipulieren andere zu ihrem persönlichen Vorteil. Schätzungsweise 4 % der amerikanischen Männer und 1 % der amerikanischen Frauen sind von der Krankheit betroffen. Dabei scheint die Krankheit unabhängig vom sozialen Status des Betroffenen aufzutreten. Manager, Politiker und Ärzte sind ebenso betroffen wie Klempner, Seeleute, Prostituierte und Barkeeper (Davison und Neale, 1998).


Genetische Disposition

Anhand von Adoptionsstudien in Dänemark konnte gezeigt werden, daß mehr Psychopathie bei Blutsverwandten von Psychopathen festgestellt werden kann, als bei deren Adoptivverwandten (Hutchings & Mednick, 1974; Mednick et al., 1984; Schulsinger, 1972). Amerikanische Untersuchungen von Adoptivkindern, deren biologische Eltern antisoziale Persönlichkeitsstörungen aufwiesen, erbrachten ähnliche Resultate (Davison & Neale, 1998). Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß es eine gewisse genetische Prädisposition für diese Krankheit gibt.


EEG

Es treten EEG-Abnormitäten verschiedenster Art auf. Einige der Abnormitäten deuten darauf hin, daß es eine neurobiologische Grundlage für das Lernen aus Fehlern gibt, die bei Psychopathen gestört ist (Dikman und Allen, 2000; Kopyciok, 2005). In vierzehn Studien wurden insgesamt 1500 Psychopathen untersucht und Elektroenzephalogramme von ihren Gehirnaktivitäten erstellt. In dreizehn dieser Studien wiesen 31-58 % der EEGs Abnormitäten auf, die hauptsächlich aus einer niedrigen Wellenfrequenz bestanden, welche für Säuglinge und Kleinkinder typisch ist, bei Erwachsenen normalerweise jedoch nicht auftritt. Diese Anomalien waren jedoch nicht auf bestimmte Hirnbereiche beschränkt. Auch neuere Untersuchungen fanden gehäuft EEG-Abnormitäten. Nicht alle Psychopathen weisen EEG-Abnormitäten auf. Es ist unklar, inwieweit sich Psychopathen mit EEG-Anomalien von jenen unterscheiden, bei denen diese Abnormitäten nicht auftreten. Außerdem traten die EEG-Abnormitäten nur in bestimmten Situationen auf, vor allem dann, wenn die Probanden ruhten. Während eines spannenden Videospiels unterschied sich die Hirnaktivität von Psychopathen nicht von der gesunder Probanden. Die Interpretation dieser Befunde bleibt vorerst Spekulation (Davison und Neale, 1998).


Dysfunktion in den neuronalen Verschaltungen der Emotionsregulation

Emotionen werden im menschlichen Gehirn normalerweise von einem komplexen Kreislauf, bestehend aus Orbitofrontalem Cortex (OFC), Amygdala, Gyrus cinguli anterior (ACC) und verschiedenen anderen damit verbundenen Regionen, kontrolliert. Funktion und Struktur dieser Verschaltungen werden sowohl von genetischen als auch von Umweltfaktoren beeinflußt. Davidson et al. 2000 nehmen an, daß impulsive Aggression als Konsequenz einer Fehlfunktion in diesem Kreislauf auftritt.


Die Neurobiologie von Ärger und Aggression

Aggressives Verhalten, ein weiteres wichtiges Merkmal der antisozialen Persönlichkeitsstörung, wird bei vielen Tierarten und beim Menschen mit dem Neurotransmitters (Botenstoff im Gehirn) Serotonin (5-HAT) in Verbindung gebracht. Studien unterstützen die Ansicht, daß eine verminderte Konzentration des Serotoninmetaboliten 5-HIAA (5-hydroxyindoleacetic acid) in der cerebrospinalen Flüssigkeit (Rückenmarkswasser) mit menschlicher Aggression und Gewalt korreliert ist. Ein niedriger 5-HIAA-Spiegel wurde bei Personen gemessen, die gewalttätig waren in Verbindung mit Alkoholmißbrauch, bei U.S. Marines, die wegen exzessiver Gewalttätigkeit aus der Armee ausgeschlossen wurden, bei Kindern, die Tiere folterten, und bei Kindern, deren schlechte Impulskontrolle zu zerstörerischem Verhalten führte (Rosenzweig et al., 1999). Auch bei aggressiven psychiatrischen Patienten war das 5-HIAA-Level reduziert, insbesondere bei impulsiv-gewalttätigen Männern. Bei impulsiven Gewalttätern und impulsiven Brandstiftern war das 5-HIAA-Level im Vergleich zu nicht impulsiv handelnden Gewalttätern niedriger (Davidson et al., 2000). Bestimmte Arten von Selbstmord, soweit sie gewalttätigen Charakters sind, gehen ebenfalls mit einem niedrigen 5-HIAA-Spiegel einher. Ein wichtiges, bindungsspaltendes Enzym in der Serotoninbiosynthese ist die Tryptophanhydroxylase (TPH). Das Gen, welches dieses Enzym codiert, ist polymorph. Probanden, die ein TPH A218C U Allel besaßen, erhielten signifikant höhere Meßergebnisse in bezug auf ihre Aggressivität, einschließlich der Tendenz zu unprovozierten Wutausbrüchen, als Probanden, die homozygot für das A218C L Allel waren (Davidson, 2000).


Vermeidungslernen und Strafe

Wie schon an anderer Stelle erwähnt, haben Psychopathen offenbar Probleme, aus Erfahrung zu lernen. Sie machen keinen Versuch, negative Konsequenzen aus sozialem Fehlverhalten zu meiden. Sie sind außerdem nicht neurotisch und nur selten ängstlich. Lykken (1957) vermutet, daß Psychopathen aufgrund dieses geringen Angstniveaus so ungehemmt in der Lage sind, antisoziale Verhaltensweisen zu zeigen. Studien (Dikman und Allen, 2000; Kopyciok, 2005) belegen, daß Störungen in neuronalen Kreisläufen im Gehirn für das gestörte Vermeidungslernen verantwortlich sind, vermutlich in Verbindung mit gestörten Neurotransmittersystemen.


Die Rolle der Familie

Inkonsistente oder völlig fehlende Disziplinierungsmaßnahmen und antisoziales Verhalten des Vaters sind gute Prädiktoren für psychopathische Verhaltensweisen im Erwachsenenalter. Es muß allerdings kritisch angemerkt werden, daß schlechte Sozialisationsbedingungen für eine ganze Reihe klinischer Syndrome verantwortlich gemacht werden, einschließlich des delinquenten, neurotischen und sogar psychotischen Verhaltens. Und schließlich entwickeln viele Kinder aus ähnlich gestörten Familien überhaupt keine Verhaltensstörungen (Davison und Neale, 1998).

Die Persönlichkeitsentwicklung bei Psychopathen

Studien zufolge können sich insbesondere aus unterkontrollierten Dreijährigen impulsive, unzuverlässige, antisoziale junge Erwachsene entwickeln. Bei dem „unterkontrollierte Typ“ handelt es sich um Kinder, die impulsiv, rastlos, ablenkbar, unfähig, sich den Erfordernissen der Situation anzupassen und labil in ihren emotionalen Reaktionen sind. Im Alter von 5, 7, 9 und 11 Jahren zeigen unterkontrollierte Kinder mehr antisoziale Verhaltensweisen wie Lügen, Ungehorsam und Kämpfen als normale Kinder. Mit 13 und 15 Jahren leiden sie außerdem auch stärker unter emotionalen Problemen. Im Alter von 18 Jahren beschreiben diese Jugendlichen, daß sie nur eine geringe Selbstkontrolle an sich wahrnehmen und keine Anstalten machen, Gefahren und Aufregung aus dem Weg zu gehen. Sie sind impulsiv und ständig auf der Suche nach Nervenkitzel. Sie sagen außerdem, daß sie es genießen, anderen Leuten Unannehmlichkeiten zu bereiten und entsprechend aggressiv sind. Außerdem fühlen sie sich oft falsch behandelt, betrogen und verraten von anderen und sehen sich selbst in der Rolle des Opfers (Caspi, 2000).


Zusammenfassung

Die antisoziale Persönlichkeitsstörung kann nicht allein auf eine Ursache zurückgeführt werden. Es scheinen viele Faktoren zusammenzuwirken, wobei unter anderem den polymorphen Genen, die das TPH codieren, und daraus resultierenden Veränderungen im Regulationskreislauf der Emotionen Schlüsselrollen zugesprochen werden können. Diese Veränderungen scheinen sich in einem gestörten Serotoninhaushalt niederzuschlagen, der mit impulsiver Aggression assoziiert wird. Solche Veränderungen in der Emotionskontrolle führen zwangsläufig auch zu Verhaltensänderungen, welche sich letztlich zum Krankheitsbild der antisozialen Persönlichkeitsstörung zusammenfügen können. Außerdem spielen Umweltfaktoren wie eine gestörte Sozialisation und ungünstige Erziehungsbedingungen eine Rolle. Der Regulationskreislauf der Emotionen wird von frühen sozialen Einflüssen erheblich beeinflußt (Davidson et al., 2000). Eine Behandlung dieser Persönlichkeitsstörung kann nicht allein auf das Verhalten des Patienten abzielen. Für eine erfolgreiche Therapie müssen auch die organischen Ursachen der Krankheit aufgespürt und behandelt werden. Eine Kombination aus pharmakologischen und psychologischen Strategien wird letztlich vielleicht am erfolgreichsten sein.


Literatur

  • Caspi, A. (2000). The Child Is Father of the Man: Personality Continuities From Childhood to Adulthood. Journal of Personality and Social Psychology, Vol. 78, No.1, S. 158-172.
  • Dikman, Z. V., & Allen, J. J. B. (2000). Error monitoring during reward and avoidance learning in high- and low-socialized individuals. Psychophysiology, 37, 43-54.
  • Davidson, R.J., Putnam, K.M., Larson, C.L. (2000). Dysfunction in the Neural Circuitry of Emotion Regulation – A Possible Prelude to Violence. Science, Vol. 289, S. 591-594.
  • Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
  • Hutchings & Mednick, 1974 (zitiert nach Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.)
  • Kopyciok, P. (2005). Effects of Socialization on the ERN. Diplomarbeit. Unveröffentlicht
  • Lykken, 1957 (zitiert nach Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.)
  • Mednick et al., 1984 (zitiert nach Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.)
  • Rosenzweig, M.R., Leiman, A.L., Breedlove, S.M. (1999). Biological Psychology. An Introduction to Behavioral, Cognitive and Clinical Neurosciene. Sunderland: Sinauer Associates, Inc.
  • Schulsinger, 1972 (zitiert nach Davison, G.C., Neale, J.M. (1998). Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union.)