Könnten (und sollten) Gefängnisse abgeschafft werden?

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Können (und sollten) Gefängnisse abgeschafft werden?

Das moderne Gefängnis ist der Ort, an dem die Freiheitsstrafe zuhause ist. Es ist nicht der einzige Ort, an dem Freiheit entzogen wird, es ist also bei weitem nicht das einzige Einschließungsmilieu: man denke an die geschlossenen Erziehungsheime, die geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Krankenhäuser, an Quarantäne-Stationen zur Verhinderung der Verbreitung ansteckender Krankheiten oder an all die Formen des Freiheitsentzugs, die zwar ähnlich aussehen mögen wie Bestrafungen, in Wirklichkeit aber (meist) anderen Zwecken dienen. In der Untersuchungshaft geht es nicht darum, dem Beschuldigten ein Übel zuzufügen, sondern es wird ihm ein Übel zugefügt, weil die Haft zur Vermeidung von Flucht oder Verdunkelung als erforderlich gilt; in der Abschiebehaft geht es um die ordnungsgemäße Durchführung der Abschiebung, die ihrerseits wie eine Bestrafung empfunden werden mag, offiziell aber lediglich eine nicht-punitive Verwaltungsmaßnahme darstellt. In geheimdienstlichen black sites wiederum geht es nicht um Bestrafung, sondern um die Gewinnung von Informationen (vor allem im Geheimgefängnissen wiederumDie von Michel Foucault so eindringlich beschriebene Geburt des Gefängnisses Freiheitsstrafe


Britischer Innenminister: Krankenhäuser könnten abgeschafft werden, wenn es keine Krankheiten mehr gäbe.

Annahmen: Gefängnisse sind die (beste) Antwort auf Kriminalität (die wir haben). Wir müssen die Kriminalität bekämpfen, nicht die Gefängnisse.


Gibt es andere (und bessere) Antworten auf Kriminalität?

Ja, die gibt es. Restorative Justice und Transformative Justice.


Frage: Wie steht es da mit der Sicherheit der Öffentlichkeit vor wirklich gefährlichen Gefangenen?

Wie viele wirklich gefährliche Straftäter gibt es? Wo gibt es Schätzungen?

Einige Individuen müssen permanent kontrolliert werden. Elektronisch? Zellen?

Können die ambulanten Alternativen mit diesen Leuten auch umgehen oder ist das Gefängnis da unverzichtbar?

Braithwaite: schwierige Fälle sind auch besser zu bewältigen als gedacht.

Der Rest vom Rest: wie viele sind das? Und: müssen sie eingesperrt werden? Und: darf es auch Luxus sein? Muss es Luxus sein? Und: ist das dann noch Gefängnis?

Confinement ist nicht immer dasselbe wie Gefängnis.

Quarantäne. Heilanstalten. Demenz. Schutz vor Risiken für sich und andere.

Was ist die Gefängnisstrafe im Vergleich zu anderen Arten der Einsperrung? Intentionale Zufügung eines Übels als Reaktion auf eine Handlung, die in der Vergangenheit liegt. Und die auch zugleich noch andere Funktionen erfüllen soll, wie z.B. Schutz vor späteren Taten.

Abschaffung des Gefängnisses bedeutet: Abschaffung der Freiheitsstrafe = Abshcaffung des Freiheitsentzugs als Strafe. Nicht betroffen davon ist der Freiheitsentzug zu anderen Zwecken, also z.B. in Psychiatrischen Krankenhäusern zum Schutz der Individuen vor sich selbst und/oder zum Schutz der Allgemeinheit.

Das ist ein gravierender Unterschied. Man kann auch sagen: die Leute, die nur das Gefängnis abschaffen wollen, sind Gefangene ihrer Spezialisierung. Mark Brown: man muss auf die levels of incarceration im Sinne von Gefängnis plus Psychiatrien blicken und dann sieht man, dass selbst die mass incarceration heute noch nicht auf die aggregate levels of incarceration kommt, die in den 1940er existierten. Siehe: Why Prison?, Kapitel 8.

Der Kampf gegen den Freiheitsentzug insgesamt, also die unfreiwillige Internierung, erfordert eine ganz andere normative Begründung (Skandalisierung des unfreiwilligen Freiheitsentzugs) als die Kritik der Freiheitsstrafe (= Kritik einer spezifischen Begründung des Entzugs der Freiheit, bzw. Kritik der Verknüpfung von Verbrechen und Strafe).

Der Freiheitsentzug als Schutz der Allgemeinheit ist quantitativ und qualitativ neu zu bestimmen. Geeignetheit und Erforderlichkeit. Das ist ein eigenes Thema. Die Psychiatriereform ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Vorstellungen über die Notwendigkeit von Freiheitsentzug zu Zwecken des Schutzes der Individuen selbst und der Allgemeinheit verändert haben - auch und nicht zuletzt durch die Entwicklung der Psychopharmaka und den Ausbau ambulanter Hilfen.

Es geht also nur um die Abschaffung des Freiheitsentzugs als Strafe für Delikte. Die Frage ist: ist das Gefängnis wirklich so alternativlos wie es der britische Innenminister dargestellt hat?

Freiheitsentzug als Strafe für Delikte: als gesellschaftliche Institution betrachtet

In Institutionen wird man hineingeboren. Die soziale Welt besteht aus ihnen. Schule, Eltern, Familie, Kirche, Gefängnisse: alles erscheint natürlich. Wird erst später im Leben - wenn überhaupt - problematisiert. Und in seiner Gemachtheit und Veränderbarkeit erkannt. Institutionen verändern sich (sehr) langsam. Aber sie können sich verändern. Sexualität: Umgang mit Homosexualität. Uneheliche Kinder: Umgang mit ihnen. Tendenz: Gleichstellung. Akzeptanz von Unterschieden: Pluralismus, Differenz.

Solange nicht die Rechte Dritter verletzt werden. Also nicht Anerkennung der Differenz von frei/unfrei, da dadurch die Rechte der Unfreien verletzt werden. Sklaverei wird nicht akzeptiert. War eine Institution, wurde aber abgeschafft.

Wie ist das nun mit dem Gefängnis als Institution?

Es kommt uns, wie alle Institutionen, natürlich vor. Aber es ist eine Erfindung, die - je nachdem - gar nicht so alt ist. Als spezifische Reaktion auf Straftaten ist es nicht viel älter als 200 Jahre.

Wie können wir herausfinden, ob sich die Institution ihrem Ende nähert?

1. Man könnte mit Richard Gott einen ganz einfachen Weg wählen: wenn wir nichts wissen, sollten wir annehmen, dass wir nicht an einer exponierten Stelle der Entwicklungsgeschichte stehen, also eher im Mittelbereih als an einem Extrempunkt. Wir stehen nicht ganz am Anfang (im ersten Prozent) der Lebensdauer, aber auch nicht ganz am Ende (es fehlt nur noch 1% der Lebensdauer). Vielleicht stehen wir eher so in der Mitte, das wäre dann der Hinweis auf "still 200 years to go".

2. Man könnte auch die Kritik am Gefängnis als Indiz für seinen zunehmenden Anachronismus nehmen. Je intensiver die Kritik wird, desto deutlicher ist die Zeit darüber hinweggeschritten. Die Kritik ist nicht nur ein Faktor der Erzeugung von Bewegung, sondern auch ein Indikator für eine zunehmende Obsoletheit. Eule der Minerva.

  • Foucault: 1800-2000. 200 Jahre Gefängnis. Davor: gab es das auch schon, aber weniger differenziert und mit unspezifischer Zielsetzung. Die Form des Zellengefängnisses war folgenden Überlegungen geschuldet: man braucht Strafe, aber man will keine peinlichen Strafen, sondern die Leute bessern. Zuerst durch Buße, Reue, Umkehr (Religion), dann durch Disziplin, soziale Bindungen, Resozialisierung.
Probleme: das Gefängnis bereitet auf das Gefängnis vor, nicht auf die Freiheit. Prisonisierung, Anpassung an die totale Institution. Incapacitation for social life. Bis heute ist der Übergang von der Haft in die Freiheit der neuralgische Punkt mit inadäquater struktureller Kopplung.
Nebenbei: bis heute weiss man so gut wie nichts über die Wirkung der Freiheitsstrafe auf das weitere Leben der Betroffenen. Wie wirkt sie sich auf Arbeit, Freizeit, Familienleben und Freundeskreise, Gesundheit, Lebenserwartung und Lebensstandard und Lebensqualität aus? Selbst über die Rückfälligkeit - das große Thema - weiß man in Wirklichkeit wenig. Dunkelfeld.
No Prison in France and Italy.
Sonderfall der funktionalististischen Gesellschaftskritik: Wacquant (2001), in gewisser Weise vielleicht auch Mathiesen, kritisiert die Politik der Masseneinsperrung (genau wie the new jim crow) als funktionales Äquivalent der Sklaverei und des Ghettos. Einerseits Kritik, andererseits fordert er aber nicht die Abschaffung, weil das Gefängnis ohne Abschaffung dieses Gesellschaftgssystems nicht möglich erscheint. Verstärkung dessen, was man kritisiert, durch Betonung von dessen (angeblicher) Funktionalität. Ähnlich auch Christie: Crime control als industry.

3. Man könnte auch aus einer Analyse der Gesellschaftsentwicklung und insbesondere der sozialen Kontrolle Rückschlüsse auf den Grad der Notwendigkeit des Gefängnisses ziehen. Dann käme man evtl. zu ganz anderen Schlüssen als Wacquant. Deleuze: das Gefängnis wartet auf seine Abschaffung.

Allerdings betont Deleuze auch die Grenzen der Reichweite seines Befundes. In den armen Ländern gibt es Lager statt Elektronik. Hier Beispeile für Massenabfertigung von Bootsflüchtlingen bis zu Massenhinrichtungen und Masseneinsperrungen in überfüllten Zellen. Kenia. Brasilien.
Also Reichweite beachten. Das Gefängnis kann und sollte abgeschafft werden. So wie die Strafen für Homosexualität abgeschafft wurden, aber eben nur in der zivilisierten Welt. Wie die Todesstrafe nur in Europa abgeschafft wurde und nicht in Saudi-Arabien.

Und immerhin ist die Sklaverei als Institution weltweit abgeschafft. Das gibt Hoffnung. Könnte mit Gefängnis auch passieren. Aber wie dem auch sei: Abschaffung beginnt bei uns zuhause. Dann sehen wir weiter: Lernen am Modell oder auch nicht. Aber wir wollen in Gesellschaften ohne Todesstrafe leben, in zivilisierten Gesellschaften. What kind of society do we want to live in?






Weblinks und Literatur


Siehe auch