Gewaltkarrieren

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"Ein Begreifen der Gewalt ist nicht in irgendwelchen "Ursachen" jenseits der Gewalt zu finden. Der Schlüssel zur Gewalt ist in den Formen der Gewalt selbst zu finden!'" (Trutz von Trotha 1997, S. 20, vgl. auch Trotha 1995, Trotha/ Schwab-Trapp 1996).

Einführung

Ferdinand Sutterlüty

Ferdinand Sutterlüty (*1962 in Egg/ Österreich) entwickelt mit seiner unter dem Titel "Gewaltkarrieren" veröffentlichten Studie eine biografisch orientierte Theorie der Jugendgewalt. Insbesondere geht er der immer wieder in der Öffentlichkeit aufgeworfenen Frage nach, wie es möglich sein könne, dass Jugendliche zu derart grausamen Gewalthandlungen fähig sind. Dabei bedient er sich der qualitativen Forschungsmethode der "Grounded Theory" (gegenstandsbezogene Theoriebildung) und befragt 18 schwerst mehrfach gewaltauffällige Berliner Jugendliche, darunter 3 unvorbelastete Jugendliche zum Vergleich: Mit diesen Jugendlichen führt er je zwei leitfadengestützte Interviews. Aus der Perspektive der Biografieforschung nähert sich Sutterlüty jugendlichen Lebenswelten, durch die sich Demütigung, Vernachlässigung, Verunsicherung, Gewalt und Gleichgültigkeit wie ein roter Faden ziehen (Verlaufskurve des Erleidens). Davon ausgehend beschreibt er einen Verlaufsprozess, der nicht nur von bewussten Entscheidungen der Jugendlichen geprägt ist, sondern auch von zwanghaften Verhaltensweisen und tragischem Erleiden, von Zufällen, Schüben und Kehrtwendungen. Mit dem Begriff der epiphanischen Erfahrung macht Sutterlüty nachvollziehbar, wie Menschen nach Viktimisierungsprozessen während der Kindheit durch Gewalterfahrungen einen identitätsstiftenden Umschlag hin zur eigenen Gewalttäterschaft vollziehen. Bereits während der Verlaufskurve des Erleidens dringen Handlungsschemata der Gewaltausübung in die Gedankenwelt Jugendlicher ein, da die fortwährenden familiären Erniedrigungserlebnisse den Wunsch nähren, irgendwann einmal zur Gegengewalt auszuholen, um sich so der Ohnmachtsgefühle zu entledigen und Handlungsmacht zurückzugewinnen (Projektionen der Gegengewalt, Sutterlüty 2002: 170 ff.). Durch einen tatsächlich ausgeführten Gewaltakt gegen einen Peiniger können Offenbarungsmomente beim Jugendlichen erlebbar werden, die ihn mit einem positiven und in dieser Form nie gekannten Selbstwertempfinden erfüllen. Dies kann ihn dazu bringen, ohnmachtsbedingten Hass immer wieder aufs Neue mit Gewalttaten kompensieren zu wollen. Handlungsschemata der Gewaltausübung können sich so verfestigen. Diese Herangehensweise grenzt sich ab von gesellschaftstheoretischen Erklärungen, sowohl in sozialstruktureller als auch kulturtheoretischer Hinsicht. (Karl F. Schumann: "Wenn kritische Kriminologen sich mit Gewalt auseinandersetzen, dann lieber mit dem Diskurs darüber, als mit dem Geschehen selbst", vgl. Sutterlüty 2002: 14).

Etymologie

  • Gewalt:

Die Ursprünge des Wortes "Gewalt" gehen zurück auf die indogermanische Wurzel "val" (aus dem Lat.: "valere"). Dieses lateinische Verb (in der germanischen Übersetzung: "giwaltan", "waldan") stand ursprünglich für "Verfügungsfähigkeit besitzen" und "Gewalt über etwas haben". Der Begriff erweiterte sich aber, so dass er später auch für "Kraft/ Macht haben" und "über etwas verfügen und beherrschen können" stand. Der Gewaltbegriff des Germanischen grenzt sich im Vergleich zum Römischen dadurch ab, dass er nicht als Rechtsterminus eingesetzt wurde, sondern im Gegenteil, den vom Recht ausgesparten Bereich der Freiheit meinte. So blieben im Deutschen "Macht" und "Gewalt" lange Zeit austauschbare Begriffe, bis sich "Macht" von "Gewalt" darin unterschied, dass mit ihr schließlich die potentiellen oder realen körperlichen und seelischen Kräfte einer Person oder Sache gemeint waren und mit "Gewalt" die Überwindung eines Widerstandes, ein Zwang beschrieben wurde.

  • Karriere

Der Begriff der Karriere leitet sich ursprünglich vom lateinischen Wort "carrus" = "Wagen" ab und meint im Wortsinne schlicht Fahrstraße. Umgangssprachlich ist dieser Begriff in der Regel mit einer bestimmten Richtung, dem Weg nach oben, gekoppelt und wird in Verbindung mit Zusammenhängen aus der Berufs- und Arbeitswelt gebraucht und entspricht so dem französischen Begriff "carrière".

Abgrenzung vom sozialstrukturellen Erklärungstyp:

Gewalttätigkeit von Jugendlichen wird meist, so resümiert Sutterlüty, als Folge von tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen und Modernisierungsprozessen gesehen. Vertreter dieses Ansatzes gehen auf wachsende soziale Ungleichheit, die Auflösung sozialer Bindungen durch Desintegrationsprozesse sowie auf die Ausgrenzung ganzer Gruppen und Stadtteile ein (vgl. Dubet/ Lapeyronnie, 1994). Gegenwärtige Formen der Jugendgewalt seien Reaktionen der Modernisierungsverlierer (vgl. Kronauer/ Häussermann, Heitmeyer, 1994, Heitmeyer/ Collmann et al., 1995).

Abgrenzung vom kulturtheoretischen Erklärungstyp:

Phänomene der Jugendgewalt werden hier laut Sutterlüty als Folge allgemeiner Einstellungen und normativer Orientierungen begriffen. Ein Erklärungsansatz in diesem Sinne verweist auf die Entwicklung "durchkapitalisierter" westlicher Gesellschaften, so dass bei immer größerem Leistungs- und Erwartungsdruck auf dem Arbeitsmarkt, Angehörige fremder Ethnien zunehmend als Konkurrenten empfunden würden, die gegebenenfalls mit Gewalt zur Aufrechterhaltung des eigenen status quo bekämpft werden (vgl. Held/ Horn et al., 1992, Hoffmeister/ Sill, 1992). Ein anderer Erklärungsansatz auf diesem Felde geht auf geschlechtsspezifische Merkmale zurück: Die im wesentlichen durch männliche Jugendliche begangenen Gewalttaten werden mit einer in der westlichen Welt tief verankerten männlichen und ethnozentrischen "Dominanzkultur" erklärt (vgl. Rommelspacher 1993 und 1995, vgl. Ebrecht, 1996). Eine Variante dieser Erklärung erfolge mit dem Begriff der "hegemonialen Männlichkeit". Hierbei erklärt J. Kersten die Gewalt männlicher Unterschichtsangehöriger mit dem Erstreben des kulturellen Leitbildes des Mannes, wonach sich dieser als Nachwuchserzeuger, Beschützer und Familienfürsorger sehe, was normkonform nicht erreichbar oder zu verteidigen ist. Eine weitere Ursache von Jugendgewalt wird hier in einem kulturellen Mythos gesehen, der darauf beruht, dass Jugendlichkeit mit Gewalt, Todesmut und Opferbereitschaft verknüpft wird (vgl. Macho, 1996).

Definition/Beschreibung von Gewaltkarrieren

Der Gewaltbegriff bezieht sich in der Untersuchung von Sutterlüty auf physische Gewalt (Sutterlüty 2002: 16). Der Begriff der Karriere beschreibt dem Verfasser zufolge einen Verlaufsprozess, der, neben bewussten und geplanten Phasen, auch solche der zeitweiligen eigenen Handlungsunfähigkeit, der biografischen Brüche und des Hin-und-Hergeworfen-Seins enthält. Damit grenzt er sich ab von der traditionellen Idee einer beruflichen Laufbahn, die einem institutionell vorgefertigten Struktur- und Handlungsmuster folgt. Bereits Edwin M. Lemert habe 1967 Wert auf die Unterscheidung zur Berufswelt gelegt und davor gewarnt, den Begriff der Karriere leichtfertig so zu verwenden, dass auch von "kriminellen Karrieren" gesprochen werden kann. Denn dies suggeriere eine allzu große Vorherbestimmtheit mit festen Entwicklungsstufen, die Kriminelle strategisch planend durchliefen. In diesem Zusammenhang ist laut Sutterlüty der von David Matza als "drifter" beschriebene Typ des Jugendlichen relevant, der nach und nach in delinquente Subkulturen hineinrutsche. Bei entsprechenden jungen Delinquenten habe Matza einen "mood of fatalism" festgestellt, der dadurch gekennzeichnet sei, sich selbst als Effekt äußerer Kräfte und nicht als jemanden zu sehen, der noch aktiv in der Lage ist, auf seine Umwelt einzuwirken. Dieses passive Dahintreiben und das gleichzeitige Entgleiten willentlicher Handlungssteuerung "bekämpften" Jugendliche oft mit der Begehung von Straftaten, um ihre Handlungsmacht und Selbstwirksamkeit wieder herzustellen. So schaffen sie sich eine Möglichkeit zur Abkehr vom "mood of fatalism" und zur Erlangung eines "mood of humanism". Verlust und Wiedergewinnung von Handlungsmacht seien entwicklungsbestimmende Themen in den Lebenswelten junger Gewalttäter. Dieses permanente Oszillieren zwischen wirkmächtigem Handeln und Kontrollverlust lasse sich insofern auf Gewaltkarrieren beziehen, als es diese Punkte dort auch gebe. Allerdings verliefen diese Karrieren nicht so sehr im ständigen Wechsel zwischen diesen beiden Punkten, sondern vielmehr fänden diese sich wieder in zwei voneinander getrennten Phasen (Sutterlüty 2004: 267 ff.):

1. Verlaufskurven des Erleidens

Die Gewaltkarriere

Die erste Phase (von Matza unerwähnt gelassen) stellt das Erleiden familiärer Gewalt und Missachtung dar, während dessen Ohnmachts- und Erniedrigungserfahrungen bestimmende Größen sind.

2. Handlungsschemata der Gewaltausübung

Darauf folgt die zweite Phase der Gewaltausübung, die bestimmt ist vom Agieren, bzw. von der Rückgewinnung von Handlungsmacht und Anerkennung. Die Verlaufskurve des Erleidens familiärer Erfahrungen wird also vom Handlungsschema der Gewaltausübung abgelöst. Gleichwohl tragen beide Phasen gewisse Momente der jeweils anderen in sich. Mit dem von Norman K. Denzin geprägten Begriff der "Epiphanie" lässt sich näher bestimmen, was typischerweise für den Umschlag von der Opfer- zur Täterrolle ausschlaggebend ist. So sind laut Sutterlüty drei Elemente konstitutiv für eine Gewaltkarriere: Verlaufskurven familiärer Misshandlung und Missachtung, epiphanische Erfahrungen des Rollentausches sowie Handlungsschemata der Gewalt. Diese drei Elemente von Gewaltkarrieren machen darauf aufmerksam, dass Gewaltakte jugendlicher Wiederholungstäter keine isolierten Ereignisse darstellen, sondern untereinander eine Verbindung aufweisen und eingebunden sind in einen erkennbaren Entwicklungsprozess. Das darf jedoch nicht zu der Annahme führen, dass das eine zwangsläufig auf das andere folge. So fungieren im Sinne dieser Gewaltkarrieren Ereignisse und Handlungsfolgen als lebensgeschichtliche Weichen und soziale Sperren. Eine Gewaltkarriere ist eine pfadabhängige, biografische Entwicklung (Sutterlüty 2004: 268).

Familiäre Gewalt und Ohnmacht

Gewalttäter sind selbst Opfer von Gewalt. Häufig ist das Aufwachsen der Kinder beherrscht vom persönlichen Erleiden von Gewalt, woraus Gefühle der Ohnmacht, des physischen Ausgeliefertseins und der Wehrlosigkeit hervorgehen. Gleiches geschieht beim Miterleben von Gewalt zwischen Familienangehörigen. Aufgrund der Unberechenbarkeit der Gewaltausbrüche mancher Familienmitglieder als Folge von Trunk- oder Drogensucht etc. können die betroffenen Kinder keine wirksamen Vermeidungsstrategien entwickeln. Die wiederholte Erfahrung familiärer Gewalt löst bei diesen Kindern Angstzustände aus, die aus der Erwartung resultieren, dass es zu erneuten Misshandlungen kommt bzw. dass sie Zeuge eines Gewaltgeschehens werden. Ihre andauernde Angst vor weiterer Gewalt verlängert die Phasen der Ohnmacht weit über die unmittelbare Gewaltanwendung hinaus. Diese Ohnmachtserfahrungen können Projektionen der Gegengewalt auslösen, so dass sich schon während einer Verlaufskurve der Vikimisierung in der Kindheit erste Ansätze gewaltförmiger Handlungschemata herausbilden.

Missachtung in der Familie

Durch ständige Missachtungserfahrungen und Herabsetzungen übertragen die Kinder das negative Fremdbild ins Selbstbild und gewinnen mehr und mehr den Eindruck, dass sie es nicht verdient haben, mit Anerkennung und Respekt behandelt zu werden. Im Sinne des labeling approach können sich die Kinder oft bis in die Jugendphase hinein nicht von der Negativetikettierung lösen und es kommt zu "Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiungen", die sich in Gewalthandlungen ausdrücken können.

Epiphanische Erfahrungen und biografische Wendepunkte

Epiphanien bezeichnen laut Denzin (1989) Offenbarungsmomente im Leben einer Person. Sie entspringen Erfahrungen, die in einem signifikanten, oft krisenhaftem Ereignis gemacht werden und besitzen Potenzen der Verwandlung, so dass man auch von einem biografischen Wendepunkt sprechen kann, nach dem der Jugendliche zu einem neuen Selbstverständnis gelangt, das von eigenem Gewalthandeln und der teilweise illusionären Hoffnung geprägt ist, einen positiven Selbstwert und den Respekt anderer zu erwerben. Dieser Umschlag vom Opfer zum Täter kann beispielsweise spontan durch die gewaltsame Auflehnung gegen den familiären Peiniger ausgelöst werden, so dass dadurch ohnmachtsbedingter Hass kompensiert werden kann. Dieselben Wirkungen können auch durch außerfamiliäre Gewalthandlungen eintreten. Dieser Zustand halte aber nicht lange an, so dass Gewalthandlungen wiederholt werden müssen: "Die Jugendlichen wollen ihre Aktionsmacht, die ihre Vorgeschichte der Misshandlung und des Anerkennungsentzuges vergessen machen soll, immer wieder aufs Neue beweisen!" (Handlungsschemata der Gewaltausübung).

Gewaltaffine Interpretationsregimes

Die Gewalt bei Jugendlichen wird hiernach zu einer wahrscheinlichen Handlung, wenn die Wahrnehmung einer Interaktionssituation im Zusammenhang mit biografischen Erfahrungen steht. Aus Sicht des Jugendlichen droht sich zu wiederholen (Erniedrigung und Missachtung), was er von zu Hause kennt. Jugendliche antizipieren hierbei vorschnell die Absicht, erneut misshandelt und erniedrigt zu werden. Sie übertragen die feindselige Welt ihrer Familie auf andere Handlungskontexte und haben so das Gefühl, Angriffen anderer zuvorkommen und sich ständig verteidigen zu müssen. "Gewaltaffin" meint hier, dass den untersuchten Jugendlichen die gewaltsame Antwort als die wirkungsvollste erscheint und sie keine alternative Handlungsoption erlernt haben.

Intrinsische Gewaltmotive

Sutterlüty schreibt, dass intrinsische Gewaltmotive nur wirksam werden können, wenn Jugendliche ihr Gewaltverhalten vor sich und anderen entschuldigen und rechtfertigen, um sich ihrer Skrupel entledigen zu können. Andererseits sei auch gerade diese vehemente Überschreitung des Alltäglichen eine Motivation, Gewaltakte zu begehen. So bedienen sich Jugendliche folgender Rechtfertigungsgründe (Korn/ Mücke 2011: 23/24): 1. Das Opfer hat die Gewalt verdient oder das Unrecht der Gewalttat wird negiert ("Wir tun eben das, was die Mehrheit der Bürger nur denkt!") 2. Die Gewalthandlung wird als unausweichliche Reaktion dargestellt ("Was passieren muss, das muss passieren!") 3. Dem Opfer wird die Schuld gegeben ("Ich habe mich provoziert gefühlt, ich musste zuschlagen!") 4. Die Gewalthandlung wird als unbewusst dargestellt ("Ich war betrunken, kann mich nicht mehr erinnern!") Die Erfahrung der Gewaltausübung wird zum motivationalen Agens. Die Gewalt gewinnt den Charakter eines Selbstzweckes und folgt intrinsischen Gewaltmotiven. 1. Der Triumph der physischen Überlegenheit (Auskosten eines Machtgefühls), 2. die Schmerzen des Opfers (Hochgefühl durch Ergötzen an dem Leid des Opfers) und 3. die Überschreitung des Alltäglichen. (Sich zum uneingeschränkten Souverän aufschwingen und den Triumpf des Überlebenden über den Toten auskosten zu wollen), (vgl. Canetti 1960: 259 ff., Sutterlüty 2002: 98 f.).

Gewaltmythologien und Kämpferideale

Die Erfahrungen der Gewaltausübung können sich auf das Selbstbild der Akteure und deren normative Ideale auswirken. Wenn diese Erfahrungen gespeist werden von Ekstasezuständen und Machtgefühlen, die Akteure demnach Gewaltausübung mit einer euphorisierenden Wirkung verknüpfen, kann dies das Selbstverständnis und die Wertehaltungen der Jugendlichen nachhaltig beeinflussen. Der bereits mit der epiphanischen Erfahrung beschriebene Umschlag vom Opfer zum Täter stellt den Auftakt zu einem neuen Selbstverständnis bei den Jugendlichen dar. In Verbindung mit der hier beschriebenen nachhaltigen Wirkung von Gewaltakten, kann die Folge sein, dass Jugendliche Gewaltsamkeit zu einem positiven Wert erheben. Der Begriff der Gewaltmythologien erklärt sich einerseits mit der Verherrlichung von Macht und Stärke, die durch Gewaltausübungen erreicht werden und unbekannte Anerkennungsgefühle produzieren kann und andererseits durch konträre Gegenfolgen auf eben diese Erwartungshaltung. Durch Stigmatisierungen im sozialen Umfeld, negative schulische oder berufliche Konsequenzen oder strafrechtliche Folgen können soziale Ausgrenzungen erfolgen, die die hohen Erwartungen an die glorreichen Wirkungen der Gewalt zum bloßen Mythos herabsetzen (Korn/ Mücke 2011: 28/29).

Empirie

Der empirischen Überprüfbarkeit von Auswirkungen familiärer Gewalterfahrungen während der Kindheit auf das spätere Gewaltverhalten von Jugendlichen ist man bisher hauptsächlich unter dem Begriff des Kreislaufs der Gewalt (cycle of violence) nachgegangen. Es gilt durch verschiedene Studien als bestätigt, dass misshandelte und missachtete Kinder wesentlich häufiger gewaltauffällig werden als solche, die ohne diese erniedrigenden Erlebnisse aufwuchsen. Unter dem Titel "The Cycle of Violence" kam C.S. Widom 1989 zu dem Ergebnis, dass misshandelte oder vernachlässigte Kinder tatsächlich häufiger Gewaltverhalten zeigen als parallel untersuchte Vergleichspersonen. Sutterlüty verweist hierbei auf Pfeiffer/ Wetzels 1999: 11 und konkretisiert, dass diese Viktimisierungen während der Kindheit mit Ohnmachtserfahrungen einhergehen müssen, um gewalttätige Neigungen zu fördern. Weiterhin sagt Sutterlüty, dass erfahrene Gewalt in der Familie nicht zwingend zu Gewalt in der Adoleszenz führe, umgekehrt aber lägen starke empirische Evidenzen dafür vor, dass jugendliche Gewalttäter zu einem großen Teil Biografien voller familiärer Misshandlungen und Missachtungen durchlebt haben (Sutterlüty 2002: 209 f.). Die Kritik setzt hier damit an, dass man sich bei den Personen der Kontrollgruppe nicht absolut sicher sein könne, dass diese nicht doch misshandelt oder missachtet wurden, was nur nicht bekannt wurde. Mücke schreibt, dass sich erstaunlich viele Kinder und Jugendliche trotz belastender Lebensbedingungen und ausgeprägter Risiken zu verantwortungsbewussten und stabilen Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln. Er verweist hierbei auf die Studie von M. Zander, 2008, „Armes Kind – starkes Kind, die Chance der Resilienz“. Entscheidendes Kriterium sei hiernach die Resilienz, die Widerstandskraft einer Person, mit belastenden Lebensumständen umzugehen. Voraussetzung dafür sei die sichere Bindung zu einer Bezugsperson, mit deren Hilfe belastende Lebenssituationen bewältigt werden können, was das Gefühl der Selbstwirksamkeit und des Selbstwertgefühls verbessert.

Kriminologische Relevanz

Sutterlütys Untersuchung zeigt, dass zur Prävention von Jugendgewalt die Bedingungen eines förderlichen Aufwachsens von Kindern in dieser Gesellschaft thematisiert und verbessert werden müssen. Sie führt ferner zu der Erkenntnis, dass die Gewalttätigkeit junger Menschen vor dem Hintergrund erfahrener Misshandlungen und Missachtungen zu verstehen ist. Das macht deutlich, dass für betroffene junge Menschen ein von Wertschätzung und Anerkennung geprägter Beziehungsaufbau von eklatanter Bedeutung ist. Diese Beziehungsarbeit ist nicht nur für die Zwecke der Prävention unerlässlich, sondern auch für die gesellschaftliche Wiedereingliederung schwer gewaltauffälliger Täter. Für eine nachhaltig wirksame Aufarbeitung der Gewalthandlungen Jugendlicher ist demnach die Betrachtung der Biografien unerlässlich (vgl. Korn/ Mücke 2011: 29). Laut Mücke (2012: 10) bedeutet biografisches Verstehen Empathieentwicklung zur eigenen Person. Er sieht darin den ersten Schritt zum Abschied von Hass und Gewalt. Diese Untersuchung schließe somit eine wichtige Lücke mit der Betrachtung von Jugendgewalt durch den situativen und biografischen Kontext, die sozialstrukturelle und kulturtheoretische Erklärungsansätze zu den Ursachen von Jugendgewalt hinterlassen haben.

Literatur

  • Imbusch, Peter: Der Gewaltbegriff, In: Heitmeyer, Wilhelm / Hagan, John (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, 2002 ISBN 9783531135007.
  • Korn, Judy, Mücke, Thomas: "Gewalt im Griff 2: Deeskalations- und Mediationstraining", Juventa-Verlag Weinheim und München, ISBN 9783779920182.
  • Mücke, Thomas: Zur Notwendigkeit biografischen Arbeitens in der Antigewaltarbeit. Ein Praxiseinblick in unsere Jugend, In: Birtsch, Vera / Kreft, Dieter / Kurz-Adam, Maria / Merten, Roland (Hrsg.), Die Zeitschrift für Studium und Praxis der Sozialpädagogik, 2012, 204-212.
  • Sutterlüty, Ferdinand: Gewaltkarrieren - Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3593370816.
  • Sutterlüty, Ferdinand: Was ist eine Gewaltkarriere?, In: ZfS - Zeitschrift für Soziologie; Jg. 33, Heft 4 (2004); 266-284.

Weblinks