Geschichte der Kriminologie

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Zur Relevanz der geschichtlichen Dimension innerhalb der Kriminologie vgl. Geschichte und Kriminologie

Fragen der Geschichtsschreibung

Nach Silviana Galassi kann die Geschichte der Kriminologie als eine der (gebrochenen) Verwissenschaftlichung beschrieben werden.


Das Regierungsprojekt und das Lombroso-Projekt

Während das Nachdenken über Verbrechen und Strafen uralt ist und selbst Untersuchungen über Umfang und Erscheinungsformen von Straftaten schon vor Jahrhunderten durchgeführt wurden, begann die Geschichte der Kriminologie als eines akademischen Faches erst Ende des 19. Jahrhunderts aus zwei großen Zeitströmungen, die David Garland als wissenschaftliche Ursachenforschung im Stile Lombrosos (Lombrosianisches Projekt) und politisch-administrative Modernisierung der Verbrechensbekaempfung (Regierungsprojekt bezeichnet.

Diese Sichtweise widerspricht den früher herrschenden Auffassungen,die die "Väter" der Kriminologie entweder alternativ oder kumulativ in 1. der Aufklaerung (Cesare Beccaria 1764); 2. der Sozialstatistik (Moralstatistik, André-Michel Guerry 1833; Adolphe Quetelet) und/oder 3. der Kriminal-Anthropologie (Cesare Lombroso 1876) sahen.

Aus der Kombination der beiden "Projekte" ergab sich die besondere Praxisnähe, die von Beginn an die Kriminologie charakterisierte. Ihrer Funktion als Treffpunkt der Beitraege unterschiedlicher Wissenschaften und Berufszweige verdankt die Kriminologie ihre besondere Offenheit und ihrer politisch-administrativen Nuetzlichkeit ihr akademisches Ueberleben. Andererseits verstaerkte ihre gleichsam eingebaute Naehe zur praktischen Politik die bereits durch die Pluridisziplinaritaet angelegte Tendenz zum Eklektizismus und bewirkte als Quelle der Diskontinuitaet in Begriffsbildung und Theorieentwicklung das fuer die Kriminologie kennzeichnende Phaenomen der "gebrochenen Verwissenschaftlichung" (Silviana Galassi), was wiederum zu ihrem nicht gerade ueberragenden Ansehen im Vergleich zu anderen Wissenschaften beigetragen haben duerfte.

Unverkennbar ist auch eine Schwerpunktverlagerung der als eines sozialen und als eines Erkenntnissystems in geographischer Hinsicht. Waehrend die Vorlaeufer und ersten Protagonisten der Kriminologie aus Italien, Frankreich, Belgien und Oesterreich sowie mit einer gewissen Verzoegerung aus Deutschland und England stammten, verlagerte sich der Schwerpunkt der Wissenschaft in quantitativer Hinsicht (Zahl der Kriminologen) wie auch im Hinblick auf einflussreiche Forschungen und Publikationen (massgebliche Theorie und Empirie) im Laufe der Zeit in die USA sowie nach Kanada und Australien. Auch Grossbritannien konnte seine Bedeutung wahren, waehrend Kontinentaleuropa fuer den Gang der Entwicklung seit der zweiten Haelfte des 20. Jahrhunderts nur noch eine marginale Rolle spielt.

Entstehung

Aufklaerung

Cesare Beccaria war ein humanistisch-utilitaristisches Mitglied des lombardischen Hochadels (Mailand), der aufgrund seines Hauptwerkes Dei delitti e delle pene (1764), in dem er sich gegen die Folter und die Todesstrafe sowie fuer weitere Reformen aussprach, die spaetere Zeiten als Kennzeichen eines rechtsstaatlichen Strafrechts ansehen sollten, vielen als ein wichtiger Vorlaeufer und manchen gar als Begruender der modernen Wissenschaft von der Kriminalitaet gilt.

Statistik

Der Belgier Adolphe Quetelet und der wegweisende Essay (1833) des Franzosen Andre-Michel Guerry ueber "la statistique morale de la France" stehen als Hauptvertreter der kriminalstatistischen Richtung ("Moralstatistiker") fuer die zweite Quelle der Kriminologie und nicht wenige Kriminalsoziologen sehen in ihnen die eigentlichen Begruender der Disziplin. Sie wenden sich damit insbesondere gegen die mehrheitlich vertretene Ansicht, dass die Ehre der Begruendung der Wissenschaft vom Verbrechen dem Psychiater und Kriminalanthropologen Lombroso gebuehre und sprechen insofern vom "Lombrosianischen Mythos".

Biologie

Die Jahreszahlen 1876 (Lombrosos Verbrecherstudien werden publiziert) und 1885 (Garofalos Lehrbuch mit dem Titel Criminologia erscheint) stehen dann fuer die sog. positive Schule der Kriminologie, in der viele den eigentlichen Beginn der Wissenschaft sehen. Was zur damaligen Zeit als "Criminal-Anthropologie" bezeichnet wurde, fuehrte die Kriminalitaet im wesentlichen auf biologische Phaenomene der Evolution ("Atavismus"; "Degeneration") zurueck, auch wenn Lombroso den von ihm geschaetzten Anteil der "geborenen Verbrecher" (wie Enrico Ferri sie genannt hatte). in spaeteren Jahren immer weiter reduzierte und immer mehr soziale Faktoren mit in seine Theorie einbezog.

Wissenschaftliche Ursachenforschung und Verbrechensbekaempfung

Nach David Garland, der Beccaria und die Moralstatistiker als relevante Vorlaeufer der Kriminologie ansieht, waren weder Lombroso noch das Dreigestirn der positiven Schule (Lombroso, Ferri, Garofalo) alleinige Begruender der Wissenschaft von der Kriminalitaet. Allerdings war die positive Schule ein wichtiger Organisationskern neben anderen, die sich die wissenschaftliche Erforschung der Kriminalitaetsursachen auf die Fahne geschrieben hatten. Die Gesamtheit dieser Bemuehungen um eine mit den Mitteln des Positivismus zu bewerkstelligende empirische Erforschung der Ursachen bezeichnet Garland als "Lombrosian Project", das in den letzten Jahren des 19. und in den ersten des 20. Jahrhunderts eine enorme Breitenwirkung hatte. Insofern gehoerte die positive Schule durchaus zum unmittelbaren Entstehungszusammenhang der Kriminologie. Aber auch sie vermochte es nicht allein, sondern nur im Zusammentreffen mit den starken Stroemungen zur Reform der Gefaengnisse, zur Modernisierung der Strafgesetzgebung und Strafverfolgung, die Befassung mit der Kriminalitaet als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren.

Lombrosianisches Projekt und Regierungsprojekt

Die Suche nach den Ursachen der Kriminalitaet hatte zwar, im Gegensatz zu Beccaria, auch schon die Moralstatistiker im Rahmen ihrer "sozialen Physik" beschaeftigt. Doch weder hatten sie die Kriminalitaet als besonderen Gegenstand von anderen abgesondert - noch waren ihre Ueberlegungen dazu besonders weit gediehen oder auf eine besondere Resonanz gestossen. Einen genuegend starken Schub erhielt die Suche nach den Ursachen der Kriminalitaet erst dadurch, dass das Phaenomen zu einer bedrohlichen Massenerscheinung wurde = und dass man unter dem Einfluss der Evolutionstheorie, der Anthropologie und Psychiatrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend optimistischer wurde, im weitesten Sinne biologische Ursachen fuer die Entwicklung zum "Verbrechermenschen" entdecken zu koennen.

Parallel dazu sah das politisch-administrative System die Notwendigkeit einer verbesserten Bekaempfung der Kriminalitaet in allen Bereichen - demjenigen der Tataufklaerung wie dem der Ueberfuehrung von Verdaechtigen und dem der Beeinflussung der Verurteilten, auf dass sie nicht mehr rueckfaellig wuerden. Mit letzterem Aspekt hatte sich seit dem fruehen 19. Jahrhundert die Gefaengniskunde - ab und zu auch Poenologie genannt - befasst, die im Laufe der Zeit auch ein beachtliches Netzwerk von Akademikern und Praktikern etabliert hatte und nun, in einer Phase des langsamen Niedergangs, zwar ihre Chancen auf eine eigenstaendige akademische Institutionalisierung als Poenologie schwinden sah, immer noch aber gross genug war, um sich mit der aufstrebenden Kriminalanthropologie zu verbuenden und ihr als Morgengabe ihr starkes Netzwerk als Eintrittskarte in eine pluridisziplinaere akademische Welt zu verschaffen.

Fuer die Modernisierung der polizeilichen Ermittlungen standen technische Innovationen fuer den Erkennungsdienst (Bertillonage, Daktyloskopie, Fotografie), aber auch Methoden der internationalen Zusammenarbeit und kriminalpsychologische sowie psychiatrische Erkenntnisse zur Verfuegung, die es systematisch aufzubereiten und weiterzuentwickeln galt.

Der Druck, den die Massenkriminalitaet auf Oeffentlichkeit, Politik und Verwaltung ausuebte, der Fortschrittsoptimismus der wissenschaftlichen Ursachensuche und die Ueberzeugung, mit wissenschaftlichen Mitteln die Verbrechensbekaempfung erfolgreich gestalten zu koennen - all das kam in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zusammen und versorgte die Protagonisten der verschiedenen Teilstroemungen mit dem Engagement und dem Widerhall, derer es bedurfte, um eine ganze neue akademische Disziplin mit Lehrstuehlen, Fachzeitschriften, Instituten und Kongressen aus der Taufe zu heben. Es begann die Phase der Gruendung kriminologischer Fachzeitschriften, Institute und Vereinigungen und der Publikation der ersten kriminologischen Lehrbuecher - und als der Erste Weltkrieg viele der muehsam geschaffenen internationalen Netze auf eine harte Belastungsprobe stellte, war die Kriminologie immerhin so weit etabliert, dass sie nicht unterging. Der Schwerpunkt von Forschung, Theorieentwicklung und akademischer Institutionalisierung sollte allerdings von nun an in England und - mehr noch - in den USA liegen.


Angloamerikanische Entwicklung

In den USA gab es zwar schon im 19. Jahrhundert eine gewisse Lombroso-Rezeption und die Ubersetzung von Gustav Aschaffenburgs Bestseller ueber "Das Verbrechen und seine Bekaempfung" (1903) im Jahre 1915 war ein grosser Erfolg. Doch anders als in Europa sollte die biologisch-psychiatrische Sicht hier nie eine beherrschende Stellung erlangen. Fragen der Kriminalitaet wurden eher als solche der sozialen Struktur, bzw. von Problemen der Gruppe, der Wohngegend und beruflichen Chancen wahrgenommen, also in erster Linie unter den Gesichtspunkten der Soziologie und der Sozialpsychologie. Insbesondere erhofft man von Sozialreformen eine Verbesserung der "sozialen Kontrolle" (Ross 1900) und damit eine Verhinderung von "abweichendem Verhalten", "Delinquenz" und damit auch der Kriminalitaet. Schon die Begrifflichkeit, derer man sich bediente, zeigte jedoch den gesellschaftsbezogenen, weit ueber die rein juristischen Fragen hinausgehenden Ansatz in der "Devianzsoziologie", die spaetestens in den 1920er Jahren zur Leitdisziplin der Befassung mit dem Verbrechen wurde. Massgeblichen Einfluss auf diese Entwicklung hatte die Chicago School der Soziologie und hier insbesondere Edwin H. Sutherland. Seine Lerntheorie der Kriminalitaet, die kriminelles Verhalten als gelerntes Verhalten (so wie anderes Verhalten auch) ansah, war geradezu der Gegenpol zur biologistischen Mystifizierung "krimineller Anlagen" in der deutschsprachigen Kriminologie der 1930er und 1940er Jahre. Aehnlich pragmatisch und entpathologisierend war auch die Botschaft, die von Robert K. Mertons strukturfunktionalistischer Anomietheorie ausging, welche, obwohl schon 1938 erstmals publiziert, erst ab Mitte der 1950er Jahre - dann aber um so gewaltiger - die Diskussion um Kriminalitaetsursachen in den USA beherrschte. Ebenfalls von der Chicago School ging auch die naechste Etappe der Theorieentwicklung aus, die unter Bezeichnungen wie Interaktionismus, Etikettierungsansatz (labeling) und Kontrolltheorien waehrend der 1960er und 1970er Jahre neue Perspektiven auf die gesellschaftliche Produktion von Abweichung und Kriminalitaet ins Spiel brachte. Dies nicht nur in Nordamerika, sondern in der akademischen Diskussion in der gesamten westlichen Welt und darueber hinaus.

Deutschsprachiger Raum

Im deutschsprachigen Raum war die Etablierung der Wissenschaft von der Kriminalitaet eng mit ihrer Funktion als "Magd des Strafrechts" verknuepft. Kriminologische Lehre war Bestandteil der Juristenausbildung und zugleich die einzige Stelle in derselben, die eine Oeffnung hin zur Empirie und zu anderen Wissenschaften, insbesondere zu Psychiatrie, Gerichtsmedizin, Psychologie (und geringem Masse der Soziologie) ermoeglichte. Schon die Gefaengniskunde als eine der Vorlaeuferinnen der Kriminologie war auf diese Weise in die juristischen Fakultaeten integriert gewesen (Mittermaier). Ebenso erging es der Kriminologie unter dem beherrschenden Einfluss von Franz von Liszt. Auch Psychiater (Aschaffenburg, Kraepelin) waren letztlich auf die juristischen Fakultaeten angewiesen, um kriminologisch etwas darzustellen - so wie die juristische Kriminologie sich ihre Orientierung und Legitimation bei diesen verschaffte. Dieser Pakt der horizontalen wechselseitigen Legitimation, der zugleich eine soziale Schliessung gegenueber den anderen Wissenschaften darstellte und ein juridisch-psychiatrisches Deutungsmonopol absicherte, sollte erst ab etwa 1959 erste Risse zeigen und um 1968 herum durch das Aufkommen einer aus den USA inspirierten neuen Kriminologie in seiner Bedeutung relativiert werden.

Zwar hatte es auch im deutschsprachigen Raum vielversprechende Ansaetze zu einer soziologisch orientierten Innovation in der Kriminologie gegeben (Franz Exner), doch waren diese Initiativen ebenso wie etwa die psychoanalytische Kriminologie (Theodor Reik) der nationalsozialistischen Wissenschaftslenkung in Richtung auf Kriminalbiologie, Rassenkunde usw. zum Opfer gefallen. Die dadurch erlittenen Verluste konnte die deutschsprachige Kriminologie nie kompensieren. Als sie in den 1960er Jahren mit der Uebernahme us-amerikanischer Ansaetze begann, spaltete sich der Diskurs (und die professionelle Organisation) der Kriminologie in zwei wenig miteinander kommunizierende Lager. Die sich als "kritisch" von der "traditionellen" absetzende Kriminologie suchte ihr Basis an den Universitaeten innerhalb der Soziologie, wo sie sich aber nach einer Phase der Expansion in den 1970er Jahren nicht auf Dauer so fest etablieren konnte, wie es der "traditionellen" seit jeher innerhalb der juristischen Fakultaeten gelungen war.

Literatur

  • Jacoby, Joseph (2004) Classics in Criminology. 3. Auflage. Inhalt: [[1]]
  • Rafter, Nicole H., Hg. (2009) The Origins of Criminology A Reader. Routledge & Cavendish. ISBN: 978-0-415-45112-3 (paperback) 978-0-415-45111-6 (hardback) 978-0-203-86994-9 (electronic).
  • Rafter, Nicole H. (2005) Cesare Lombroso and the Origins of Criminology: Rethinking Criminological Tradition. In: Stuart Henry and Mark Lanier, The Essential Criminology Reader. Boulder, CO: Westview/Basic Books, 33-42.

Weblinks

  • McLaughlin, Eugene; Muncie, John; Hughes, Gordon (2003) Criminological perspectives: essential readings. SAGE [[2]]