Gefängnisseelsorge

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Der Artikel enthält Informationen zur Geschichte, Struktur, den rechtlichen Grundlagen und der Praxis der Gefängnisseelsorge in Deutschland - internationale Aspekte werden berücksichtigt.

Geschichte

Die Gefängnisseelsorge (sowohl der Begriff als auch ihre Praxis) entsteht historisch als Reformbewegung mit dem Aufkommen des „Panopticons“ als vorherrschender Gefängnisform. Zuerst in England, den Niederlanden und den Nordstaaten der USA. Zu nennen sind im deutschsprachigen Raum zwei Namen: der Theologe und Pfarrer Theodor Fliedner (1800 – 1864), sowie der Theologe Pastor und Pädagoge Johan Hinrich Wichern (1808 – 1881).

Im Zuge der Industrialisierung und des „Lumpenproletariats“ verfolgen beide sozial-diakonische Anliegen. 1826 begründet Fliedner mit anderen die „Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft“, die von Anfang an ökumenisch organisiert war. Sie engagierte sich für die Verbesserung der Lebensumstände Inhaftierter und Entlassener. Wichern errichtete in Deutschland „Rettungshäuser“ für Jugendliche, das bekannteste war das „Rauhe Haus“ in Hamburg. In der Folge und auf Grund längerer Reisen in England organisierte er im Auftrage des preußischen Staates das „Preußische Mustergefängnis Moabit“. Ab 1851 war er Beauftragter des preußischen Staates für das Gefängniswesen und bis 1872 Direktor der Anstalt Moabit.

Ging Wichern noch davon aus „das ganze Zuchthaus sei ein Gotteshaus“ so sah sein Kollege Carl Krohne (1836 – 1913), der ab 1883 die Strafanstalt in Moabit leitete, die sozialreformerischen Ansätze und Ideen Wicherns als gescheitert. Er muss miterleben, wie das Gefängnis immer stärker einem Kasernenhof gleicht. Als Konsequenz gestand er der Gefängnisseelsorge mehr Unabhängigkeit vom Staat zu, der Pfarrer kommt im Namen Gottes und nicht der Regierung.

Entwicklung im 20. Jahrhundert

Die Praxis der Gefängnisseelsorge etabliert sich in einer Zusammenarbeit mit dem Staat. Sie findet in den Artikeln 136 ff der Weimarer Reichsverfassung von 1919 ihre – bis heute andauernde – grundrechtliche Verankerung.

Am 17.10. 1927 wird in Berlin der Reichsverband der evangelischen Strafanstaltspfarrer in Deutschland gegründet. Die Berufsvertretung ist als Antwort auf die neuen Professionen des Lehrers und Psychologen im Strafvollzug zu verstehen. Ab 1936 wird aus dem Reichsverband eine „Konferenz“. Für die Phase des Faschismus steht der Name Harald Poelchau (1903 – 1972), einer der wenigen nicht systemkonformen Pfarrer, der während des Dritten Reiches Gefängnisseelsorger in Berlin Tegel war. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit bemühte er sich um politische Gefangene und führte „Unterrichtsstunden für Nicht-Religiöse“ ein. Er nutzte die relativ freien Strukturen der Gefängnisseelsorge. Wenn er die Gefangenen besuchte ging es ihm nicht um den „Fall“, sondern um die Persönlichkeit und das „Geschöpf Gottes“, bis heute eine aufrechterhaltene Praxis der Seelsorgearbeit im Gefängnis.

1950 erfolgt die Neugründung der Konferenz, und ab 1970 wird sie umbenannt in „Konferenz der evangelischer Pfarrer an den Justizvollzugsanstalten in der Bundessrepublik und Berlin West“. Neue Stichworte kommen auf, die Entwicklung der Psychoanalyse, die Entdeckung der Gruppendynamik, die politischen Auseinandersetzungen, die RAF und nach der Auflösung des Kalten Krieges und dem Mauerfall, die Globalisierung und ihre Folgen. Sie macht aus unseren Haftanstalten globale Dörfer mit oft mehr als 60 verschiedenen Nationen und multireligiösen Gemeinschaften.

Rechtliche Grundlagen

Der staatskirchenrechtliche Rahmen des Grundgesetzes ist identisch mit dem der Reichsverfassung von 1919. Liberale, religiöse, konservative und sozialistische Kräfte schlossen in der Reichsverfassung 1919 einen Kompromiss. Das Grundgesetz hat mit der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und den in Art. 140 GG übernommenen staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Art. 136 – 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung an dieser Lösung bis heute festgehalten. Das alte (und auch die neuen) Strafvollzugsgesetz, nennt die Seelsorge als eine der Berufsgruppen im Vollzug. Die §§ 53, 54 und 55 StVollzG regeln den Zugang zu und das Recht auf einen Seelsorger der jeweiligen Konfession. Dabei gilt das Gebot der Zusammenarbeit mit allen im Vollzug arbeitenden Personen (§ 154 StVollzG). Die Seelsorger sind im Einvernehmen mit der jeweiligen Religionsgemeinschaft zu bestellen (§ 157 StVollzG). Es wird in die Autonomie der Kirchen nicht eingegriffen. Der Begriff „gegenseitiges Einvernehmen“ gibt auch den staatlichen Stellen Möglichkeiten, ihren Einfluss geltend zu machen. Im internen Dienstverhältnis regeln Länderabkommen (Staats-Kirchen-Verträge) die Dienstaufgaben der SeelsorgerInnen. In diesen Verträgen werden explizit deren Pflichten und Rechte benannt.

Seelsorgegeheimnis

Eine der wichtigsten Arbeitsgrundlagen der Gefängnisseelsorge ist das Beicht- und Seelsorgegeheimnis. Dieses ist nach Kirchenrecht unverbrüchlich. Das Pfarrerdienstgesetz der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) formuliert: "Über alles, was der Pfarrerin und dem Pfarrer bei der Ausübung der Seeslorge anvertraut wird, haben sie unverbrüchliches Stillschweigen zu wahren.", PfDG der EKHN § 18, Abs.1. Ebenso das Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD: "Jede Person, die sich in einem Seelsorgegespräch einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger anvertraut, muss darauf vertrauen können, dass daraus ohne ihren Willen keine Inhalte Dritten bekannt werden. Das Beichtgeheimnis ist unverbrüchlich zu wahren.", § 2 Abs. 4 SeelGG der EKD vom 28.10.2009 http://www.ekd.de/download/008_beschluss_seelsorgegesetz_endfassung.pdf. Noch schärfer formuliert die katholische Kirche im Codex Iuris Canonici: sacramentale sgillum inviolabile est, "Das sakramentale Siegel ist unverletzlich; daher ist es dem Beichtvater streng verboten, durch Worte oder in anderere Weise, oder aus irgendeinem Grunde den Büßer irgendwie zu verraten", can. 983 CIC in der Fassung vom 25. Januar 1983, promulgiert durch Papst Johannes Paul den II.

Dem Seelsorger steht nach § 53 Abs.1. StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zu für Inhalte, die ihm in seiner Funktion als Seelsorger mitgeteilt wurden. Hinzu kommt nach dem Strafgesetzbuch § 139 Abs.2 StGB die Aufhebung der Anzeigepflicht für Tatbestände, die dem Pfarrer in seiner Eigenschaft als Seelsorger mitgeteilt werden.

Struktur und Organisation

Sowohl die evangelische wie auch die katholische Seelsorge sind in Landeskonferenzen oder Zusammenschlüssen von Bistümern und in eine Bundeskonferenz gegliedert. In der Ev. Gefängnisseelsorge gibt es – nach Bundesländern unterteilt - 11 Regionalkonferenzen, die je nach Größe des Bundeslandes unterschiedlich viele Mitglieder haben. Jeder Gefängnispfarrer ist Mitglied der Konferenz. 2010 umfasst sie in Hessen 24 Mitglieder, wobei die SeelsorgerInnen aus zwei Maßregelvollzugsanstalten (§§ 63 und 64 StGB) und zwei Abschiebeinrichtungen hinzugezählt werden. Die evangelische Bundeskonferenz hat 259 Mitglieder - davon sind 52 Frauen als Gefängnisseelsorgerinnen tätig. Die Konferenz wird von einem Vorstand geleitet, der von einem Beirat unterstützt wird (http://www.gefaengnisseelsorge.de/ und http://www.kath-gefaengnisseelsorge.de/). Jede Regionalkonferenz hat einen Vorsitzenden und einen Stellvertreter, der Mitglied des Beirates der Bundeskonferenz ist. Die Struktur erlaubt ein vernetztes und schnelles Arbeiten.

Auf internationaler Ebene sind die Mitglieder vernetzt über die „International Prison Chaplain’s Association“ (IPCA) http://www.ipcaworldwide.org/ und die „International Commission of Catholic Prison Pastoral Care“ http://www.iccppc.org/. Beide Organisationen entstehen Mitte der 80. Jahre und sind die Antwort auf die weltweit explosionsartige Entwicklung des Gefängnissystems.

Anstellungsträger des Gefängnisseelsorgers ist in den meisten Fällen die Landeskirche bzw. das Bistum. Die Seelsorger sind nicht weisungsgebunden gegenüber der Gefängnisleitung, der unmittelbare Dienstvorgesetzte ist ein Kirchenbeamter. Damit wird eine Unabhängigkeit gewährleistet, gleichzeitig aber auch ein Spannungsverhältnis gegenüber der staatlichen Behörde aufgebaut. Aus Loyalitätsgründen ist daher der Gefängnisseelsorger manchmal „Diener zweier Herren“.

Anstellungsverhältnisse, die aus dem Pfarrer einen Staatsbeamten machen (wie in Baden-Württemberg bis auf zwei Außnahmen üblich und in Bayern und NRW möglich), können sich als problematisch erweisen.

Arbeitsbereiche innerhalb und außerhalb der Mauern

Die Arbeit der Gefängnisseelsorge ist intern strukturiert in drei wesentliche Arbeitsformen:

  • Einzelgespräche, auf den Zellen, im Büro der Seelsorge, „zwischen Tür und Angel“
  • Gruppenarbeit (Gesprächskreise, Bibelkreise, kultureller Arbeit, körperorientierte Arbeit)
  • Gottesdienste

Zusätzlich gibt es Zuwendungen für mittellose Gefangene in Form von Sachspenden oder die Übernahme von Fahrtkosten für Angehörige, die zum Besuch kommen wollen. Die kirchliche Sozialarbeit ist in den vergangenen Jahren auf die freie Straffälligenhilfe übergegangen.

Im Außenbereich kommen

  • Unterricht, Berichte in Kirchengemeinden und Konventen,
  • Zusammenarbeit mit Institutionen der Straffälligenhilfe, der freien Wohlfahrtspflege,
  • Kirchengemeinden und staatlichen Stellen hizu.

In den vergangenen Jahren wurden auf Grund der gesellschaftlichen Veränderungen neue Formate der kirchlichen Arbeit im Gefängnis entwickelt. Insbesondere ist hier zu nennen:

  • Die Angehörigenarbeit, die die Folgen der Inhaftierung für Angehörige mit in den Blick nimmt und versucht, durch Väter-Kind-Projekte, Familientage, Familienbesuche und Paarberatung die Lage der Angehörigen mit aufzugreifen.
  • Die Arbeit mit dem Allgemeinen Vollzugsdienst, die auf der Erkenntnis beruht, dass die schädigenden Einflüsse der Haft die dort Arbeitenden gleichermaßen betrifft. Die neue Verwaltungssteuerung und Qualitätsstandards, sowie neue Formen des „Surveillance“ haben die Haftanstalten in ihrem Inneren verändert.

Aktuelle Entwicklungen

„Lehrling des Schurkerei- und Gaunerhandwerkes beim Eintritt zur Haft, verlässt der Gefangene als vollendeter Meister den Kerker“ T. Fliedner.

Eine kritische Gefängnisseelsorge hinterfragt das Gefängnissystem und sucht nach Alternativen. Theologisch geht es um die Neudefinition von Schuld und Vergebung, um die Frage nach der symbolischen Bedeutung von Sühne und Rache in einer gewalttätigen Gesellschaft.

Auf der Suche nach Alternativen unterstützt die Gefängnisseelsorge Ansätze von „Restorative Justice“ Programmen, Methoden der gewaltfreien Kommunikation und Erfahrungen, wie die aus dem Hochsicherheitsgefängnis Kumla in Schweden, das die Möglichkeit spiritueller Erfahrungen in klosterähnlicher Umgebung zur Verfügung stellt. Auch eine Strafrechtsreform und die Entkriminalisierung gesellschaftlicher Bereiche werden diskutiert.

Juristisch konfrontiert sich die Gefängnisseelsorge mit der Aufweichung des Zeugnisverweigerungsrechtes und der seelsorgerlichen Verschwiegenheit durch Rechtssprechungen des Bundesgerichtshofes (Beschluss vom 15.11. 2006, StB 15/06) und des Bundesverfassungsgerichtes (Beschluss vom 25.1. 2007, 2 BvR 26/07). Hier wird definiert was zur Seelsorge gehört und was nicht. Bisher war dies den Kirchen selber überlassen. Die EKD reagierte mit einem Beschluss über ein Seelsorgegeheimnisgesetz, um ihre Definitionsmacht zu wahren. Das neue BKA Gesetz und das BGH Urteil zeigen deutlich die Grenze gesellschaftlich nicht kontrollierter und kontrollierbarer Bereiche auf. In Zukunft wird es interessant sein, wie sich das Staats-Kirchenverhältnis in einem zentralen Punkt kirchlicher Praxis gestalten wird.

Als wohl wichtigste Veränderung wird in Zukunft eine multireligiöse und multiethnische Gefängnisseelsorge entstehen, wie in England und den Niederlanden, die die Veränderungen der Haftpopulation aufnimmt und der gegenwärtigen Europäisierung des Strafvollzuges entspricht.

Literatur

  • Eick-Wildgans, Susanne (1993): Anstaltsseelsorge. Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenwirkens von Staat und Kirche im Strafvollzug.
  • EKD (Hrsg.) (1979): Seelsorge in Justizvollzugsanstalten. Gütersloh
  • EKD (Hrsg.) (1990): Strafe: Tor zur Versöhnung? Gütersloh
  • Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland (Hrsg.) (2009): „Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen“ Leitlinien für die Evangelische Gefängnisseelsorge in Deutschland. Darmstadt
  • Limberg, Peter (1903): Die Gefängnisseelsorge und ihre charitative Fürsorge für Gefangene und Entlassene in Preußen. Münster
  • Rassow, Peter (1998): Bibliographie Gefängnisseelsorge
  • Rassow, Peter (1987): 60 Jahre Blätter aus der Geschichte des Zusammenschlusses und der Tätigkeit der evangelischen Gefängnisseelsorger
  • Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hrsg. ) (2008): Zeugenaussage, Zeugnisverweigerungsrecht und Schweigepflicht. Ein juristischer Leitfaden für Seelsorger zum Schutz des Beicht- und Seelsorgegeheimnisses
  • Gefängnisseelsorge.de