Frau ohne Gewissen

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Der 1945 für 7 Oscars nominierte Kinofilm Frau ohne Gewissen (1944) von Billy Wilder handelt von einem Versicherungsagenten, der aus Liebe und Kalkül einer Frau hilft, ihren Mann loszuwerden. Ein psychologisches Kriminaldrama und ein typisches Beispiel des amerikanischen film noir, weil die Protagonisten samt und sonders unmoralisch handeln, das Publikum aber trotzdem eine gewisse Sympathie für sie aufbringen kann. Der Originaltitel des Films lautet Double Indemnity (= die bei einem Unfalltod in doppelter Höhe fällig werdende Versicherungssumme). Der Deutsche Titel gefiel Billy Wilder wohl nicht so gut. Er soll gesagt haben: „Frau ohne Gewissen? Das trifft doch auf nahezu jede Frau zu.“

Frau ohne Gewissen rangiert auf der Liste der besten amerikanischen Filme aller Zeiten auf Platz 29 (2007). Barbara Stanwyck, die in dem Film die mit krimineller Energie und beträchtlichen manipulativen Fähigkeiten ausgerüstete Verführerin Phyllis Dietrichson als femme fatale verkörpert, gelangte auf Platz 8 der Top 50 der Schurken. Bezugnahmen auf den Film finden sich in vielen späteren Filmen wie z.B. in Die Hexen von Eastwick (1987), Charlie und die Schokoladenfabrik (1971), Woody Allens Manhattan Murder Mystery (1993) und Brian de Palmas Femme Fatale (2002). Inhaltliche Bezüge gibt es auch zu Lawrence Kasdans Thriller Heißblütig – Kaltblütig (1981).

Handlung

Der Versicherungsvertreter Walter Neff schleppt sich in sein Büro, um dort ein Geständnis mit einem Diktierphonograph aufzuzeichnen. Er erzählt die Geschichte eines Versicherungsbetrugs, in den er selbst als Mörder verwickelt ist.

Die Geschichte begann mit einem Besuch des Versicherungsvertreters im Haus von Mr. Dietrichson. Der ist jedoch nicht da. Positiv wirkt auf Neff aber die Dame mit einem Bademantel bekleidete Frau des Hauses, Phyllis Dietrichson (Barbary Stanwyck). Bei einem zweiten Treffen von Neff und Phyllis - der Ehemann ist wieder abwesend - erkundigt sich Phyllis bei dem Versicherungsvertreter, ob sie ohne Wissen ihres Ehemannes für diesen eine Unfallversicherung abschließen könne. Neff ahnt bereits, dass Mrs. Dietrichson Pläne haben könnte, sich ihren Mann vom Hals zu schaffen, und sagt ihr offen, dass er dafür nicht zu haben sei. Später besucht sie ihn zu Hause und überredet ihn, ihren ganzen Charme ausnutzend, dazu, sie bei ihrem Mordplan zu unterstützen.

Neff entschließt sich nun zum Mitmachen. Er entwickelt die Idee, einen Zugunfall zu inszenieren, weil die Versicherung in einem solchen Fall die doppelte Summe (engl.: double indemnity), nämlich 100.000 Dollar, zahlen würde. Um den Vertrag unbemerkt abschließen zu können, legt Neff Mr. Dietrichson zunächst die Autoversicherungspolice und kurz danach eine Kopie vor, die er beide unterschreibt. Er weiß nicht, dass es sich bei der Kopie tatsächlich um seine Unfallversicherung handelt. Bei dieser Gelegenheit lernt Neff auch die Stieftochter von Phyllis, Lola Dietrichson, kennen und fährt sie ins Kino. Sie erzählt ihm, dass sie sich heimlich mit ihrem Freund Nino trifft. Die weitere Planung des Mordes machen Neff und Phyllis unter Geheimhaltung – so treffen sie sich ausschließlich im Lebensmittelladen und telefonieren nur über Telefonzellen. Unerwarteterweise bricht sich Mr. Dietrichson das Bein, aber Phyllis hat dennoch einen Zug für ihn gebucht. Am Tag der Abreise sichert Neff zunächst sein Alibi ab und versteckt sich dann im Auto von Phyllis. Die beiden steigen ein, und kurz vor dem Ziel gibt Phyllis ein Hupzeichen, woraufhin Neff ihren Mann von hinten erdrosselt. Er zieht sich dessen Kleidung an, samt Krücken, und steigt unerkannt in den Zug. Auf der hinteren Plattform sitzt ein Mann, der das Gespräch mit Neff sucht, doch Neff wimmelt ihn ab. In einem unbemerkten Moment springt er dort vom Zug, wo Phyllis bereits auf ihn wartet. Sie legen die Leiche von Mr. Dietrichson auf die Schienen.

Nach Bekanntwerden des Falls wird ausgerechnet Neffs Kollege und Freund Barton Keyes mit der Untersuchung der näheren Umstände beauftragt. Er ist zunächst felsenfest davon überzeugt, dass es sich um einen Unfall handelte, während Norton, der Chef der Gesellschaft, Selbstmord vermutet. Neff fühlt sich sicher, bis Keyes auf einmal eine neue Vermutung hat: Mord. Von Lola, die im Büro des Versicherungsunternehmens erscheint, erfährt Neff, dass Phyllis die leibliche Mutter ihrer Stieftochter umgebracht habe, um deren Vater heiraten zu können. Als Keyes an einem anderen Tag Neff in sein Büro bittet, wird dieser mit einem neuen Problem konfrontiert: Der Mann, der ihn auf der Plattform des Zuges gesehen hatte, will aussagen. Er ist sich sicher, dass der Mann jünger war als Mr. Dietrichson, aber er erkennt Neff nicht. In einem geheimen Treffen erklärt Neff Phyllis den Ernst der Lage, außerdem konfrontiert er sie mit den Anschuldigungen ihrer Stieftochter. In der folgenden Zeit trifft sich Neff auch öfter mit Lola, dabei erzählt sie ihm, dass Phyllis sie mit Nino betrüge. Gleichzeitig ist Nino auch der Hauptverdächtige in den Augen der Ermittler, da er Phyllis täglich besucht haben soll.

Langsam keimt in Neff der Wunsch, Phyllis loszuwerden. Bei einem letzten Besuch, den er Phyllis zu Hause abstattet, will er sie umbringen. Doch auch sie hat einen Plan: Sie will zuerst Neff und dann ihre Stieftochter töten, um schließlich Alleinerbin ihres toten Ehemanns zu werden. Sie schießt zuerst auf ihn, trifft ihn aber nicht tödlich. Plötzlich wirft sie sich ihm in die Arme, als würde sie ihn doch lieben. Kaltblütig erschießt Neff sie. Am Ende des Geständnisses tritt Keyes ins Büro. Neff, der sein Schicksal nicht wahrhaben will, versucht die Flucht zu ergreifen, schafft es mit seiner Wunde jedoch gerade einmal bis zur Tür und bricht zusammen. - Ursprünglich war ein Schluss gedreht worden, in dem Neff zunächst festgenommen und anschließend in der Gaskammer hingerichtet wird. Wilder entschied sich später noch für einen anderen Ausgang der Handlung, der nach seiner Auffassung besser zu den Charakterzeichnungen der Hauptfiguren passt.

Kriminologie

  • Der auf sexuellem Verlangen und der verführerischen Aussicht auf eine große Summe Geldes beruhende Entschluss Walter Neffs, zusammen mit Phyllis deren (störenden) Ehemann umzubringen, wird mit einem hochgradig rationalen Plan, der ein optimales Resultat bei geringsten Risiken verspricht, umgesetzt. Die Rationalität des utilitaristischen Kalküls wird im Zeitablauf den veränderten Umständen angepasst. Zwar erhält Walter am Ende weder die begehrte Frau noch das Geld (und Phyllis stirbt), doch handelt es sich gleichwohl um eine Geschichte, in der jedes Handeln von subjektiver Rationalität geprägt ist - und das wiederum ist eine (meta-) theoretische Grundannahme der sogenannten Rational Choice Theory (Hill 2002: 6).
  • Den Theorien der rationalen Wahl geht es "um den Versuch einer umfassenden Grundlegung der Soziologie auf einer akteurorientierten Basis. (...) Eine akteurorientierte Soziologie bzw. Sozialphilosophie gibt es seit den Anfängen der Disziplin. Wichtige Grundsteine legten die beiden Philosophen Thomas Hobbes (1588-1679) und Adam Smith (1723-1790) bereits im 17. und 18. Jahrhundert. Trotz aller Verschiedenheit stimmen auch Karl Marx (1818-1883) und Max Weber (1864-1920) darin überein, bei der Erklärung sozialer Phänomene vom Individuum auszugehen - insofern darf man beide als 'methodologische Individualisten' betrachten" (Hill 2002: 6).
  • Diese Entwicklung ist auch in der Geschichte der Erklärung des sozialen Phänomens "Kriminalität" zu beobachten. Cesare Beccaria (1764/2005: 10 f.) sah die Ursachen von Verbrechen im Egoismus der von keinen wirksamen Strafandrohungen in Schach gehaltenen Individuen: Menschen werden immer versuchen, sich der Güter anderer Menschen zu bemächtigen. Es sei denn, der Mensch erfährt "fühlbare Beweggründe", die ihn davon abhalten. Es bedarf also der Abschreckung: "Diese fühlbaren Beweggründe sind die Strafen, welche gegen die Gesetzesbrecher verhängt werden. Ich sage fühlbare Beweggründe, weil die Erfahrung gelehrt hat, dass die Mange weder feste Grundsätze der Lebensführung annimmt noch sich von jenem Grundsatz der Auflösung fernhält, der sich in der gesamten physischen und moralischen Welt bemerkbar macht, solange es nicht Beweggründe gibt, welche unmittelbar die Sinne durchdringen und sich unabhlässig dem Geist einprägen und damit gegen die starken Antriebe der Parteileidenschaften, die dem allgemeinen Wohl zuwider sind, ein Gegengewicht bilden: Weder Beredsamkeit noch Vorträge, nicht einmal die erhabensten Wahrheiten reichen hin, um auf die Dauer die Leidenschaften zu bremen, die vom lebhaften Eindruck der bereit liegenden Gegenstände erregt werden."
  • Die Theorien der rationalen Wahl sind also eng verknüpft mit einem bestimmten (utilitaristischen) Bild vom Menschen und den Beweggründen für seine Handlungen - und dementsprechend auch mit Überlegungen zur Abschreckung (= negative Generalprävention). So ist es kein Wunder, dass sich auch Wirtschaftswissenschaftler, die sich berufsmäßig meist mit ökonomischen (z.B. Kauf-) Entscheidungen von Menschen befassen, mit Fragen der (Entscheidung zur Begehung von) Verbrechen auseinandergesetzt haben. Wichtige Ökonomen sind in diesem Zusammenhang vor allem Gary S. Becker und Bruno Frey.
  • Allerdings geht es nicht darum, dass die Soziologie in Konkurrenz zur Psychologie tritt. Die als rational choice bezeichneten Entscheidungstheorien interessieren sich letztlich nicht für den einzelnen Entscheidungsakt, sondern für die Frage, wie kollektive (soziale) Phänomene (wie z.B. die Wirtschaftslage, die Religion) auf dem Weg über massenhafte individuelle Entscheidungen (z.B. zu kriminellen Handlungen) andere kollektive (soziale) Phänomene (wie z.B. den Aufstieg der Versicherungswirtschaft, den Ausbau der Polizei und des Gefängnissystems) hervorrufen. Damit sind sowohl die "Ursachen" als auch die zu erklärenden "Folgen" (Explanandum) eindeutig "soziologischer" und nicht "psychologischer" Art. Und selbst die Entscheidung des Individuums ist weniger als Einzelfall interessant als vielmehr als Entscheidung innerhalb einer sozialen Situation (Hartmut Esser: Logik der Situation, Logik der Selektion).
  • Die soziologische Sichtweise wird in diesem Film von der Person des Versicherungsangestellten Keyes - eines Kollegen von Neff - repräsentiert. Er sieht die großen Zusammenhänge zwischen sozialer Lage und sozialem (betrügerischen) Handeln. Er erkennt aufgrund bestimmter Merkmale von Akteuren und Situationen, in welchen Fällen es sich um echte Schadensfälle und in welchen es sich um Versuche betrügerischer Leistungserschleichung handelt.
  • Stichworte: Kosten-Nutzen-Analyse (unter verschiedenen sozio-ökonomischen Lebensbedingungen), Nutzentheorie (Werterwartungstheorie; subjective expected utility theory = SEU), Rahmen, Rahmenanalyse, RREEMM-Modell, Schemata, Skripte (Hill 2002: 38 f.), Situationsdefinition, Thomas-Theorem, unintendierte Folgen absichtsvollen Handelns.

Literatur

  • Beccaria, Cesare (1764/2005) Von den Verbrechen und von den Strafen. Berlin: BWV.
  • Becker, Gary S. (1968) Crime and Punishment: An Economic Approach, Journal of Political Economy, 76(2) 169-217.
  • Cain, James M. (2001) Doppelte Abfindung. München: Goldmann. ISBN 3-442-05910-0 (engl.: Double Indemnity. New York: Vintage Books, 1992. ISBN 0-679-72322-6)
  • Clarke, Ronald V. & Derek B. Cornish (1985) Modeling Offenders' Decisions: A Framework for Research and Policy. Chicago: U of Chicago Press
  • Clarke, Ronald V. and Marcus Felson, Hg. (1993) Routine Activity and Rational Choice. Advances in Criminological Theory, Vol 5. New Brunswick, NJ: Transaction Books.
  • Cornish, Derek B. & Clarke, Ronald V., Hg. (1986) The reasoning criminal. New York: Springer.
  • Esser, Hartmut (1991) Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhältnis von erklärender und verstehender Soziologie am Beispiel von Alfred Schütz und Rational Choice. Tübingen: Mohr.
  • Esser, Hartmut (1993) How 'Rational' is the Choice of 'Rational Choice'? Rationality and Society 3: 408-414.
  • Frey, Bruno (2004) Dealing with Terrorism: Stick or Carrot. Cheltenham (UK) and Nothhampton (Mass.) Edward Elgar Publishing,ISBN 1-8437-6828-3, ISBN 1-8454-2258-9.
  • Frey, Bruno (1997) Not just for the money. An economic theory of personal motivation. Cheltenham (UK) . ISBN 1858985099.
  • Goffman, Irving (1996) Rahmen-Analyse. Frankfurt/M: Suhrkamp 4. Aufl.
  • Hill, Paul B. (2002) Rational-Choice-Theorie. Bielefeld: transcript.
  • Wilder, Billy; Chandler, Raymond (1943) Double indemnity [screenplay]. Los Angeles, Calif. : Script Collectors Service distributor.
  • Wilder, Billy; Chandler, Raymond; Meyers, Jeffrey (2000) Double Indemnity. Berkeley: University of California Press. ISBN 0-520-21848-5.
  • Wilder, Billy; Kirtley, Malcolm (2000) Double Indemnity. London: York Press. ISBN 0-582-43196-4.
  • Hesling, W. (1991) Billy Wilder: tussen Weimar en Hollywood. Leuven: Garant. ISBN 90-5350-044-8.
  • McCullough, David W. (1989) City sleuths and tough guys. Boston: Houghton Mifflin. ISBN 0-395-51318-9.
  • Rafter, Nicole & Michelle Brown (2011) Criminology Goes to the Movies: Crime Theory and Popular Culture. New York: NYU Press (Chapter 2: 14-27).
  • Wilder, Billy & Horton, Robert (2001) Billy Wilder: interviews. Jackson: University Press of Mississippi. ISBN 1-57806-443-0.

Weblinks