Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter?

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Der Aufsatz "Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter?" von Winfried Brugger diskutiert das bestehende absolute Folterverbot in Deutschland (anlässlich des Entführungsfalls Jakob von Metzler im September 2002). Um die Thesen des Autors, des am 26.02.1950 geborenen Brugger, eines Professors für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Mitglieds des Vorstandes der Deutsch-Amerikanischen Juristenvereinigung sowie Mitherausgebers der Zeitschrift "Der Staat", entspann sich eine heftige Kontroverse.

Hintergrund

Im September 2002 entführte der Student Magnus Gäfgen den 11-jährigen Bankierssohn Jakob von Metzler in Frankfurt am Main. Kurz nach der Lösegeldübergabe durch die Familie Metzler wurde Gäfgen verhaftet. Bei der Vernehmung machte er keinerlei Angaben zum Verbleib des Jungen, weshalb sich der damalige Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner genötigt sah, Gäfgen Gewalt anzudrohen, um das Versteck des Entführten zu erfahren. Dieser nannte schließlich den Fundort, Jakob konnte allerdings nur noch tot geborgen werden. Magnus Gäfgen wurde wegen Entführung und Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Polizeivizepräsident Daschner erhielt eine geringe Strafe, da das Gericht keine Rechtfertigung für die Aussageerpressung vorliegen sah und die Gewaltandrohung gegenüber Gäfgen als "ehrenwerte Absicht" Daschners würdigte, das Leben von Jakob zu retten.

Der Entführungsfall löste eine Debatte in Deutschland um die Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Personen, die sich in Polizeigewahrsam befinden, aus. Es wird noch heute diskutiert, ob eine Relativierung des Folterverbots zumindest dann möglich sein sollte, wenn Rechtsgüter von besonders hohem Wert (Menschenleben) in Gefahr sind und die Anwendung von Folter der Abwendung dieser Gefahr dienlich sein könnte.

Rechtslage

Amtsrecht

In Deutschland ist jegliche Form von Folter durch Amtspersonen verboten. Dieses absolute polizeirechtliche Verbot von Folter ist sowohl im Verfassungsrecht als auch im Völkerrecht verankert. Art. 104 I 2 GG lautet: "Festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich mißhandelt werden", womit der Artikel direkt in der Verbürgung der Menschenwürde laut Art. 1 I GG gründet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt." Die Brechung des Willens autonomer Personen durch Amtspersonen gilt als Würdeverletzung, die nach Art. 1 I GG kategorisch ausgeschlossen ist. Die Staatsgewalt hat die Würde eines jeden Menschen zu achten und zu schützen - und eben auch die Würde eines Entführers. Ebenso zeugt Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskommission (EMRK) vom absoluten Folterverbot, das auch im Kriegsfall oder bei Notstandsfällen Gültigkeit hat: "Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden." Betrachtet man Art. 1 der UN-Anti-Folter-Konvention stellen bereits Aussageerpressungen bei Gewaltandrohung von Personen, die sich in staatlichem Gewahrsam befinden, eine Form von "Folter" dar. Eine solche Anwendung von Zwang gegenüber dem Festgenommenen fand im Fall Metzler durch den Polizeivizepräsidenten Daschner eindeutig statt. Allerdings scheint hier ein Sonderfall vorzuliegen, da die Gewaltandrohung benutzt wurde, um eine beabsichtigte Abwehr einer Lebensbedrohung (und in diesem Zusammenhang die Rettung von Menschenleben) herbeizuführen. An diesem Punkt hat das Polizeirecht oberste Priorität, das in die Zuständigkeit des jeweiligen Bundeslandes fällt. Hier gilt: kann eine festgenommene Person als Entführer und (polizeirechtlich) "Handlungsstörer" identifiziert werden, so muss sie zur Beseitigung der Gefahr beitragen und demzufolge das Versteck preisgeben. Damit kann sich die Person allerdings selbst eines Verbrechens belasten, welches im späteren Strafverfahren gegen sie verwendet werden kann. In modernen Rechtsstaaten existiert deshalb das Aussageverweigerungsrecht.

Folgender Widerspruch wird erkennbar: Aus Gründen der Gefahrenabwehr müsste Aussagepflicht bestehen (Gefahrenabwehrrecht), aus Gründen fairer Strafverfolgung müsste diese jedoch ausgesetzt werden (Strafprozessrecht).


In Fällen, in denen der festgenommene Entführer keine Aussage machen will, bietet das Polizeirecht die Möglichkeit der Vollstreckung, soweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Wenn möglich, hat die Polizei die Gefahr selbst zu beseitigen. Muss sie auf den Handlungsstörer selbst zugreifen, stehen Zwangsgeld, Zwangshaft, Zwang gegen Sachen oder Personen und letzlich der Schusswaffengebrauch zur Verfügung. Im äußersten Notfall darf der finale Rettungsschuss eingesetzt werden. Exemplarisch gemäß § 54 II PolG Baden-Württemberg heißt es hier: "Ein Schuss, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist." Die Anwendung oder Androhung körperlichen Zwangs, also Folter, ist jedoch ohne Ausnahme nach § 35 I PolG BW verboten: "Die Polizei darf bei Vernehmungen zur Herbeiführung einer Aussage keinen Zwang anwenden".


Die Rechtslage zeigt demnach, dass festgenommene Personen nie in ihrem Willen gebrochen und zu einer Aussage gezwungen werden dürfen, auch wenn in der Konsequenz (und wie im Falle Metzler) ein unschuldiges Opfer sterben muss. Die Benutzung von Folter ist zur Herbeiführung einer Aussage gemäß Verfassungs- und Völkerrecht kategorisch verboten.

Privates Notwehr- und Nothilferecht

Im Gegensatz zu Amtspersonen gewährt das Strafgesetzbuch gemäß § 32 StGB Privatpersonen den körperlichen Eingriff gegenüber anderen Personen, sofern es sich um eine in Notwehr ausgeübte Handlung handelt. Hier heißt es: "Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden." In diesem Zusammenhang hätte die Familie von Jakob von Metzler dem Entführer gegenüber Gewalt und Folter anwenden dürfen, um das Versteck zu erfahren und so ggfls. das Leben des Jungen zu retten.

Diskussion

Der Fall Jakob von Metzler löste eine Diskussion um die Aufweichung bzw. Relativierung des Folterverbots aus, bei der es im Kern darum geht, einen Teil der Zivilität zugunsten der Rettung von Menschenleben aufzugeben. Es wird die Frage gestellt, ob in Entführungsfällen die Würde des Täters oberste Priorität haben sollte, oder ob zur Rettung eines Menschenlebens Foltermethoden zu rechtfertigen seien.

Konfliktsituation: Würde des Täters vs. Würde/Leben des Opfers

Es stellt sich die Frage, ob die Würde des Täters, welche durch die Gewaltandrohung missachtet werden würde, zugunsten der Würde bzw. des Lebens des Opfers in den Hintergrund geraten sollte. Denn auch das Opfer hat einen Anspruch darauf, dass seine Würde und sein Leben von staatlicher Seite gegenüber Übergriffen Dritter geschützt wird - und der Täter hat schließlich gegen das Gesetz verstoßen. Doch wie sollte an dieser Stelle verfahren werden? Muss Leben/Würde des Täters gegen Leben/Würde des Opfers abgewogen werden? Hat das Rechtsgut Leben (des Opfers) gegenüber dem Rechtsgut Würde (des Täters) Priorität? Sollte Opferschutz vor Täterschutz stehen? Würde man dieses bejahen, so hätte man ein Argument für die Aufhebung des absoluten Folterverbots.

Die "Erfolgsaussichten" von Folter

Ein gewichtiges Argument für die Aufrechterhaltung des absoluten Folterverbots stellt die nicht vorab einzuschätzende Möglichkeit dar, dass das Opfer während der Vernehmung möglicherweise bereits tot ist, so wie es auch im Fall Metzler der Fall war. Desweiteren ist unklar, wie bzw. ob der Entführer auf physische und psychische Zwänge überhaupt reagiert. Hier muss unbedingt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Beachtung finden, denn "Schmerzzufügung ist schlimm, mit jedem Akt stirbt nicht nur im Gefolterten, sondern in jedem von uns ein Stück Menschlichkeit, Zivilität und Würde" (Brugger 2006: 15).

Die Rolle der Polizisten

Nicht außer Acht gelassen werden darf zudem die Rolle der Polizisten, deren Entscheidung für oder gegen die Anwendung von Folter eine moralische Zumutung darstellen kann. In diesem Zusammenhang sollte genauestens hinterfragt werden, wie die Aufweichung des absoluten Folterverbots in Ausnahmesituationen interpretativ und legislativ formuliert werden kann.


Der Autor formuliert eine präzise Ausnahmekonstellation, nach der er die Aufweichung des Folterverbots als angemessen ansieht. Diese umfasst folgende acht Merkmale:

  1. eine klare,
  2. unmittelbare,
  3. erhebliche Gefahr für
  4. das Leben oder die körperliche Integrität einer Person durch
  5. einen identifizierten Aggressor, der
  6. gleichzeitig die einzige Person ist, die zur Gefahrenbeseitigung in der Lage und
  7. dazu auch verplichtet ist.
  8. Die Anwendung von Zwang ist das einzig erfolgversprechende Mittel.

Eine Ausnahme vom Folterverbot ist nicht gerechtfertigt, wenn

  1. ein bloßer Verdacht einer Gefahr vorliegt oder die Gefahr
  2. lediglich mittelbar oder
  3. unerheblich ist oder
  4. ein nicht so gewichtiges Rechtsgut -etwa Eigentum- betrifft oder wenn
  5. die Polizei die Gefahr selbst oder
  6. mit geringer eingreifender Mittel beseitigen kann.
  7. Gegen bloß Verdächtige oder dritte Personen - z.B. Verwandte oder Rechtsanwälte - darf nicht vorgegangen werden.

Ob diese Kriterien eine Ausnahme vom Folterverbot hinreichend rechtfertigen, ist umstritten.

Literatur

  • Literatur von und über Winfried Brugger in der Deutschen Nationalbibliothek [1]
  • Brugger, Winfried (2006): Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 36: 9-15.[2]

Weblinks

  • Podiumsdiskussion "Darf der Staat foltern?" [[3]]
  • Polizeigesetz Baden-Württemberg [4]
  • UN Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment [5]
  • Winfried Brugger [6]