Deprivation

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Deprivation bezeichnet einen Zustand des menschlichen Organismus, der in Folge des Mangels an Befriedigung seiner grundlegenden Bedürfnisse für eine genügend lange Zeit entstanden ist.

Etymologie

Das Substantiv Deprivation ist lateinischen Ursprungs. In der Literatur wird es als Beraubung und Ausplünderung bezeichnet, wobei seine Herkunft dort vom lateinischen Verb deprivare abgeleitet wird. In lateinischen Wörterbüchern wurde diese Form nicht vorgefunden, vielmehr das Verb depraedare oder depraedari. Beide leiten sich vom Substantiv depraedatio ab, das unter anderem Plünderung bzw. Ausplünderung bedeutet.


Begriffsbestimmung

Liegt ein echtes Bedürfnis vor, so reagiert der Körper mit Spannung und Unruhe. Das bildet die Grundlage, um eine Handlung zielgerichtet auszuführen. Sobald das Ziel durch ein gerichtetes Verhalten erreicht ist, ist das Bedürfnis befriedigt. Der Organismus befindet sich wieder in einem ausgewogenen Zustand. Bleibt das Bestreben für eine genügend lange Zeit erfolglos, so kommt es zu einem Mangelzustand. Es etabliert sich ein neues Gleichgewicht unterhalb der vorherigen Schwelle. Die defizitäre Lage wird folglich darin sichtbar, dass sich das Individuum nicht an die normalen Bedingungen seines sozialen Gefüges anpassen kann. Die Bedürfnisse sind dabei im Zusammenhang mit Individualität und Gesellschaft, in der das betreffende Individuum lebt, zu betrachten. Es kann angenommen werden, dass die elementaren menschlichen Bedürfnisse in allen Kulturen gleich sind und eine Differenzierung erst mit ansteigender Stufe in der Bedürfnishierarchie erfolgt. Die generelle Bezeichnung des Begriffes wird durch das Bedürfnis eingegrenzt, dessen Mangel den entscheidenden Einfluss bei der Entstehung von seelischen Störungen ausübt. Dabei ist eine Einordnung aller natürlichen Situationen, die Deprivation verursachen können, schwer möglich. Diese erfolgt auf der Grundlage empirischen Wissens, wobei in Typen der sozialen Bedingungen klassifiziert wird. Es werden verschiedene Arten von Deprivation unterschieden. Überschneidungen sind hierbei möglich.

Psychische Deprivation

Psychische Deprivation ist ein seelischer Zustand, der infolge einer Deprivationssituation entsteht. Diese ist dann gegeben, wenn psychische Grundbedürfnisse nicht rechtzeitig und zureichend befriedigt werden. Die Verarbeitung dieses Reizmangels führt zu einer Ausprägung gewisser charakteristischer Merkmale, den Deprivationsfolgen. Dabei gibt es während der menschlichen Entwicklung besonders sensible Zeiträume hinsichtlich der Deprivation. Jedoch zeigen sich beachtliche individuelle Unterschiede in den Auswirkungen derartiger Situationen, welche offenbar von Alter, Geschlecht und anlagebedingten Eigenschaften abhängen. Während einer Deprivationssituation in der kindlichen Entwicklung unterscheidet man die Isolation und die Separation. Bei der Isolation entsteht erst gar keine Mutter-Kind-Beziehung bzw. vergleichbare Beziehung zu anderen Bezugspersonen. Die totale Isolation zu menschlichen Kontakten stellt die schwerste Form der Deprivation mit den schwersten Folgen dar. Diese ist äußert selten. Der Prozess der Separation gehört zur natürlichen Entwicklung des Menschen. Eine bereits vorhandene Beziehung zwischen dem Kind und seiner Bezugsumgebung wird dabei unterbrochen. Findet dieser Bruch entsprechend der kindlichen Entwicklungsstufe vorzeitig statt, so kann Separation gefährlich und zum Deprivationsfaktor werden. Da die pathologischen Merkmale nicht eindeutig zusammengefasst werden können, ist die Deprivation nicht wie andere psychischen oder somatischen Erkrankungen diagnostizierbar. Die Auswirkungen von Deprivation sind vielfältig und wechselhaft. Sie reichen von leichten bis schweren Schäden hinsichtlich der Intelligenz- und Charakterausprägung, können neurotische und psychopathische Krankheitszüge sowie somatisch bedingte Auffälligkeiten tragen. Die unzureichende Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse kann oftmals ersetzt werden, dann jedoch nicht ausreichend und genügend. Je gravierender die Deprivation war, desto weniger können die Defizite ausgeglichen werden. Therapien sind äußerst kompliziert und aufwendig. Daher sollte das Augenmerk auf die Vorbeugung gerichtet sein. Für eine Behandlung kommen Reaktivierung, Redidaxis, Reedukation und Resozialisation in Betracht.

Der Einschätzung von Langmeier und Matejcek (1977: 230) zufolge bestätigen die Ergebnisse experimenteller Studien die Konzeption psychischer Grundbedürfnisse, nämlich dem Bedürfnis nach

  • Variabilität, d.h. veränderliche und fortschreitende Reizeinwirkung
  • Stabilität, d.h. Kontinuität in Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem
  • Abhängigkeit, d.h. Bindung zur Außenwelt
  • Unabhängigkeit i.S. einer voll bewussten Persönlichkeit und Selbständigkeit.

Folgende Theorien setzen sich mit den unterschiedlichen Formen psychischer Deprivation auseinander (vgl. Langmeier; Matejcek 1977: 236):

  • Stimulationstheorien von Schaffer, Lipton-Provence, u.a. bei Mangel an Gesamtstimulation (sensorische Deprivation)
  • Lerntheorien bei Mangel an Gelegenheiten für wirksames Lernen (kognitive Deprivation)
  • psychoanalytische und einige ethologische Theorien bei Mangel an Gefühlsbeziehungen (psychische Deprivation)
  • Mangel an Voraussetzungen zum Aneignen entsprechender persönlich-sozialer Rollen (Identitätsdeprivation)

Mutter-Deprivation

Die Mutter-Deprivation wird als mangelnde Gefühlsbindung zwischen Mutter und Kind verstanden. Das Kind muss dabei nicht zwingend von der Mutter getrennt sein, sondern es genügt, wenn seine Grundbedürfnisse nicht zuverlässig und ausreichend befriedigt werden. Bei dieser Ermangelung an Zuwendung kommen vielfältige Formen in Betracht. So sind körperliche Vernachlässigung, Verweigerung, Entzug von Liebe und Zuneigung, Desinteresse am Handeln, am Beobachten und am Erfolg des Kindes denkbar. Sind Säuglinge und Kleinkinder dieser Vernachlässigung ausgesetzt, so bilden sie in der Regel ein atypisches Bindungsmuster aus. Dieses äußert sich in Unsicherheit, Desorganisation und inkonsistentem Verhalten gegenüber der Bezugsperson. Die Erfahrung mit derartigen unsicheren Bindungen birgt die Gefahr in sich, auf neue soziale Kontakte übertragen zu werden. Das wiederum wirkt sich darauf aus, wie Beziehungen zu anderen Menschen gestaltet werden. Ebenso ist eine Form der Vater-Deprivation denkbar. Bei der Bedürfnisbefriedigung kommt es eher auf eine enge Bindung zu einer Bezugsperson als auf eine leibliche Mutter- oder Vaterrolle an. Vielschichtige Überschneidung gibt es hier unter anderem zur psychischen Deprivation, sodass die Mutter-Deprivation und ähnliche Erscheinungsformen diesem Bereich auch zugeordnet werden können.

Sensorische Deprivation

Die sensorische Deprivation bezeichnet den körperlichen Zustand als Folge des Vorenthaltens oder Entzugs von Sinnesreizen für eine genügend lange Zeit. Aufgrund einer neuronalen Desorganisation zeigt sie sich als Störung im Bereich der Sinnesorgane. Tests an Menschen und Versuche an Tieren bezogen auf visuelle Wahrnehmung haben gezeigt, dass es eine "kritische Phase (…) für die normale Sinnes- und Wahrnehmungsentwicklung geben muss" (Myers 2014: 264). Schon nach wenigen Tagen der Beeinträchtigung treten schwerwiegende Störungen auf (vgl. Dorsch; Häcker; Becker-Carus 2004: 194).

Relative Deprivation

Das Konzept der relativen Deprivation dient als theoretisches Fundament, um zwischenmenschliche Vergleiche im Kampf um Status und Anerkennung zu erforschen und darstellbar zu machen. Nach Ende des 2. Weltkrieges gewann es in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung an Bedeutung und entwickelte sich in den kommenden Jahren fort. Stouffer et. al. erwähnten das Konzept 1949 erstmals. Die Ursache für ein Gefühl der Benachteiligung sahen sie in dem zwischenmenschlichen Vergleich, in dessen Folge sich eine Person zu einer Bezugsperson oder -gruppe ungerecht behandelt fühlt (vgl. Schmidt 2008: 23). 1959 erweiterte Daves dieses Konzept durch 6 Annahmen. Eine davon beruht auf der Bewertung persönlicher Zufriedenheit in Abhängigkeit davon, was der Vergleich zwischen der subjektiv wahrgenommenen Position und der Position von ähnlichen Bezugspersonen ergibt. Besitzen die Bezugspersonen im Gegensatz zur vergleichenden Person ein begehrtes Attribut oder Objekt, so kann bei der letztgenannten Person ein Gefühl der Deprivation entstehen. Die tatsächlich eingenommene Position ist dabei nebensächlich. Den bedeutendsten Beitrag zu dieser Diskussion lieferte Runciman 1966. Er unterschied zwei Formen des Vergleichs, die unter der egoistischen und der fraternalen relativen Deprivation erfasst wurden. Um egoistische Deprivation zu begründen, müssen seiner Ansicht nach bei der vergleichenden Person 4 Bedingungen erfüllt sein (vgl. Dorsch 2014: 385, Schmidt 2008: 26):

  • sie verfügt nicht über ein erstrebenswertes Objekt
  • sie erkennt, dass eine Bezugsperson dieses Objekt besitzt
  • sie möchte dieses Objekt unbedingt besitzen
  • sie schätzt ein, dass das begehrte Objekt ein realistisches Ziel ist.

Das bedeutet, dass die individuell empfundene Position in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Schneidet die eigene Person im Vergleich zu anderen aus der gleichen Gruppe schlechter ab, so entsteht ein Gefühl der Benachteiligung. Psychische und psychosomatische Beschwerden wurden hierbei als Folge beobachtet. Die fraternale Deprivation bewertet die Stellung der Binnengruppe als Ganzes, welche im Vergleich zu anderen Bezugsgruppen als benachteiligt erlebt wird. Die zuvor genannten 4 Kriterien werden auch hier herangezogen. Crosby formulierte 1976 das Konzept neu, wobei jedoch die Gruppenspezifik wenig Beachtung fand (vgl. Schmidt 2008: 28). Auch Merton und Gurr setzten sich mit dem Ansatz auseinander.


Kriminologische Relevanz

Das Konzept der relativen Deprivation eignet sich als Erklärungsansatz für eine Vielzahl gesellschaftlicher Phänomene, die auf sozialen Vergleichsprozessen beruhen. In Analysen und Studien wurde darauf Bezug genommen, um unter anderem Armut, Arbeitszufriedenheit, Spannungen zwischen ethnischen Gruppen, Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung von Frauen, usw. zu erforschen. Zudem erbrachten Befunde von Studien Anhaltspunkte darüber, ob und in welchem Ausmaß Deprivation in bestimmten Bevölkerungsgruppen aufgetreten war, sei es in psychischer, relativer, ökonomischer und anderer Form. Das wiederum stellte eine Handlungsgrundlage für sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen dar, wie z.B. die Entscheidung über die Verteilung von Ressourcen zwischen Ost- und Westdeutschland nach der Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands. Die von Deprivation betroffenen Menschen sind Teil eines komplexen sozialen Gefüges, das durch deren Verhalten direkt und indirekt beeinflusst wird. Die diesem Phänomen innewohnende Problematik von Mangel und Benachteiligung befindet sich im Kontext zu Viktimisierung und Devianz.


Ähnlich verwendete Begriffe

Hospitalismus; psychische Entbehrung; emotionale Deprivation, soziale Deprivation, ökonomische Deprivation


Literatur

  • Wolf, Carina (2006): „Relative Deprivation: riskante Vergleiche treffen schwache Gruppen“. In: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände Folge 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 67-86
  • Schmidt, Jörg (2008): „Relative Deprivation, Arbeitszufriedenheit und Betriebswechsel“. In: Schriften zur Empirischen Wirtschaftsforschung 11, 1-255
  • Schorr, Angela (1993): Handwörterbuch der angewandten Psychologie: die angewandte Psychologie in Schlüsselbegriffen. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag GmbH
  • Wirtz, Markus A. (2014): Dorsch. Lexikon der Psychologie. 17. vollst. überarb. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber
  • Jonas, Klaus; Stroebe, Wolfgang; Hewstone, Miles (2014): Sozialpsychologie. 6. vollst. überarb. Aufl. Berlin Heidelberg: Springer Verlag
  • Walper, Sabine (1988): Familiäre Konsequenzen ökonomischer Deprivation. München und Weinheim: Psychologie Verlags Union
  • Myers, David G. (2014): Psychologie. 3. vollst. überarb. u. erw. Aufl. Berlin: Springer
  • Dorsch, Friedrich; Häcker, Hartmut O. ; Becker-Carus, Christian (2004): Dorsch. Psychologisches Wörterbuch. 14. vollst. überarb. u. erw. Aufl. Bern: Verlag Hans Huber
  • Langmeier, Josef; Matejcek, Zdenec (1977): Psychische Deprivation im Kindesalter: Kinder ohne Liebe. München: Urban & Schwarzenberg
  • Grubmüller, Klaus et. al. (1988): Vocabularius Ex quo. Tübingen: Max Niemeyer Verlag
  • Niermeyer, Jan F.; Kieft, Co, van de; Burgers, Jan W.J. (2002): Mediae Latinitatis Lexicon Minus. 2. vollst. überarb. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
  • Georges, Karl-Ernst et. al. (2013): Der Neue Georges. Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft