Brasilien

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Vorindustrielle Oberschichten

Großgrundbesitzer und andere Machthaber im Landesinneren von Nordost-Brasilien beschäftigten früher - und in Einzelfällen wohl auch heute noch - bewaffnete Dienstleister, die man als Jagunços bezeichnete (port: zarguncho = kurze Lanze afrikanischer Herkunft). Ihre Aufgabe bestand in der Verteidigung der Ländereien gegen Landbesetzer und konkurrierende Großgrundbesitzer, aber auch in der Kontrolle von Sklaven, Leibeigenen oder Tagelöhnern. Einige Großgrundbesitzer verfügten über ganze private Milizen von erheblichem Einfluss. Darüber hinaus gab es selbständig tätige jagunços, die man für begrenzte Konflikte anheuern konnte (als Vigilanten oder für Auftragstötungen). Die Volksweisheit in der Region warnt vor den besonders gefährlichen gelbäugigen jagunços. Der Begriff wurde später auf alle Arten ländlicher Banditen oder Outlaws angewandt, wie z.B. auch auf die cangaceiros (berühmtester Vertreter: Lampião). In abwertender Absicht wurden auch die Einwohner von Canudos im Hinterland von Bahía als jagunços bezeichnet, deren von dem religiösen Mystiker und messianischen Anführer Antônio Conselheiro gegründete Gemeinschaft im Oktober 1897 im Krieg von Canudos zerstört wurde.

Militär

Rechtssystem

Verfassung

Das Rechtssystem Brasiliens ist Produkt des Demokratisierungsprozesses, der nach der Militärdiktatur 1986 einsetzte. Dieser Prozess fand seinen Ausdruck in der neuen Verfassung, die am 5.10.1988 in Kraft trat – die Constituição da República Federativa do Brasil. Sie ist die siebte Verfassung des Landes.

Überblick über die brasilianischen Verfassungen:
* Reichsverfassung (1824)
* República Velha (1891)
* Revolução 1930 (1934)
* Estado Novo (1937)
* Redemokratisierung (1946)
* Diktatur 1967 (1967)
* Emenda 1/69 (1969)
* Verfassung 1988 (1988)

Die Verfassungsgebung war geprägt von dem Wunsch, sich von der Militärdiktatur und ihrer Gesetzgebung zu distanzieren. Entsprechend schnell wurde die Verfassung verabschiedet. Allein in den ersten 15 Jahren ihres Bestehens wurde die Verfassung dann jedoch 46mal geändert. Wesentlicher Inhalt der Verfassung sind die Grundrechtsgarantien der Bürger, die zur Zeit der Militärdiktatur Einschränkungen erfahren hatten. Darüber hinaus regelt das Gesetz eine Vielzahl anderer Lebensbereiche – z. B. die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel von Personen ab 66 Jahren (Artikel 230. § 2) oder der Kulturbesitz und Denkmalschutz (Artikel 216). Aus dieser Detailliertheit und Unübersichtlichkeit ergibt sich der Hauptkritikpunkt an der Verfassung. Die häufigen Änderungen gehen zu Lasten der Transparenz (Vgl. Ramos:2004, S. 26 ff.).

Wahlkampfspenden

The Guardian 2015 reports: According to “The Spoils of Victory”, a US academic study into campaign donations and government contracts in Brazil, corporate donors to the PT in the 2006 elections received between 14 to 39 times the value of their donations in government contracts.

Ziviljustiz

Die brasilianische Gerichtsverfassung sieht die Einheitsjustiz vor: Die ersten beiden Instanzen finden sich auf Landesebene, die dritte beim Bundesgerichtshof der Justiz (Superior Tribunal de Justiça). Weiterhin gibt es den Verfassungsgerichtshof als Oberstes Bundesgericht (Supremo Tribunal Federal). Seine Funktion ist als reiner Staats- und Verfassungsgerichtshof zu sehen. Daneben bestehen die allgemeine Bundesgerichtsbarkeit sowie die besonderen Bundesgerichtsbarkeiten mit Militär-, Arbeits- und Wahljustiz. Die Arbeitsgerichte sind wie in Deutschland teilweise mit ehrenamtlichen Richtern als Repräsentanten der Arbeitnehmer und –geber besetzt. Die Zuständigkeit der Wahlgerichte erstreckt sich auch auf die Durchführung der Wahlen. Sie werden in erster Instanz meist mit Landesrichtern erster Instanz besetzt. Diese erfahren dadurch in den Wahljahren eine Doppelbelastung.

Die allgemeine Bundesgerichtsbarkeit ist zuständig für zivil-, straf- und verwaltungsrechtliche Streitigkeiten, bei denen der Bund, eine seiner Körperschaften oder eines seiner öffentlichen Unternehmen Beteiligter ist. Meist geht es um finanz-, sozialversicherungs- oder verwaltungsrechtliche Verfahren. Die erste Instanz wird hauptsächlich mit Bundesrichtern besetzt. Da diese aber vorzüglich in den großen Städten Brasiliens angesiedelt sind, was zu großen räumlichen Entfernungen für die Parteien führen kann, können den Landesrichtern erster Instanz per Gesetz auch die Aufgaben der Bundesrichter übertragen werden. Für die zweite Instanz wurden am 30.3.1989 fünf dezentralisierte Regionale Bundesberufungsgerichte eingerichtet. Die Standorte sind Brasília, Rio de Janeiro, São Paulo, Porto Alegre und Recife.

Bei der Landesgerichtsbarkeit werden die erstinstanzlichen Gerichte mit Einzelrichtern (Juizes de Direito) besetzt. Auf dem Land besteht häufig nur eine einzige Richterstelle (Vara Única). Dieser Richter muss dann über alle Rechtsstreitigkeiten – unabhängig von dessen Rechtsnatur – in seinem Bezirk entscheiden. In den Hauptstädten gibt es dagegen die Möglichkeit der Aufgabenteilung nach Rechtsgebieten und einer entsprechenden Spezialisierung der Richter. Innerhalb verwaltungsrechtlicher Verfahren gibt es meistens mindestens zwei verwaltungsinterne Vorverfahren ohne Anwaltszwang im Vorfeld gerichtlicher Verfahren, die ein hohes Maß an praktischer Bedeutung für sich beanspruchen. An allen erstinstanzlichen Landesgerichten befinden sich Geschäftsstellenleiter und Gerichtsvollzieher bzw. Justizwachtmeister (Oficiais de Justiça). Jede Gerichtsstelle führt ihren eigenen Haushalt. Die zweite Instanz wird in allen Ländern und im Bundesdistrikt Brasília durch ein Tribunal de Justiça als Oberstes Landesgericht gestellt. Die dortigen Richter (Desembargador) sind neben der Rechtsprechung auch mit Justizverwaltung betraut. Dies umfasst auch die Mitwirkung bei der Gesetzgebung und beim Haushalt (Vgl. Henckel:1991, S. 39 ff.).

Die Gerichte sind zum überwiegenden Teil mit Richtern besetzt. Nach Art. 94 der brasilianischen Verfassung sind jedoch 20 % der Bundes- und Landesgerichte zweiter Instanz Staatsanwälten und Anwälten vorbehalten (Vgl. Madlener:1999). Beide Berufsgruppen müssen nach Art. 94 der brasilianischen Verfassung eine zehnjährige Berufspraxis aufweisen, die Rechtsanwälte darüber hinaus eine anerkannte Fachkompetenz und einen untadeligen Ruf.

Die Ausstattung der Gerichte ist weitestgehend schlecht: Insbesondere die Gerichte auf dem Land leiden unter der desolaten personellen Ausstattung. Die Ausbildung der Juristen beruht in Brasilien einzig auf dem Studium der Rechtswissenschaften; einen dem deutschen Referendariat vergleichbaren Vorbereitungsdienst gibt es nicht. Die jungen Richter haben einzig eine Zulassungsprüfung zum Amt abzulegen. Sodann werden sie meist Gerichtsständen in ländlicher Gegend zugeteilt, wo sie als einziger Richter zunächst auf sich allein gestellt sind. Auch die materielle Ausstattung ist im Landesinneren ungenügend. Hinzu kommt die hohe Belastung der Rechtsprechungsorgane im gesamten Land. Es kann von einer Klageflut gesprochen werden (Vgl. Henckel: 1991: S. 51 ff.; Paul:2002, S. 8 ff.). Die Gerichte können diese nicht mehr in angemessener Zeit bewältigen. Dies führt regelmäßig zu einer ausgesprochen langen Verfahrensdauer.

Dieses Ausmaß der Inanspruchnahme der Ziviljustiz begegnete man 2004 mit einer besonderen Reform der Verfassung: Am 8.12.2004 wurde die Verbindlichkeit höchstrichterlicher Entscheidungen (súmulas vinculantes) festgelegt. Nunmehr haben sich landesweit alle Gerichte und Exekutivorgane an die höchstrichterlichen, letztinstanzlichen Auslegungen von Gesetzes- und Verfassungsrecht zu halten. Ein Zuwiderhandeln erfüllt unter Umständen den Straftatbestand der Rechtsbeugung durch unerlaubte Auslegung (crime de hermeneútica). Die Entscheidungen der obersten Instanzen erlangen damit quasi Gesetzeskraft. Diese Rechtsausübungspraxis, die an das aus dem angelsächsischen Richterrecht bekannte case law erinnert, führt in Brasilien zum einen zu einer schnelleren Bewältigung gleich gelagerter Rechtsstreitigkeiten: Das entscheidende Gericht muss nur der ständigen Rechtsprechung folgen und nicht selber das Recht auslegen. Weiterhin werden die höchsten Gerichte entlastet, da diese einmal entschiedenen Rechtsstreite nun nicht mehr bis zu ihnen gelangen. Zum anderen geht dies aber zu Lasten der richterlichen Unabhängigkeit: Richterliche Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung sind nicht mehr möglich. Denn die höchstrichterliche Rechtsprechung hat das Gewicht von Gesetzen, da sie von jedermann zu befolgen ist. Hierin wird eine Verletzung der Montesquieuschen Gewaltenteilung gesehen (Vgl. Oberheiden:2009, S. 32 ff.).

Der grundsätzliche Anwaltszwang sichert die Bedeutung der brasilianischen Anwaltschaft. Anwalt ist, wer ein abgeschlossenes Jurastudium sowie die Zulassung durch die brasilianische Anwaltskammer vorweisen kann. Für letzteres bedarf es eines Praktikums in den letzten beiden Studienjahren oder der Ablegung einer Zulassungsprüfung. Die Anwaltshonorare sind nicht gesetzlich geregelt, die Anwaltkammern geben aber Tabellen zur Orientierung heraus(Vgl. Henckel:1991, S. 64 ff.). Durch den Anwaltszwang und die große Bandbreite an Anwaltskosten entscheidet sich die Frage der Rechtsdurchsetzung meist nach dem finanziellen Hintergrund der betroffenen Person. Das Rechtssystem ist faktisch also nur einem Teil der Bevölkerung zugängig.

Neben zahlreichen Einzel- und Spezialvorschriften ist das Strafrecht in folgenden Gesetzbüchern normiert: dem Strafgesetzbuch Código Penal, der Strafprozessordnung Código de Processo Penal sowie dem Gesetz über strafrechtliche Übertretungen Lei das Contravenções Penais. Im Strafverfahren gilt das Mündlichkeitsprinzip, so dass sich der Strafrichter ein eigenes Bild vom Angeklagten machen kann, wenn dieser vor Gericht erscheint bzw. vorgeführt wird. Ein rein schriftliches Verfahren genügt nicht. Mit der Einführung der Juizados de Pequenas Causas und Juizados Especiais Cíveis e Criminaís in den 1990er Jahren wurden vereinfachte Verfahren für Bagatelldelikte geschaffen. Im Schnitt werden in Brasilien die Armen häufiger und schwerer bestraft, was sich auch in der Belegung der Gefängnisse zeigt. Die Polizeibeamten sind schlecht ausgebildet und kriminaltechnisch unzureichend ausgestattet. Die Strafverfolgungsbehörden werden dem Ausmaß der Kriminalität kaum mehr gerecht. Dies führt zu einer Verlagerung der Strafverfolgung in den privaten Raum. Dies sind beispielsweise die Justiçeiros und Todesschwadronen. Jugendliche ab 18 Jahren sind strafrechtlich verantwortlich. Nach dem Jugendstrafgesetzbuch Estatuto da Criança e do Adolescente dürfen minderjährige Jugendliche nicht inhaftiert werden. Straffällige unterhalb der Strafmündigkeitsgrenze werden typischerweise von der Polizei festgenommen und u. U. für einige Wochen festgehalten, dann aber wieder frei gelassen. Diese Straflosigkeit hat den Nachteil, dass die Opfer der typischen Jugendkriminalität wie Diebstahl oder Botengänge beim Drogenhandel das Recht selbst in die Hand nehmen und Selbstjustiz üben (z. B. das Massaker an schlafenden Straßenkindern vor der Kirche Candelâria in Rio de Janeiro – allerdings von Polizisten selbst durchgeführt) (Vgl. Madlener:1991).

Auf der Ebene der Justizbediensteten schlägt sich die schlechte Besoldung in einem massiven Problem der Korruption nieder. Die zur Kontrolle des Finanzwesens eingerichteten Rechnungshöfe (Tribunais de Contas) überprüfen den gesamten Umgang mit öffentlichen Geldern und somit auch die Geschäftsstellen der Gerichte. Die personelle Besetzung entscheidet sich nach politischen Kriterien; die Entscheidung treffen der Regierungschef sowie die Legislative von Bund, Ländern und Gemeinden. Qualifikation und Bewährung spielen dabei keine Rolle. Die Effizienz der 34 Rechnungshöfe Brasiliens wird stark kritisiert: Die Verfahrensdauer sei zu lang, die Verhinderungsrate zu gering und die Unabhängigkeit der Institutionen fragwürdig. Darüber hinaus stehen die Rechungshöfe selbst im Verdacht der Korruption (Vgl. Speck:2002, S. 115 ff.). Ein weiteres Kontrollorgan bilden die corregedorías im Bereich der Polizei. Die Büros sind in den Polizeibehörden angesiedelt und meist dauerhaft besetzt (Vgl. Madlener:1999).

Viele der aufgezeigten Defizite sind nicht in dem Rechtssystem selbst begründet. Die Verfassung Brasiliens hat einen umfassenden Katalog von Grundrechtsgarantien; sie wird deshalb auch als "Bürgerverfassung" bezeichnet (Vgl. Ramos:2004, S. 27). Die Rechtsordnung sieht keine Differenzierung zwischen den gesellschaftlichen Schichten oder Ethnien vor. Formal kann sich also ein jeder Bürger der Rechtsordnung bedienen. Praktisch scheitert dies aber an den äußeren Umständen wie den sozialen Unterschieden in der Bevölkerung und der enormen Größe des Landes, die eine vollständige Erschließung durch das Recht erschwert.

Polizei

Rota 66

Todesschwadronen

Todesschwadronen Foltermethoden


Strafvollzug

Zustände

Amnesty International zufolge, gab es in Brasilien im Jahr 2011 ca. 500 Haftanstalten (vgl.: Amnesty International:2012). Daneben gibt es etliche Polizeidienststellen mit Gewahrsams- bzw. Hafträumen. Im März 2007 beliefen sich die Zahlen der gesamten Unterbringungsmöglichkeiten, d. h. Haftanstalten und Polizeidienststellen mit Gewahrsamsräumen, auf 1079 Einrichtungen (vgl.: Jean:2012, S. 474). Heute wird die Anzahl weitaus höher sein, da die Regierung in den letzten Jahren weiterhin in den Neubau von Strafvollzugsanstalten investiert hat. 2011 waren in den Haftanstalten insgesamt ca. 515.000 Gefangene untergebracht, wovon ca. 44 % der Personen in Untersuchungshaft waren. Offiziell werden die Strafeinrichtungen Brasiliens zwar in zwei Typen unterschieden „those for correction and those for detention“ (vgl.: Jean:2012, S. 472), in der Praxis gibt es diese Unterscheidung zwischen Gefangenen und U-Haftgefangenen bzw. Arrestanten allerdings nicht. Es gelten für beide dieselben Bedingungen. „Mehrfachmörder und Ladendiebe sitzen in einer Zelle, auf frischer Tat Ertappte ebenso wie bereits Verurteilte – und das bis zu zwei Jahren“ (Langer:2012), so Sven Hilbig, Brasilienexperte der Menschenrechtsorganisation Justiça Global.

Die Gefängnisse in Brasilien sind durch massive Überbelegung gekennzeichnet. Grund hierfür ist die vorherrschende Strafrechtspraxis Brasiliens. Sie ist zum einen geprägt durch die Kriminalisierung sozial schwacher Bevölkerungsschichten und zum anderen durch das Drogengesetz aus dem Jahr 2006. In Folge des Gesetzes werden bereits kleine Delikte mit Haftstrafen geahndet. Zur Inhaftierungspraxis kommt hinzu, dass die U-Haftgefangenen in den Zellen oft monatelang auf ein Verfahren warten müssen. Aus diesen Gründen wächst die Anzahl der Gefangenen in Brasilien stetig an. Ein weiteres Problem besteht darin, dass es in nahezu ganz Lateinamerika keine Verwaltungsvorschriften über die Rechte von Gefangenen gibt (vgl.: Tiffer-Sotomayor:2000, S. 206). Die vorherrschende „Gesetzeslosigkeit“ spiegelt sich in den Haftbedingungen wider.

In den Haftanstalten herrschen erniedrigende, menschenunwürdige Bedingungen (vgl.: Jean:2012, S. 473, The Economist:2012 und Cross & MacDonald:2009, S. 347). Zurzeit wird davon gesprochen, dass auf einen Haftplatz drei Gefangene kommen, das bedeutet eine Überbelegung von 2/3. In einzelnen Haftanstalten liegt die Überbelegung noch weitaus höher. Es gibt Fälle, in denen Gefängniszellen für acht Personen gebaut wurden, jedoch bis zu 48 Gefangene eingesperrt sind. Das heißt für die Gefangenen, dass in Schichten geschlafen werden muss, da es nicht ausreichend Betten, bzw. Liegeplätze gibt. Hinzu kommt, dass die Anstalten überwiegend veraltet sind. Es gibt nur unzureichend sanitäre Anlagen. Da die Zellen nicht klimatisiert sind, herrscht eine unerträgliche Hitze. Die Räumlichkeiten sind durchzogen von einem Dunst, der nach Erbrochenem und Fäkalien stinkt. Infektionskrankheiten, wie verschiedene Formen von Wundbrand und Tuberkulose stehen an der Tagesordnung. Medizinische Versorgung gibt es entweder gar nicht oder nur unzureichend. Für jeden der Gefangenen bedeutet das Eingesperrtsein ein Kampf ums Überleben. Kriminalität jeglicher Form kommt täglich vor. Gewalt ist ein charakteristisches Merkmal für den Strafvollzug in Brasilien (vgl.: Cross & MacDonald:2009, S. 347). Folter, Misshandlungen und Vergewaltigungen gehören zur Tagesordnung. „A prisoner pays for everything inside, including a place to sleep and even the right to live.“ (The Economist:2012)

Die Zustände in den Gefängnissen Brasiliens führen immer wieder zu Aufständen und Massakern. Am 02.10.1992 verübte die Militärpolizei in der Strafanstalt Carandiru das wohl größte Massaker, bei dem es 111 Tote gab. Als Reaktion auf diese Massenhinrichtung, gründeten Gefangene 1993 das PCC (Primeiro Comando da Capital; dt.: Erstes Kommando der Hauptstadt). Es handelt sich dabei um eine kriminelle Organisation, die Amnesty International zufolge unter Anderem Strafanstalten kontrolliert. Anhänger der PCC arbeiten auch mit korrupten Justizangestellten und Polizisten zusammen.

Der amtierende Justizminister Brasiliens, José Eduardo Cardozo, äußert sich bezüglich des brasilianischen Strafvollzugs dahingehend, dass er lieber sterben würde, als darin inhaftiert zu sein. „If I had to spend many years locked up in one of our prisons, I would rather die.“ (Conectas:2012) Weiterhin spricht er von mittelalterlichen Zuständen in den Gefängnissen, in denen eine Resozialisierung unmöglich sei. (vgl.: Conectas:2012)

Der brasilianische Strafvollzug in den Medien - Beispiele

Neben den immer wiederkehrenden Aufständen, wird in den Medien regelmäßig von weiteren Schicksalen berichtet, die den Alltag in brasilianischen Gefängnissen wiederspiegeln. So macht Amnesty International im Brasilien Report 2012 auf ein 14-jähriges Mädchen aufmerksam, das in die halb offene Haftanstalt Heleno Fragoso im Großstadtgebiet von Belém gelockt wurde. Dort wurde sie unter Drogen gesetzt und vier Tage lang wiederholt vergewaltigt. Sie konnte später entkommen. (vgl.: Amnesty International:2012) Laut Amnesty International wurden in dieser Haftanstalt weitere Jugendliche als Prostituierte festgehalten.

Ebenfalls für Schlagzeilen sorgte der Fall eines 15-jährigen Mädchens, das Spiegel Online (vgl.: Langer:2007) zufolge, vorgeworfen wurde, etwas gestohlen zu haben. Es wurde daraufhin in Polizeigewahrsam genommen und mit mindestens 20 Männern in eine Zelle gesperrt. Dort musste es einen Monat bleiben, wurde vom ersten Tag an vergewaltigt und gezwungen sein Essen mit Sex zu bezahlen.

Obwohl es laut brasilianischem Strafvollzugsgesetz verboten ist, Männer und Frauen in eine Zelle zu sperren, findet dies regelmäßig statt. „Die Gesetze werden […] von den Vollzugsbeamten und den Direktoren systematisch verletzt“ (Langer:2007) kritisiert Hilbig (Justiça Global).

Maßnahmen für verbesserte Haftbedingungen

Die Regierung Brasiliens zeigt sich bemüht die Haftbedingungen in den Strafanstalten zu verbessern. Dazu wurden einige Maßnahmen initiiert. So wurden dem Kongress im Oktober 2012 ein Gesetzesentwurf zur Einführung Nationaler Präventivmaßnahmen (Mecanismo Preventivo Nacional), sowie ein Gesetzesentwurf für die Prävention und Beseitigung von Folter (Comitê Nacional de Prevenção e Combate à Tortura), vorgelegt. (vgl.: Amnesty International:2012) Beide Entwürfe entsprechen dem Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter. Teilweise soll mit der Umsetzung der Entwürfe bereits begonnen worden sein. Menschenrechtsorganisationen wie Conectas beklagen allerdings, dass es entsprechende Entwürfe zwar immer wieder gebe, es meist jedoch nicht zu einer Umsetzung komme. (vgl.: Conectas:2012)

Da die Regierung der Überzeugung ist, dass Freiheitsstrafen die beste Möglichkeit gegen Kriminalität sind, wird weiterhin in den Neubau weiterer Strafanstalten investiert. „Echte Alternativen zu Gefängnisstrafen existieren praktisch nicht.“ (Tiffer-Sotomayor:2000, S. 206) Daneben gibt es Maßnahmen, mit denen Gefangene ihre Haftzeit verkürzen können.

An dem Projekt „Erlösung durch Lesen“ (Reuters:2012) beteiligen sich vier Haftanstalten. Geeignete Gefangene können Bücher lesen, die als Klassiker der Wissenschaftsliteratur, Philosophie und Belletristik zählen. Sie haben pro Buch bis zu vier Wochen Zeit, das Werk zu lesen und einen Aufsatz zu schreiben. Die schriftlichen Abhandlungen müssen leserlich und möglichst fehlerfrei sein, sowie Absätze und freie Seitenränder haben. Pro gelesenem Buch bekommen die Gefangenen vier Tage Hafterlass. Die Verkürzung soll bei maximal 12 Büchern pro Jahr greifen (bis 48 Tage Verkürzung/Jahr). André Kehdi, ein Anwalt aus São Paulo, der ein Projekt betreut, welches Bücherspenden für Gefängnisse sammelt, ist der Überzeugung, dass „die Teilnehmer das Gefängnis als bessere Menschen verlassen“ (Reuters:2012) werden, da sie das „Gefängnis aufgeklärter und mit einer erweiterten Sicht auf die Welt verlassen.“ (Reuters:2012)

Durch eine weitere Maßnahme der Regierung bekommen Gefangene Hafterlass durch Radfahren (vgl.: Euronews:2012). In einer Haftanstalt im Staat Minas Gerais im Südwesten Brasiliens wurden einige Standräder installiert, die durch Betätigung Strom erzeugen und Batterien aufladen. Das Projekt hat damit zwei positive Aspekte. Zum einen werden durch den erzeugten Strom zehn Straßenlaternen zum Leuchten gebracht und zum anderen bekommen die Gefangenen durch drei Tage Radfahren einen Tag Hafterlass. Das Projekt wurde von den USA übernommen und soll landesweit in den Gefängnissen eingesetzt werden.


Literatur

  • Barcellos, Caco Rota 66
  • Cross, M. & MacDonald, B. (2009): Nutrition in Institutions, Wiley-Blackwell
  • Henckel, H.-J. (1991):Zivilprozeß und Justizalternativen in Brasilien, Recht, Rechtspraxis, Rechtstatsachen – Versuch einer Beschreibung
  • Jean, M. (2012): Penal System. In: Crocitti, J., Vallance, M. (Hrsg.): Brazil Today. An Encyclopedia of Life in the Republic, Library of Congress, S. 472 - 475
  • Speck, B. W. (2002): Rechnungshöfe als Instrument der Finanz- und Korruptionskontrolle in Brasilien, S. 115 ff., in: Wolf Paul (Hrsg.), Korruption in Brasilien und Deutschland, Beiträge der 19. Jahrestagung 2000 der DBJV
  • Tiffer-Sotomayor, C. (2000): Jugendstrafrecht in Lateinamerika unter besonderer Berücksichtigung von Costa Rica. Teil der Schriftenreihe: Dünkel, F. (Hrsg.): Schriften zum Strafvollzug, Jugendstrafrecht und zur Kriminologie, Band 7, Forum Verlag Godesberg

Weblinks

Filme