AfE-Turm

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Der 116,5 Meter hohe, dem Brutalismus zugerechnete und am 2. Februar 2014 um 10:04 gesprengte AfE-Turm (1972-2014) der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt-Bockenheim (Senckenberganlage 13-17) - das Akronym AfE steht für Abteilung für Erziehung - markierte die u.a. von Theodor W. Adorno geforderte Akademisierung der Lehrerbildung, insbesondere auch von Grund-, Haupt- und Realschul-LehrerInnen.

Frankfurter Zwillingstürme: AfE-Turm und Marriott-Hotel (Foto: Renate Routisseau)


Foyer


Vorgeschichte

Vorläufer war das Pädagogische Institut (PI) Jugenheim, das in mehreren Schritten zunächst 1961 zu einer Hochschule für Erziehung aufgewertet, 1967 in die Nähe der Universität nach Frankfurt verlagert und schließlich nach erneuter Umbenennung in Abteilung für Erziehung im Jahre 1971 in die Universität integriert wurde.


Hintergrund dieser Entwicklung war die Bemühung der hessischen Landesregierung um eine nachhaltige Demokratisierung der Gesellschaft. Für die von der Kritischen Theorie und insbesondere von Theodor W. Adorno beeinflusste Bildungspolitik lag der Schlüssel zur Demokratisierung in einer gesellschaftskritischen Aufarbeitung der Vergangenheit. Nur die Schule, so eine zugespitzte These Adornos (in: Tabus über dem Lehrerberuf, 1965), "vermag es, wenn sie sich dessen bewusst und dazu willens ist, unmittelbar auf die Entbarbarisierung der Menschheit hinzuarbeiten."

Als der Turm aufgrund einiger unvorhergesehener Entdeckungen (Wasseradern etc.) erst Ende 1973 bezogen wurde, zogen neben Teilen der ehemaligen Abteilung für Erziehung (als Teil des Fachbereichs Erziehungswissenschaften) auch Büros und Sekretariate der Fachbereiche Gesellschaftswissenschaften und Psychologie ein. Die Wahl der neuen Bewohner entsprach dem Geist der Zeit [1]:

"Dass die Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften in das damals höchste Gebäude in Frankfurt einzogen, hatte Symbolcharakter: Die Stellung der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer in Frankfurt wurde auf diese Weise unterstrichen. Der Einzug begleitete die mit den 1970er Jahren einhergehenden Umbrüche in Gesellschaft und innerhalb der Universität."
Heinz Steinert und Alex Demirovic

Der AfE-Turm wird nicht dem Universitätsbaumeister Ferdinand Kramer zugeschrieben, einem Jugendfreund Adornos, der von Max Horkheimer berufen worden war, obwohl er einige kramer-typische Merkmale aufweist. Als Architekten werden angegeben: das Land Hessen oder "Staatliche Neubauabteilung des Landes Hessen, S. Werner, H. Nitschke" (Wikipedia). Ob und ggf. wie der pensionierte Kramer Planung oder Errichtung dennoch begleitet hat - was er bei anderen Gebäuden nachgewiesenermaßen tat - ist ungeklärt.

Die Universität selbst war in dieser Zeit im Umbruch: aus den alten Fakultäten und Instituten wurde eine Vielzahl von Fachbereichen (FB) - und da man damals dazu tendierte, die Wissenschaft als Abbild der Gesellschaft und diese wiederum als einen großen Betrieb anzusehen, wurden die Fachbereiche nicht in Institute unterteilt, sondern in sog. wissenschaftliche Betriebseinheiten (wBE).

Architektur

Höhe (Spitze) 116,44 m. Höhe (oberste Etage) 106,94 m. Länge und Breite je 47,82 m. Etagen (überirdisch) 32. Baubeginn 1970. Fertigstellung 1972. Inbetriebnahme des Gebäudes Oktober 1973 ohne Festlichkeiten, die wegen zu erwartender studentischer Unruhen ausfielen. Das 38 geschossige Hochhaus mit einer Gesamthöhe von 116 m wurde durch einen architektonischen Aufbau mit von außen sichtbaren Stahlbetonstützen bestimmt.

Wissenschaft im Turm

Seinerzeit war der Turm eben hochmodern und verfügte über viele Vorteile: man denke nur an die wunderbare Bewegung per Fahrstuhl bis in den 38. Stock oder an die zahlreichen Sitzungsräume, die der Büromensch wie die Luft zum Atmen braucht. Selbst Seminarräume verschiedener Größe waren schon im Gebäude selbst vorhanden: einmal angekommen, brauchte man ihn nicht mehr zu verlassen. Und die permanent funktionslose Geister-Cafeteria im 38. Stock bot für die wenigen, die sich dorthin verirrten, einen ungestörten Rundumblick u.a. auf Messegelände und Westend.

Allgemein

Der AfE-Turm wurde zum beruflichen Sprungbrett oder zur Heimat recht bekannter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler u.a. in folgenden Bereichen:

Die Liebe ist ..
  • Erziehungswissenschaften, Bildungssoziologie (Tilman Allert, Helmut Becker, Arno Combe, Helga Dieter 1974-1980, 20. Stock, Ulrich Oevermann)
  • Industriesoziologie (Gerhard Brandt, Lothar Hack, Wilma Mohr, Wilhelm Schumm)
  • Internationale Beziehungen(Lothar Brock, Egbert Jahn, Kurt Shell)
  • Politische Theorie und Ideengeschichte (Andreas Buro, Iring Fetscher, Eike Hennig, Ingeborg Maus, Herfried Münkler, Hans-Jürgen Puhle)
  • Psychoanalytische Sozialpsychologie (Alfred Lorenzer)
  • Staatstheorie (Alex Demirovic, Josef Esser, Joachim Hirsch, Roland Roth).
  • Stadtsoziologie (Walter Prigge)
.. kein Sanatorium ..

Kriminologie

Im Turm lehrten und forschten zu unterschiedlichen Zeitpunkten Helge Peters (1973-75), Dorothee Bittscheidt-Peters, Helga Cremer-Schäfer (1973-77) und - während eines Forschungssemesters Mitte der 1980er Jahre - auch Nils Christie.

Heinz Steinert leitete im 29. Stock innerhalb der wBE Produktion/Sozialstruktur die Untereinheit Soziale Kontrolle/Abweichendes Verhalten, in der u.a. auch Silvia Kontos, Sebastian Scheerer und Oliver Brüchert recht autonom ihren jeweiligen wissenschaftlichen Leidenschaften nachgingen.

Die Liebe ist kein Strand am Meer ..

Es gab Zeiten in den frühen 1980er Jahren, als man sich - unabhängig von der Frage, ob man sowieso zusammen in einem Jugendstilbau in der Unterlindau, ganz in der Nachbarschaft, wohnte - gewissermaßen als Teil von "Soziale Kontrolle/Abweichendes Verhalten" oder gar darüber hinaus von "Produktion/Sozialstruktur" (mit Joachim Hirsch und Roland Roth) des abends im Eppstein-Eck zu treffen pflegte, wo Irene souverän dirigierend die Bestellungen entgegennahm, irgendwie wohl wissend, um was für alte durstige Kinder es sich da handelte, die vom namenlosen Bier nicht genug bekommen konnten. - Die vielen Servietten, auf denen wir eine Staatstheorie des Hamburgers entwarfen, oder eine mehrbändige bürgerliche Triebtheorie, sie sind nicht mehr.

Irene verließ uns schon vor den lange aufbewahrten Skizzen. Eines Tages war Irene nicht mehr im Eppstein-Eck. Sie hatte sang- und klanglos aufgehört. Niemand hat je wieder etwas von ihr gehört. Bis dahin hatten wir gedacht, weil wir sie jeden Abend gesehen hatten: die ist immer da; darauf können wir uns verlassen. Und dann war sie doch nicht mehr da. Es gibt Ereignisse, lernten wir da, die sich jeder Vorhersage entziehen.

Da geht man dann zum Wein über und zieht in die Kiesstraße und geht ins Bockenheimer Weinkontor im Keller und im Hinterhof und in der Schlossstraße, palavert mit Henner Hess und Parmaschinken am Küchentisch, mit Deidesheimer oder auch einem guten Weißwein vom Wasserhäuschen nebenan. Hess hatte sein Büro - wie Rafael Behr und später Helga Cremer-Schäfer - unweit des Turms in einem jüngeren kleinen Gebäude vorne links vor den Treppen zum Turm.

Die Liebe ist der Kampf in den Straßen!

Dekanat des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften

Im 22. Stock befanden sich das Dekanat des Fachbereichs 03 (Geschäftsstelle: Renate Routisseau, Gaby Endisch) und der Sitzungsraum des Fachbereichsrats.

In diesem Raum (Nummer 2502) erlaubten Graffiti, sich während zäher Verhandlungen über die Reform der Studienordnung, welche die gesamten 1980er Jahre in Anspruch nahmen, zu alternativen Destinationen zu träumen.


Der raumgreifendste und wohl älteste Spruch an den Wänden lautete:

"Die Liebe ist kein Sanatorium, die Liebe ist kein Strand am Meer, die Liebe ist der Kampf in den Straßen".

Später kamen quer zu dem roten Liebe-Spruch noch ein violettes "Frauenpower" und etwas abgesetzt eine in schwarz gehaltene Einladung zu einem "alternativen Weihnachtseinkauf". Festgesetzte Treff-Zeit: 11 Uhr.


Aufrecht und würdig (Foto: Renate Routisseau)

Niedergang

  • 2000: die Seminarräume ab dem 11. Stock werden für Veranstaltungen gesperrt; nach langen und teuren Brandschutzmaßnahmen wird die Sperrung wieder aufgehoben
  • 2010: ein ehemaliger Pförtner steht vor Gericht. 2005 war eine Sekretärin durch einen Fall in den Fahrstuhlschacht ums Leben gekommen. Die Fahrstühle waren seit eh und je der wunde Punkt des Alltagsbetriebs - mit Wartezeiten bis zu 15 Minuten. Der Prozess wird wegen geringer Schuld gegen Zahlung von 1500 Euro eingestellt: der Angeklagte sieht darin ein abgenötigtes Schuldeingeständnis. Ihm läuft eine Träne die Wange herunter. "Es muss doch irgendwann mal Schluss sein", sagt seine Frau. "Georg S. guckt traurig zu Boden, sagt nichts, nur einen kurzen, lauten Kraftausdruck, in dem er seine ganze Verzweiflung bündelt. - Die Nebenklage kann mit der Entscheidung "sehr schlecht leben". Wieder nichts Handfestes. Wieder Ungewissheit. Der Anwalt will nun bei der Staatsanwaltschaft bewährungsverlängernde Maßnahmen beantragen. Irgendwann, hoffen er und die Hinterbliebenen, wird noch jemand auftauchen, der zumindest eine Teilschuld trägt. Etwas, an dem man sich festhalten kann. Es geht hier nicht um Geld. Es geht um Trauer und ihre Verarbeitung" (Behr 2010).
  • 2013: Vandalismus richtet erneut erheblichen Schaden (40.000 €). Manchmal sind es auch Verschönerungen, wie z.B. der Graffito "Elfenbeinturm" am oberen Gebäuderand. Albert Schmude, der 1981 eine erste Sammlung der Wandsprüche aus dem Turm veröffentlicht hatte, geht noch einmal durchs Gebäude und notiert die aktuellen Graffiti für eine (für Ende 2014 geplante) Veröffentichung des Universitätsarchivs.- Anwohner beschweren sich über den Lärm der anscheinend unendlichen Rückbau-Aktivitäten; zur Abkürzung des Dramas wird alternativ eine Sprengung ins Auge gefasst. Die Bauaufsicht stimmt zu, der Turm soll am 2.2.14 um 10 Uhr morgens fallen, notfalls (Plan B) zwei Wochen später.

Sprengung

10:04 a.m. Er fällt (Foto: Sebastian Scheerer)

Sonntag, den 2. Februar 2014, 10:04 Uhr morgens. Im Abstand von 3,5 Sekunden falten zwei Böllerschläge den Turm zusammen. Zunächst stürzen die Stützpfeiler des außen liegenden Skeletts, dann der Gebäudekern in der Mitte. Eduard "Krater-Edi" Reisch wollte die Sprengung des höchsten Gebäudes, das jemals in Europa gesprengt wurde, vom Dach des nahen Marriott-Hotels aus einleiten und überwachen; nachdem das Hotel 20.000 Euro dafür gefordert hatte, leitete der Inhaber der Firma Reisch die Sprengung vom Boden aus. Der 53 Jahre alte Oberbayer hatte auf fünf Etagen in 1400 Löchern 950 Kg eines gelatinösen Sprengstoffs anbringen lassen. 2008 hatte er das Agfa-Gebäude in München über die Längsachse gekippt: eine Methode, die noch nie zuvor ausprobiert worden war. Sechs Kilometer Sprengkabel leiteten nun den Impuls, den der Sprengmeister auslöste. In Richtung Marriott-Hotel (das seinerseits für € 199 pro Nacht Sprenungs-Tourismus-Zimmer inklusive Sprengungs-DVD anbot) fiel der höhere Teil des Gebäudes, der untere in Richtung Senckenberg. Bei der vom "deutschen Sprengpapst" Rainer Melzer abgesegneten Planung ging es immerhin um rund 50.000 Tonnen Beton und Stahl, die dann bilderbuchmäßig in das vorgesehene Areal plumpsten.

Nach der Sprengung: Nichts wie weg hier - aber wie? (Foto: Sebastian Scheerer)

Zukunft

Die im Turm untergebrachten Einrichtungen zogen im Wintersemester 2012/13 auf den Campus Westend um, gestaltet nach dem Masterplan des Architekten Ferdinand Heide: 1100 Mitarbeiter, Hunderte von Professoren und fast 10 000 Studierende sowie 30% der Möbel und nicht weniger als 370 000 Bücher aus den Bibliotheken.

Bis 2020 soll auf dem Gelände ein Kulturcampus entstehen: auf 9500 Quadratmetern 2 neue Hochhäuser für Büros und Gewerbe mit 100 und 140 Metern Höhe mit Wohnungen und Kulturinstituten einschließlich "Proberäumen für Musiker und Tänzer" (OP-online 2014).

Geht es nach dem gegenwärtig geltenden Nutzungsplan, der von der von der Piratenpartei kritisiert wird, werden dort künftig keine gewerblichen erotischen und sexuellen Dienstleistungen erlaubt sein.

Literatur und Weblinks

Sprengung (Film und Foto)

Soundtrack

  • Der Turm stürzt ein Rio Reiser/Ton-Steine-Scherben, 1981. Refrain: Der Turm stürzt ein, der Turm stürzt ein, Halleluja, der Turm stürzt ein (YouTube).