Welt ohne Gefängnisse

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Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt - entweder, weil sie glauben, dass man dann automatisch wieder auf die grausamen Körperstrafen des Mittelalters zurückgreifen müßte (das finden sie barbarisch), oder aber, weil sie glauben, dass man dann die Schwerverbrecher frei herumlaufen lassen müßte (das finden sie absurd). Das Gefängnis, glauben sie, ist vielleicht ein Übel, aber es ist - wie das Strafrecht und die Kriminalstrafe - ein notwendiges Übel und damit basta. Sicherlich kann man die Gefängnisse zivilisieren. Unnötige Härten vermeiden und Leute nicht wegen jeder Kleinigkeit hinter Schloss und Riegel bringen. Aber das ändert nichts am Prinzip, dass es in der heutigen Zeit nun einmal ohne Gefängnisse einfach nicht geht. Eine Welt ohne Gefängnisse? Das hat es noch nie gegeben - und das wird es auch nie geben.

Für eine Epoche, die sich gerne selbst als "wissenschaftlich-technische Zivilisation" bezeichnet, ist die Festigkeit dieser öffentlichen Meinung (die nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika, in Asien, in Australien und in den Amerikas die "absolut herrschende Meinung" darstellen dürfte) eine bemerkenswerte soziale Tatsache. Denn während in fast allen anderen Bereichen, also im Gesundheits- und im Bildungswesen, in der Ökonomie und vor allem im Bereich der Ökologie und des Umweltschutzes eine Konvergenz von Alltagswissen und wissenschaftlichem Wissen zu konstatieren ist, stehen wir im Bereich der Strafjustiz vor dem rätselhaften Phänomen, dass die Wissenschaft sich immer weiter vom hergebrachten Alltagswissen entfernt - und die alten Vorurteile in der Bevölkerung trotz allen Fortschritts unseres wissenschaftlichen Wissens über Kriminalität und Kontrolle noch genau dieselben sind wie vor drei oder vier Generationen. In mancher Hinsicht scheint es sogar, als bewege sich die Wissenschaft vorwärts, die öffentliche Meinung aber völlig unbeeindruckt von empirischer Forschung und ethischen Diskussionen seit einiger Zeit sogar wieder rückwärts.

Gesellschaften ohne Gefängnisse in der Geschichte

Selbst glühende Befürworter des Gefängnisses müssen zugeben, dass es eine Welt ohne Gefängnisse schon einmal gegeben hat - und dass die Nichtexistenz von Gefängnissen diese Gesellschaften jedenfalls nicht daran hindern konnte, über Jahrhunderte und sogar Jahrtausende zu existieren. Denn das Gefängnis ist unzweifelhaft nicht genau so alt wie die Menschheit. Auch wenn man über Einzelheiten streiten mag: absolute Einigkeit besteht unter allen Wissenschaftlern, dass die Menschheit während der längsten Zeit ihrer Existenz ohne Gefängnisse auszukommen wusste. Das Gefängnis ist eine ausgesprochen junge Erscheinung in der Gesellschaftsgeschichte.

Die ersten Menschen - also die ersten Wesen, die wie der heutige "homo sapiens" von der Biologie unter der Bezeichnung "homo" geführt werden - lebten vor zwei bis drei Millionen Jahren. Diese Menschen lebten in kleinen Gemeinschaften und kannten mit Sicherheit abweichendes Verhalten und Sanktionen, aber eines ist sicher: sie verfügten weder über feste Häuser noch über Gefängnisse.

Die ersten Menschen unserer Art tauchten erst vor rund 250 000 Jahren auf. Im Gegensatz zu dem noch jüngeren homo floreniensis, der erst vor 100 000 Jahren auftauchte und vor rund 12 000 Jahren ausstarb, hat homo sapiens es mit viel Glück und Verstand vermocht, bis heute zu überleben. Wie lange er noch existieren wird, ist angesichts seines Verhaltens gegenüber den Grundlagen seiner Existenz fraglich. Eines aber ist sicher: mehr als 90 Prozent seiner Geschichte lebte der homo sapiens in einer Welt ohne Gefängnisse. Niemand, der sich jemals mit der Frühgeschichte der Menschen befasst hat, hat je behauptet, dass es in der Frühzeit der Menschen irgendwann auch nur einmal ein Gefängnis gegeben hätte. Bis 10.000 vor Christus war die Welt eine Welt ohne Gefängnisse. Und nach vielen Kriterien, die auch heute noch gelten, waren es keine schlechten Gesellschaften: in vielen Gegenden hatten die Menschen genug zu essen, lebten in stabilen sozialen Netzwerken und wären nicht einmal im Traum darauf gekommen zu glauben, nun könnten sie ohne Gefängnisse nicht weiterleben. Dann, um 10 000 vor Christus, erfand der Mensch den Ackerbau, die Seßhaftigkeit, feste Häuser und eine ganz andere Lebensweise - das war die neolithische Revolution (vielleicht die radikalste Revolution in der gesamten bisherigen Geschichte).

In den frühen Hochkulturen sperrte man Menschen in fest ummauerte Räume ein. Man hielt sie als Geiseln fest, um sie auszutauschen. Oder als künftige Opfer, die man in sakralen Zeremonien töten wollte. Oder man sperrte sie ein, damit sie zum Zeitpunkt ihrer Hinrichtung noch da waren. Aber eine Einsperrung als Strafe für ein begangenes Verbrechen (oder zur Besserung eines Verbrechers) gab es damals noch lange nicht. Ein Gefängnis im Sinne einer Institution zur Abbüßung einer Kriminalstrafe war noch in weiter Ferne. Dies aber nicht - wie es ein heute weit verbreitetes Vorurteil will - weil man noch nicht zivilisiert genug war, sondern weil die Sanktionen im Allgemeinen viel milder waren und man eine Gefängnisstrafe für viel zu hart gehalten hätte. Im frühen europäischen Mittelalter, also zum Beispiel im Recht der Franken, stand sogar auf schwere Verbrechen wie etwa eine vorsätzliche Tötung nicht etwa eine Kapitalstrafe, sondern im Regelfall eher ein finanzieller Ausgleich. Die Devise war Kompensation statt Strafe. Wo es heute Kriminalstrafen gibt, gab es damals Bußen nach einem Bußgeldkatalog, so wie man sie heute im Straßenverkehrsrecht kennt.

Die berühmt-berüchtigte Härte des mittelalterlichen Strafrechts war eine Erscheinung nicht des sechsten, siebten, achten oder neunten Jahrhunderts, sondern der terroristischen Territorialgewalten im zwölften, dreizehnten, vierzehnten, fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert. Das war die Zeit der barbarischen Härte, im Vergleich zu welcher die Gefängnisstrafe in der Tat wie eine Wohltat aussah. (Ein relatives Kompliment an das Gefängnis, von dem diese Institution noch heute profitiert.)

Die Freiheitsstrafe entstand erst zwischen den Jahren 1000 und 2000 nach Christus, also in der Sekunde der Menschheitsgeschichte, in der wir gerade leben. Wann genau, darüber streiten sich die Gelehrten. Gotthold Bohne glaubte, dass die Wiege der modernen Freiheitsstrafe in den weit entwickelten Städten Norditaliens stand. Bohne ist heute vergessen. Eine zweite Ansicht sieht den Beginn der modernen Freiheitsstrafe in den englischen Bridewells oder den holländischen Zucht- und Arbeitshäusern in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die meisten Forscher datieren aber die Geburt des Gefängnisses auf die amerikanischen Anstalten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts und deren Verbreitung über den Globus. Foucault sieht die Gefängnisse als Teil der "Großen Transformation" im Zeitfenster zwischen 1760 und 1840. Wer recht hat, ist nicht leicht zu sagen. Möglicherweise hat Foucault die besseren Argumente. Aber Bohne sollte man vielleicht auch nicht unbedingt als Unsinn abtun. Was bleibt ist ein Konsens in der Wissenschaft: eine Welt mit Gefängnissen gibt es seit weniger als 1000 Jahren. Davor gab es - je nach Berechnung - seit mehr als einer Million Jahren oder jedenfalls seit rund 249 000 Jahren nur eine Welt ohne Gefängnisse. Mit anderen Worten: in der Wissenschaft gibt es keinen Zweifel daran, dass die Menschheit Hunderttausende von Jahren ohne Gefängnisse, aber erst seit weniger als 1000 Jahren mit Gefängnissen existierte. Die Geschichte beweist also: eine Welt ohne Gefängnisse war möglich. Die Logik führt zu dem Schluss: wenn das, was einmal war, historisch auch wieder werden kann, dann kann man auch für die Zukunft sagen: Menschen werden auch in der Zukunft wieder ohne Gefängnisse existieren können.

Was die Geschichtswissenschaft nicht beantworten kann, ist die Frage, ob Gesellschaften wie unsere heutigen Gegenwartsgesellschaften ohne fundamentale Rückschritte auch in der Lage wären, ohne Gefängnisse weiter (und nach Möglichkeit: besser) zu funktionieren.


Gefängnisse heute

Die heutige Welt scheint mit den Gefängnissen gut zu leben. Die Bevölkerung glaubt an ihre Notwendigkeit. Die Wirtschaft glaubt an ihre Lukrativität - jedenfalls, wenn sie privatisiert sind. Die Politik erhält Zustimmung für den Bau neuer Gefängnisse. Sie erhält auch Zustimmung für einen harten Kurs in der Kriminalpolitik, der die Zahl der Gefängnisinsassen immer weiter in die Höhe treibt. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort befinden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr Menschen im Gefängnis als jemals zuvor. Aber auch in vielen anderen Staaten nimmt die Zahl der Gefängnisse und der Gefangenen stetig zu. Während manche Wissenschaftler glaubten, dass die große Zeit des Gefängnisses sich allmählich ihrem Ende zuneigte, sprechen die Zahlen eine andere Sprache. Jedenfalls scheinen sie eher darauf hinzudeuten, dass das Gefängnis seine Zukunft noch vor sich hat.


Gefängnisse morgen

Nur ein Detail könnte die leuchtende Zukunft dieser eigenartigen Institution verdüstern. Es handelt sich um einen Umstand, der quantitativer Forschung nicht leicht zugänglich ist und der deshalb in Gefahr gerät, übersehen zu werden. Es ist der Aspekt der Reputation.

Die Reputation des heutigen Gefängnissystems ist nicht besonders gut. Genauer: das Gefängnis ist heute sehr viel schlechter angesehen als zur Zeit seiner Entstehung. Das erste Bridewell war ein veritables Schloss des Königs. Er wurde für seine gute Tat gelobt und man lobte auch das Schloss und seine Ausstattung, seine Wirkungsweise, seine Funktion. Das Land war stolz auf die Bridewells. Als die holländischen Zucht- und Arbeitshäuser gegründet wurden, kamen Delegationen aus aller Herren Länder, um diese wunderbaren Werke der Mildtätigkeit und Effizienz zu bestaunen und umgehend zu kopieren. Die zivilisierte Welt war begeistert von diesen Monumenten des Fortschritts und der Humanität. Noch größer war die Begeisterung der Welt für die Gefängnisse der Quäker in Philadelphia und das Gefängnis in Auburn, im Staate New York, das diesem eine andere Philosphie entgegensetzte. Aber Philosophien hatte beide - und Bewunderer auch. Die europäischen Parlamente, aber auch die Zeitschriften für die gebildeten Stände glühten in ihren teils idealistisch, teils ökonomisch und pragmatisch fundierten Auseinandersetzungen darüber, welches das bessere System sei. Herrscher schickten ihre besten Köpfe, um vor Ort zu recherchieren. Ihre Berichte erregten Aufsehen und erzeugten leidenschaftliche Debatten. Da konnte man sicher sein: eine Institution, um deren Optimierung so leidenschaftlich gefochten wird, hat ihre Zukunft wahrlich noch vor sich.

Welch ein Kontrast bietet die heutige Diskussion um das Gefängnis. Früher war man stolz auf möglichst viele Gefängnisse. Heute ist den USA die Erwähnung ihrer Einsperrungsraten peinlich. Niemand reist in die USA, um die dortigen Gefängnisse als Modell für das eigene Land zu studieren. Das Gefängnis wird als notwendiges Übel akzeptiert, aber nicht gelobt und nicht geliebt. Niemand verzehrt sich vor Leidenschaft für ein bestimmtes Modell. Gefängnisse erwecken keine positiven Kollektivgefühl mehr, sondern nur noch negative.

Das wirft einen Schatten auf die Zukunft dieser Institution. Einen Schatten, dessen Kraft man sich um so mehr bewußt wird, je mehr man auf die historischen Parallelen achtet.

Eine Parallele könnte die Abschaffung der Sklaverei sein. Auch damals, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gab es eine Kombination von quantitativer Expansion und qualitativem Reputationsverlust. Die Sklaverei war unter quantitativen Gesichtspunkten eine Institution mit Zukunft. Niemals zuvor gab es so viele Sklaven auf der Welt und so viele Sklaventransporte von Afrika nach Amerika wie in den Jahrzehnten, die der Abschaffung von Sklavenhandel und Sklavenhaltung unmittelbar vorausgingen. Die Sklaverei ging nicht langsam und graduell, sondern ruckartig und katastrophal zu Ende. Von den ersten politischen Kampagnen gegen den Sklavenhandel bis zur Abschaffung der Sklaverei in den USA vergingen nicht einmal 100 Jahre. Im historischen Prozess ist das blitzschnell - und es bedeutet nichts anderes, als dass die Institution des Gefängnisses, die heute erst unter einem gewissen Reputationsverlust, aber noch nicht unter einer Bedrohung seiner Existenz leidet, in 100 Jahren eine Sache der Vergangenheit geworden sein könnte. Vielleicht ein wenig früher oder später. Aber immerhin. Vielleicht gibt es in zehn Jahren die erste Gesellschaft ohne Gefängnisse in unserer Zeit, in zwanzig Jahren eine kleine Welle an Abschaffungen und in fünfzig Jahren nur noch die USA und einige ander Länder wie China und Zimbabwe, die am Gefängnis als Institution der Kriminalstrafe festhalten. Vielleicht geht es der Gefängnisstrafe so wie heute schon der Todesstrafe: immer mehr Argumente türmen sich gegen die Institution auf, immer mehr Gesellschaften verzichten stolz auf diese Strafe und immer weniger Staaten wehren sich mit immer schlechteren Argumenten und schlechterem Gewissen gegen ihre Abschaffung ...

Ein mögliches Ziel

Gefängnisse sind Institutionen mit vielen Aufgaben. Eine Aufgabe ist die Besserung der Gefangenen. Sie sollen eine Ausbildung, vielleicht eine Behandlung, eine Therapie, eine Portion Realismus und Selbstvertrauen und einen Kontakt zu positiven Anknüpfungspunkten in der Gesellschaft erhalten. Das ist das Gefängnis als Instrument des rehabilitativen Ideals (Kritiker sagen: das ist das Gefängnis der Behandlungsideologie). Eine andere Aufgabe besteht in der Unschädlichmachung der Gefangenen. Das Gefängnis ist auch dazu da, dass Gefangene während ihrer Haftzeit keine Straftaten mehr begehen können: wer wegen einer Vergewaltigung oder eines Mordes einsitzt, der ist auch deshalb im Gefängnis, weil man sichergehen will, dass er in der Zeit seiner Strafe jedenfalls draußen, also in der freien Gesellschaft, keine weiteren Straftaten mehr begehen kann. Das ist das Gefängnis des Sicherheits-Staates (Kritiker sagen: das ist das Gefängnis der Sicherheitshysterie). Die vorrangige Aufgabe des Gefängnisses aber ist die Bestrafung von Kriminellen. Wer nicht bestraft werden soll, der kommt auch nicht ins Gefängnis. Weder zur Besserung noch zur Sicherung. Am Anfang des Gefängnisses steht die Aufgabe der Bestrafung - und das heißt: am Anfang der Institution steht ihre Aufgabe als Institution der vorsätzlichen Zufügung von Leid.

Die Suche nach Wegen, die in eine Welt ohne Gefängnisse führt, könnte von einem Werturteil motiviert werden: dem Werturteil, dass es gut wäre, die Summe des in der Welt zugefügten Leides zu vermindern. Eine der kontinuierlichsten, stärksten und verbreitetsten Quellen der vorsätzlichen Leidzufügung aber ist überall auf der Welt das System der staatlichen Strafen und innerhalb dieses Systems sind es vor allem die Todesstrafe und die Gefängnisstrafe. Wenn die positiven und legitimen Zwecke, mit denen diese Institutionen ihre Existenz rechtfertigen, auch anders und besser - d.h. mit der Zufügung von weniger Leid - ebenso gut oder besser erreicht werden könnten, dann stünde aus dieser Perspektive jedenfalls einer Abschaffung der Gefängnisse nichts mehr im Wege. Die entscheidenden Fragen allerdings müßten beantwortet werden: gibt es gute Alternativen zum Gefängnis? Und wie sähe wohl der Weg in eine Welt ohne Gefängnisse aus? Welche Schritte wären zu unternehmen, welche Fehler zu vermeiden? Ein denkbares Ziel wäre die Abschaffung aller Arten von Einschließung: nicht nur des Gefängnisses als einer Institution der Strafe, sondern auch der Einschließung in psychiatrischen Anstalten ("Die Anstalten öffnen""), im Polizeigewahrsam und überhaupt. Es ist möglich, ein solches Ziel zu wollen und zu wünschen und dafür zu argumentieren. Unter der Überschrift "Welt ohne Gefängnisse" aber ist das Ziel automatisch bescheidener. Es geht nicht um die Abschaffung der Ausnüchterungszelle auf der Polizeiwache und auch nicht um die Abschaffung der psychiatrischen Anstalten. Es geht auch nicht um die Abschaffung jeder Art des Freiheitsentzugs. Es geht nur um die Abschaffung des Gefängnisses als einer Institution des Freiheitsentzugs.

Es geht nur darum, das Gefängnis als Instrument der Bestrafung abzuschaffen. Nicht einmal automatisch um die Abschaffung jeder Bestrafung. Auch das ließe sich diskutieren. Aber das wäre eine andere Diskussion. Eine Welt ohne Gefängnisse lässt dem Gedanken an alternativen Strafen ohne Freiheitsentzug, an extramurale Strafen und an Alternativen zur Freiheitsstrafe gleichermaßen viel Raum. Ein mögliches Ziel besteht darin: nicht jede Einschließung soll abgeschafft werden, sondern nur das Gefängnis als Institution der Strafe. Nur die Politik der Strafen soll sich ändern: entweder sollen Strafen überhaupt nicht mehr stattfinden - oder sie sollen ambulant, nicht-stationär, extramural stattfinden. Dass es Menschen gibt, die in bestimmten Situationen außer Kontrolle geraten und eine Gefahr für sich oder andere darstellen, und die man mangels besserer Interventionsmöglichkeiten aus Gründen der Sicherheit einsperren muss, bis die Gefahr (von selbst oder durch Behandlung) wieder vorüber ist, steht unter der Überschrift "Welt ohne Gefängnisse" nicht zur Debatte. Der Weg in eine Welt ohne Gefängnisse ist auch so eine lohnende Herausforderung. Und wenn sich auf dem Wege zur Welt ohne Gefängnisse noch mehr Abschaffungsmöglichkeiten realisieren lassen - um so besser. So oder so ähnlich jedenfalls argumentieren diejenigen, die sich genau so, wie andere für eine Welt ohne Todesstrafe engagieren, für eine Welt ohne Gefängnisse einsetzen.


Welcher Weg, bitte, führt ins Paradies?

Über den richtigen Weg ins Paradies der gefängnislosen Gesellschaft streiten sich die Gelehrten und die Aktivisten. Das ist nicht anders als im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Damals standen sich die Abolitionisten (die eine sofortige und unbedingte Abschaffung der Sklaverei forderten, in der sie eine "Sünde" sahen) und die Gradualisten (die für eine sozialverträgliche Reduktion und ein allmähliches Herunterfahren der Sklavenhaltung eintraten) in erbitterter Gegnerschaft gegenüber. Dementsprechend kann man (radikale) Abolitionisten, die sich für eine sofortige und umfassende Abschaffung aller Gefängnisse aussprechen, von Reduktionisten, Minimalisten und Gradualisten unterscheiden, die sich vorläufig auch mit einem Baustopp, einem Moratorium, einer allmählichen oder sektoralen Abschaffung (etwa nur der Jugendgefängnisse) begnügen würden.

Andere Unterschiede betreffen die Frage nach der Formulierung und nach der Funktion von Alternativen zum Gefängnis. Die radikalen Abolitionisten verweigern oft die Antwort auf die Frage danach, was denn an die Stelle der Gefängnisse treten solle, wenn diese erst einmal abgeschafft wären. Sie können sich auf Gustav Radbruchs Forderung nach einer "negativen Kriminalpolitik" berufen, die sich zunächst einmal auf die Abschaffung überflüssiger Repression konzentriert, ohne sich in der Gestaltung neuer und angeblich besserer Kriminalpolitik zu verlieren. Sie können sich aber auch auf die Tradition der Kritischen Theorie und auf die Devise ihres berühmten Philosophen Theodor W. Adorno berufen, dass der Gegenstand der Wissenschaft niemals das Gute sein sollte, sondern nur das Schlechte. Was schlecht sei, das ließe sich benennen und bekämpfen, so Adorno, aber wenn Intellektuelle damit begännen, sich Blaupausen für die positive Gestaltung einer besseren Gesellschaft auszudenken, dann überschritten sie ihre Fähigkeiten und ihre Kompetenzen. Dahinter steht natürlich der jüdisch-christliche Gedanke des deus absconditus, der Verborgenheit Gottes: von Gott kann und soll man sich kein Bild machen, das absolut Gute entzieht sich jeder menschlichen Vorstellung und Gestaltung. Was der Mensch kann, ist allenfalls, sich dem Schlechten zu verweigern: was eine Sünde ist, kann man wissen, dagegen kann und soll man sich wehren.

Für viele ist diese eher theologische Argumentation nicht ohne weiteres einsichtig. Sie erinnern an die Kampagnen der Kämpfer gegen die Sklaverei, die sehr viel Zeit und Energie investierten, um zweifelnden Gemütern zu erklären, wie sie den ökonomischen Verlust, den die Abschaffung der Sklaverei bedeutete, durch alternative Produkte und neue Formen des Wirtschaftens würden auffangen können. Ihr Argument ist ein pragmatisches: man kann niemandem überzeugen, wenn man ihm nicht vor Augen führt, wie es ohne die Sklaverei weiter gehen könnte. Dementsprechend hätten die Menschen auch ein Recht zu erfahren, was denn nun - wenn es keine Gefängnisse mehr geben sollte - mit Sexualstraftätern, mit Serienkiller, mit Mafia-Mördern und mit anderen gefährlichen Kriminellen passieren solle.


Interessante Ansätze

Ansätze, über die nachzudenken sich lohnt, gibt es in größerer Zahl als man allgemein zu glauben geneigt ist. In wenigen Fällen gibt es Beispiele von plötzlichen und radikalen Abschaffungen. Viel häufiger gibt es Beispiele von vorsichtigen, geplanten, partiellen Reduktionen oder teilweisen Abschaffungen. Auf beide Arten lohnt sich ein näherer Blick.

Radikale und plötzliche Abschaffungen führen zwar meist zu Krisen, aber interessanterweise nicht zu Katastrophen. Dies gilt für die Abschaffung der Jugendgefängnisse im US-Bundesstaat Massachusetts ebenso wie für ungeplante Massenentlassungen von Menschen aus psychiatrischen Anstalten, die als die gefährlichsten psychisch kranken Straftäter eines ganzen Bundesstaates galten. Vielleicht wäre es sinnvoll, diese wenigen Beispiele noch viel genauer zu untersuchen, als es bisher geschehen ist. Vielleicht könnte man noch mehr Mut schöpfen und noch viel mehr über unsere Tendenzen zur Überschätzung der Risiken durch andere Menschen lernen ...

Die meisten Ansätze zur Überwindung von Gefängnissen betreffen vorsichtigere und schrittweise ("gradualistische") Strategien, die sich auf eines der folgenden vier Ziele (oder auf eine Kombination davon) richten:

  • Abschaffung eines Teils des Gefängnissystems (wie z.B. der Jugendstrafanstalten oder der Arbeitshäuser; sog. segmentärer Abolitionismus)
  • Verminderung der Gefangenenzahlen und -raten in einem Staat, Bundesland oder einer Region (Abbau der Größe und Ausdehnung des Gefängnissystems; Baustopp; Schließung von Anstalten, Verminderung der Zahl der Haftplätze, Verminderung der Zahl der Inhaftierten --- Vermeidung von Inhaftierung durch Diversion, alternative Strafen, Alternativen zur Strafe; Restorative Justice; Transformative Justice; Sozialtherapie außerhalb des Strafvollzugs; Community Treatment)
  • Verkürzung der Freiheitsstrafen (Reduzierung der Länge der Strafen durch den Gesetzgeber oder durch die Strafvollzugsbehörden durch extensive Gewährung von vorzeitigen Entlassungen zur Bewährung - z.B. unter Auflagen)
  • Erleichterung der Haftbedingungen, positive Nutzung der Haftzeit (Verminderung der Tiefe der Strafe: Verbesserung der Ausstattung der Zellen, der Arbeitsbedingungen, Verminderung der sozialen Deprivation durch mehr Ausgänge, Urlaub, Besuchsmöglichkeiten, Kommunikationsmöglichkeiten mit Personen außerhalb der Anstalt usw. - Beratung oder Therapie zur Stärkung der Persönlichkeit; Sozialtherapie im Strafvollzug).

Empirie gegen Gefängnisse

here are good theoretical and empirical grounds for anticipating that well designed restorative justice processes will restore victims, offenders, and communities better than existing criminal justice practices. Counterintuitively, he also shows that a restorative justice system may deter, incapacitate, and rehabilitate more effectively than a punitive system. This is particularly true when the restorative justice system is embedded in a responsive regulatory framework that opts for deterrence only after restoration repeatedly fails, and incapacitation only after escalated deterrence fails. Braithwaite's empirical research demonstrates that active deterrence under the dynamic regulatory pyramid that is a hallmark of the restorative justice system he supports, is far more effective than the passive deterrence that is notable in the stricter "sentencing grid" of current criminal justice systems.

Literatur

  • Bernhard, Sigrid et al. (1990) Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe. Zeitschrift für Evangelische Ethik 34: 218-294.
  • Bohne, Gotthold (1922-1925) Die Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12.-16. Jahrhunderts. Leipzig: Theodor Weicher (2 Bände; Nachdruck Leipzig 1970).
  • Braithwaite, John
  • Chamberlain, Patricia
  • Christie, Nils
  • Cornel, Heinz
  • Feest, Johannes & Bettina Paul
  • Foucault, Michel
  • Knopp, Fay Honey
  • Miller & Ohlin
  • Mitford, Jessica
  • Ryan, Mick & Joe Sim
  • Steadman,
  • Stern, Vivien

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