Welt ohne Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: was soll man denn mit Verbrechern machen, wenn man sie nicht entweder umbringen oder aber zum Schaden aller frei herumlaufen lassen will? Dieser schlichte Gedankengang ist es, der die Überzeugung von der Unersetzlichkeit des Gefängnisses zu einem nahezu universellen belief system gemacht hat. Es ist der Mangel an besseren Ideen. Und wo es nicht einmal Ideen zur Überwindung des Gefängnisses gibt, so die logische Schlussfolgerung, da wird es mit der tatsächlichen Möglichkeit von Alternativen erst recht nicht weit her sein. Die wenigen, die anderer Ansicht sind, weil sie eine Überwindung des Gefängnisses für möglich und für notwendig halten, kämpfen offenbar gegen Windmühlen. Doch sind sie wirklich nur Phantasten, Spinner, Utopisten?
Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: was soll man denn sonst machen, wenn man Verbrecher weder umbringen noch frei herumlaufen lassen will? Das Gefängnis ist kein Wert an sich, aber so lange die Menschen keine Engel werden, so lange ist und bleibt es ein notwendiges Übel. Das ist die Meinung der Herrschenden, aber auch die Meinung der Beherrschten. Es ist sogar die Meinung der Gefangenen. Der Glaube an die Notwendigkeit des Gefängnisses ist heute weiter verbreitet als der Glaube an Gott. Und dennoch handelt es sich um einen Mythos. Einen Alltagsmythos. Denn eine Welt ohne Gefängnisse ist möglich. Das belegt Alejandro Gómez Jaramillo in diesem Buch. Er zeigt uns die herrschende Meinung und die enorme Kraft, mit der sich das Glaubenssystem von der Notwendigkeit der Gefängnisse allen Kritiken entgegenstemmt. Zu den wichtigsten Teilen seiner Ausführungen gehört die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Gegenargumenten, die immer dann vorgebracht werden, wenn die Perspektive einer Welt ohne Gefängnisse als weltfern, idealistisch und unrealistisch gebrandmarkt werden soll. Es sind dies insbesondere drei Einwände.


Das Buch von Alejandro Gómez Jaramillo behandelt genau diese Frage und es kommt zu einem ebenso gut recherchierten wie überzeugenden - wenn auch überraschenden - Ergebnis. Obwohl der Anschein dagegen spricht, so der Autor, ist eine Welt ohne Gefängnisse möglich. Und sie wäre besser für alle: für die Opfer der Kriminalität, für die Täter, für die Gesellschaft. Eine solche These muss und wird heutzutage auf Widerspruch stoßen. An diesem Widerspruch wird sie dann entweder scheitern - oder sich bewähren. Der Ausgang der Diskussionen, die diesem Buch zu wünschen sind, ist offen. Er ist aber nicht irrelevant. Er kann seinerseits den Gang der Dinge beeinflussen. Und deshalb möchte ich diesem Buch ein paar bescheidene Worte mit auf den Weg geben, die vielleicht helfen können, seine wertvollen Anregungen vor dem Schicksal zu bewahren, mit ein paar oberflächlichen Bemerkungen abgetan und dann vergessen zu werden.  
Erstens heißt es, die Abschaffung der Gefängnisse sei utopisch; sie übersteige die menschliche Vorstellungskraft - und was man sich nicht vorstellen könne, das könne man auch nicht realisieren. Die wenigen, die auf eine besondere Vorstellungskraft vertrauten und sich eine Welt ohne Gefängnisse ausmalten, seien keine Visionäre, sondern (harmlose oder weniger harmlose) Geisteskranke: eher mit Don Quixote in seinem Kampf gegen die Windmühlen zu vergleichen als mit aufgeklärten Reformern.  


Die erste Bemerkung besteht aus der Behauptung, dass eine Welt ohne Gefängnisse zwar - entgegen der communis opinio - durchaus möglich sein dürfte, dass eine solche Welt aber nicht unbedingt besser sein muss als die heutige. Es ist aber sowohl nötig als auch möglich, eine klare Unterscheidung zu treffen zwischen einer Verdrängung des Gefängnisses aufgrund zunehmender Repression einerseits und einer Aufhebung des Gefängnisses aufgrund einer kommunitären Wiederaneignung sozialer Konfliktregelungskompetenzen andererseits.  
Was dieses Argument angeht, so habe ich der Widerlegung, die sich in diesem Buch findet, nichts hinzuzufügen (zumal der Autor das, was ich dazu zu sagen habe, freundlicherweise schon zitiert hat). Höchstens dieses: das Verhältnis von Vorstellung und Realität ist sehr viel mysteriöser, als die meisten Menschen glauben. Die meisten Menschen sagen: was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das muss logischerweise eine noch geringere Chance auf eine Daseinsform in der Realität haben. Was man sich "gerade noch" vorstellen kann, das hat vielleicht eine minimale Chance auf Realisierung; was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das hat absolut gar keine Chance, jemals Realität zu werden. Doch so ist es gerade nicht. Die reale Geschichte der Welt ist voller Ereignisse, die zur allgemeinen Verblüffung der Zeitgenossen passierten. Wer hat denn 1958 vorhergesehen, dass ein Jahr später eine 50jährige Castro-Herrschaft auf der Insel Cuba beginnen könnte? Wer hat 1916 die Oktoberrevolution in Russland und die Herrschaft Stalins vorhergesehen? Wer hat 1988 den Fall der Berliner Mauer und den Untergang der Sowjetunion vorhergesehen? Und wie wäre das allgemeine Urteil der Mehrheit über die drei oder vier Personen ausgefallen, die solche Vorhersagen gewagt hätten? Hätte man sie nicht für Phantasten, für Spinner und Sonderlinge gehalten? Und war es nicht genau das, was man in den USA über die Vorkämpfer der Sklavenbefreiung dachte, bis es dann plötzlich doch so weit war? Eine Welt ohne Sklaverei - das war für die Südstaatler bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs unvorstellbar. Mit anderen Worten: es sind immer nur wenige Individuen, deren Vorstellungskraft ausreicht, um sich ein Bild von einer möglichen Zukunft zu machen, die mehr ist als nur die Extrapolation eines bekannten Trends.
Um der Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen, kann es manchmal auch nützlich sein, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Was die Gefängnisse angeht, so schrumpft ihr Ewigkeits-Nimbus ganz gehörig, wenn wir einen distanzierten Blick auf die Geschichte des homo sapiens sapiens werfen. Menschenartige Wesen mit dem Gattungsnamen "homo" begannen ihre Existenz auf der Erde vor etwa zwei bis drei Millionen Jahren. Den "homo sapiens" gibt es seit rund 250 000 Jahren. Vor 10 000 Jahren wurden die ersten Menschen sesshaft: sie lernten Ackerbau und Viehzucht und gründeten feste Siedlungen. Bis dahin und noch viele Jahrtausende länger war die Welt unzweifelhaft eine Welt ohne Gefängnisse. Es gab Konflikte und Sanktionen, aber es gab weder "Kriminalität" noch "Gefängnisse". Und dies nicht nur dem Namen nach, sondern die Konfliktregelung war eher einem zukunftsorientierten Heilungs- und Wiedergutmachungsprozess vergleichbar als einer heutigen Strafe. Das Gefängnis folgte erst auf die Geburt der modernen Kriminalstrafe. In Europa, belehrte uns Gotthold Bohne, entstanden die Gefängnisse erst zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert in Norditalien. Andere verweisen, wie in diesem Buch sehr schön nachzulesen ist, auf das Bridewell und die Amsterdamer Institutionen im späten 16. Jahrhundert. Foucault wiederum geht sogar bis zur Zeit der "Großen Transformation" von 1760 bis 1840, um die Geburt des Gefängnisses zu datieren (Bohne 1925; Foucault 2004).


Die zweite Bemerkung betrifft den Vorwurf der Utopie. Sie besteht aus der These, dass das größte Hindernis auf dem Weg zu einer befreienden Abschaffung der Gefängnisse nicht die Widerständigkeit der Realität darstellt, sondern die Trägheit der kollektiven Phantasie.  
Das Gefängnis ist also eine sehr junge Institution, und es gibt einige Hinweise darauf, dass sie auch nicht viel älter werden, sondern durch andere Formen der Sanktionierung und Konfliktregelung schon bald abgelöst werden wird. Schon Gilles Deleuze hatte vielleicht nicht unrecht, als er vor einigen Jahren erklärte: Wie viele andere Einschließungsmilieus ist das Gefängnis eine Einrichtung, die schon längst überholt ist und nur noch auf ihre Abschaffung wartet.  


Zweitens heißt es, eine Abschaffung der Gefängnisse sei deswegen unrealistisch, weil sie gar nicht isoliert durchzuführen sei, sondern als Voraussetzung eine Veränderung ganz anderer Strukturen der Gegenwartsgesellschaften erfordere. Ohne eine vorherige Veränderung der politischen und der ökonomischen Machtstrukturen sei die Abschaffung von Gefängnissen eine blanke Illusion.


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Dies ist ein zähes Argument, weil es weder ganz richtig noch ganz falsch ist. Es ist nicht ganz richtig, weil es das Verhältnis zwischen Ökonomie und Recht als Einbahnstraße zwischen der Basis (der Ökonomie) und dem Überbau (dem Recht) betrachtet, während sich doch sogar unter traditionellen Marxisten schon herumgesprochen hat, dass die Dinge sehr viel komplizierter sind und damit auch sehr viel mehr Dynamik entfalten können. Erstens ist die Zuordnung von gesellschaftlichen Phänomenen zu diesen beiden Sphären alles andere als eindeutig regelbar und zweitens führt kein Weg an der Anerkennung starker Wechselwirkungen zwischen "Basis" und "Überbau" vorbei. Viel wichtiger ist aber drittens, dass das Argument auch nicht ganz falsch ist. Tatsächlich geht eine signifikante Veränderung wie die Abschaffung einer Institution (wie z.B. des Gefängnisses) nie ganz isoliert, sondern impliziert auch Veränderungen in benachbarten Sphären. So wäre es z.B. ein durchaus berechtigter Gedanke, dass eine Abschaffung der Gefängnisse nicht möglich wäre ohne eine gewisse (auch tiefgreifende) Veränderung im Strafprozess, in der Straftheorie und in der ganzen Konfiguration von staatlichen Akteuren, Tätern und Opfern. Mit anderen Worten: es ist durchaus nicht falsch zu sagen, dass eine Abschaffung der Gefängnisse auch die Veränderung ganz anderer Strukturen der Gegenwartsgesellschaft impliziert. Doch diese Tatsache - und wahrscheinlich ist es eine - wird vielleicht auch falsch interpretiert, wenn man darin ein Hindernis für die Abschaffung der Gefängnisse betrachtet. Schon gar nicht eignet sich dieses Argument, um die Befürworter einer Welt ohne Gefängnisse als naive Trottel darzustellen. Vielmehr kann dieses Argument uns dafür sensibilisieren, dass bereits heute eine solche Entwicklung im Gang ist. Es ist eine Entwicklung, die real ist und die fortschreitet. Zugleich ist es eine Entwicklung, die heute noch kaum wahrgenommen wird, weil sie sich nicht dort vollzieht, wo der Fokus der Aufmerksamkeit liegt, sondern an den Rändern der wahrnehmbaren Welt. Es ist eine Entwicklung, die das Potential besitzt, auf mittlere Sicht das Gefängnis zu besiegen - und es ist eine Entwicklung, die Hand in Hand geht mit einer Transformation der Voraussetzungen, auf denen das Gefängnis beruht: einer Transformation dessen, was unter Gerechtigkeit verstanden wird, und unter der Lösung eines Konflikts.  
Die Überzeugung von der Unmöglichkeit einer Welt ohne Gefängnisse erscheint trivial. In Wirklichkeit stellt sie aber eine überaus bemerkenswerte soziale Tatsache dar, illustriert sie doch die überraschende Situation einer überaus tiefen Kluft zwischen Alltagswissen und Wissenschaft. Vielleicht ist die Diskrepanz zwischen dem Stand der Wissenschaft und dem Stand der öffentlichen Meinung nirgendwo so riesig wie beim Thema "Verbrechen und Strafe".


In der Wissenschaft herrscht jedenfalls Einigkeit darüber, dass eine Welt ohne Gefängnisse in der Vergangenheit nicht nur eine abstrakte Möglichkeit, sondern selbstverständliche Realität war - und dies nicht deshalb, weil man grausamere Körper- und Lebensstrafen anwandte, sondern während ganzer Epochen der Menschheitsgeschichte einfach deshalb, weil man mildere Sanktionen (vor allem Enschädigungen) verhängte, und weil das grosso modo nicht nur ganz gut, sondern besser funktionierte als man es heute von der Freiheitsstrafe sagen kann. Abgesehen von den Jahrhunderten, die der Erfindung des Gefängnisses unmittelbar vorausgingen (12.-17. Jahrhundert), waren die Strafen während der gesamten Zeit menschlicher Geschichte eher milder als sie es seit der Verbreitung des Gefängnisses wurden: in Fällen, in denen es heute eine Gefängnisstrafe gibt, hätte es während der meisten Zeit in der Geschichte allenfalls eine Pflicht zur Entschädigung und zu künftigem Wohlverhalten geben. Bei den Franken gab es statt eines Strafgesetzbuchs eine Art Bußgeldkatalog - auch für Tötungsdelikte.
Man darf sich freilich nicht vom Blick auf das Zentrum der Welt blenden lassen. Man muss auf die Ränder blicken. Das Zentrum der Macht sind die USA. Dort feiert das Gefängnis seine letzten großen Triumphe. In keinem Land der Erde wächst das System der Gefängnisse so schnell und so grenzenlos wie in den USA. Nirgendwo sitzt einer von 100 Bürgern hinter Gittern. Aber in den USA mit ihren (mehr als) 200 Millionen Einwohnern gibt es (mehr als) 2 Millionen Gefangene: "One in 100". Dass eine so rapide wachsende Institution schon bald Vergangenheit sein könnte, will angesichts solcher Entwicklungen nicht einleuchten.


Wenn in früheren Gesellschaften ein Leben ohne Gefängnisse möglich war, dann folgt daraus nicht zwingend, dass es auch heute oder morgen ohne Gefängnisse ginge. Doch der Mythos von der absoluten Notwendigkeit von Gefängnissen ist damit zerstört. Das Gefängnis ist eine historische Institution und wie alle historischen Phänomene hat es einen Anfang und ein Ende - und je jünger die Instititution ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es sie über kurz oder lang nicht mehr geben wird. Nicht zuletzt deshalb fragen einige Wissenschaftler (Feest & Paul 2008): "Ist das Gefängnis noch zu retten?"
Doch der Anschein des Erfolgs ist trügerisch. So trügerisch wie der Boom des Sklavenhandels, der seiner Abschaffung vorausgegangen war. Manche Institutionen scheinen ausgerechnet dann noch einmal explosionsartig expandieren zu wollen, wenn sie das Ende nahen spüren - ähnlich wie Sterne, die sich bekanntlich kurz vor dem Sternentod noch einmal ganz gewaltig auszudehnen pflegen. Und ist es nicht eine erwiesene historische Tatsache, dass der Sklavenhandel über den Atlantik seinen Höhepunkt genau in den Jahrzehnten erlebte, die seiner Abschaffung unmittelbar vorausgingen? Wer die wahnsinnige Geschwindigkeit beobachtet, mit der das amerikanische Gefängnissystem alle bisherigen Dimensionen der Einsperrung wie ein Hürdenläufer überspringt, kann gar nicht anders, als an diese Beispiele zu denken. Dies auch deshalb, weil sich in den USA gerade wegen des Irrsinns der Gefängnis-Explosion immer mehr Nicht-Regierungs-Organisationen mit den Ursachen dieser Misere, mit ihren ökonomischen und menschlichen Kosten, mit Alternativen zum Gefängnis und mit Öffentlichkeitsarbeit gegen das Gefängnis befassen. Es ist diese Art der Selbst-Aufklärung und Selbst-Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die schon früher die Weichen für große Veränderungen gestellt hatte und die es bald auch in bezug auf die Große Einsperrung tun könnte.  


== Geschichte ==
Vor allem aber ist es ungeheuer wichtig, sich nicht vom Zentrum des Imperiums blenden zu lassen. Wer immer nur auf Amerika und Europa blickt, dem entgeht das Wichtigste, was es im Augenblick zur Zukunft des Gefängnisse zu sehen gibt. Ich meine: die Bewegung zur "Restorative Justice". Diese Bewegung, die sich zunächst fast unbemerkt an den Rändern der alten angelsächsischen Kriminologie - in Australien, Neuseeland und Kanada - entwickelte, nimmt Abschied von den langweiligen Ritualen des Streits zwischen linker, liberaler und rechter Kriminalpolitik. Sie interessiert sich weder für das Ideal der fürsorglichen Behandlung noch für das neo-konservative oder neo-klassische Programm der just deserts. Nicht umsonst entwickelte sich "Restorative Justice" in Gegenden, in denen es noch intakte Gemeinschaften der Urbevölkerung gab - und die ersten Impulse kamen denn auch von der Kulturanthropologie der 60er und 70er Jahre sowie von rechtssoziologischen Forschungen,die sich mit dem Konflikt der traditionellen Rechtsordnung mit dem kolonialen Recht befasst hatten. Aus dieser Perspektive entwickelte sich das Bild einer von dem traditionell "westlichen" Modell radikal abweichenden Art der Lösung von "kriminellen" Konflikten, die gleichwohl (und nach der Ansicht vieler Intellektueller sogar "besser") funktionierte.
Uns Menschen gibt es seit zwei bis drei Millionen Jahren. Wenn wir nicht alle unsere Vorfahren mit der Bezeichnung "homo" berücksichtigen, sondern nur unsere allernächsten Vorfahren - also den "homo sapiens sapiens" - dann existieren menschliche Sozialgebilde erst seit 250 000 Jahren. Gefängnisse - also Gebäude, die der Verbüßung einer Freiheitsstrafe dienen - gibt es aber seit nicht einmal 1000 Jahren. Am weitesten wagte sich Gotthold Bohne zurück. Er behauptete, dass die Freiheitsstrafe und damit die Gefängnisse in Norditalien schon zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert entstanden. Andere sehen die "Geburt des Gefängnisses" (Michel Foucault) eher in der Zeit der "Großen Transformation" von 1760 bis 1840. So gesehen gibt es unsere heutige Welt "mit" Gefängnissen erst seit weniger als drei Jahrhunderten - für Historiker also erst seit relativ kurzer Zeit.


== Dystopie ==
Nach John Braithwaite ist Restorative Justice eine Form der Rechtsprechung, an der möglichst alle von einer Handlung betroffenen Personen teilnehmen und sowohl die Handlung selbst als auch deren Folgen für alle Betroffenen möglichst zwanglos besprechen. Es geht dabei um die Art und Weise der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sowohl in psychischer als auch in materieller Hinsicht. Es geht um den Gefühls- und den Materialschaden auf der Seite des Opfers wie auch um die Wiederherstellung des Status des Täters in der Gemeinschaft - und last not least geht es um die Wiederherstellung der sozialen Kohäsion, die durch die Handlung geschwächt wurde. Zentral ist dabei die moralische Beschämung des Täters: erst wenn der Täter sich für seine Tat schämt, wenn er das Unrecht und die Notwendigkeit der Wiedergutmachung einsieht und bereit ist, sich dafür auch selbst zu engagieren, wird es möglich, ihm eine Brücke zur Reintegration zu bauen (reintegrative Beschämung). Eine zweite wichtige Voraussetzung ist die Zwanglosigkeit der Kommunikation - das heißt aber auch: die größtmögliche Distanz zu staatlichen Zwangspersonen wie Staatsanwälten oder Richtern. Schon das unterscheidet die Restorative Justice gravierend vom herkömmlichen Strafprozess. Tatsächlich ist aber praktisch alles anders - sogar das Ziel der Verhandlung. Ziel ist nicht eine abstrakte Bestrafung und die Wiederherstellung eines abstrakten Rechtsfriedens, sondern die positive Beendigung des Konfliktsfür die unmittelbar Beteiligten, die "caring community". Das Ziel ist nicht die Strafe und die Stärkung der staatlichen Autorität, sondern die Heilung von Verletzungen.
In der Gegenwart ist das Gefängnis weitgehend als notwendig akzeptiert. In vielen Staaten steigen die Gefangenenzahlen - und nicht nur in der Dritten Welt. Die Zahl der Gefängnisse wächst. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort befinden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mehr Menschen im Gefängnis als jemals zuvor. Die Tendenz scheint darauf hinzudeuten, dass das Gefängnis Blütezeit noch vor sich hat. Allerdings steht das quantitative Wachstum der Institution in einem schroffen Gegensatz zum öffentlichen Ansehen des Gefängnisses. Während frühere Generationen stolz auf ihre Gefängnisse waren und sich allerlei moralischen Nutzen davon erhofften, kann von Stolz heute keine Rede mehr sein. Gefängnisse expandieren, aber ihr Ruf ist schlechter denn ja - und es werden heute weniger Hoffnungen in ihre Wirksamkeit investiert als jemals zuvor. Das ist ein auffälliger Umstand, der durchaus als Indiz für eine verborgene Fragilität der Institution gewertet werden könnte. Aus der Geschichte der Sklaverei ist eine ähnliche Diskrepanz bekannt. Denn auch damals, im 19. Jahrhundert, erlebte der transatlantische Sklavenhandel just zu dem Zeitpunkt eine dramatische Blüte, als die moralische Rechtfertigung dieser Institution rapide abnahm. Nie wurden so viele Sklaven von Afrika nach Amerika transportiert als in den Jahrzehnten, die der Abolition unmittelbar vorausgingen. Das beweist zwar noch lange nicht, dass die Abschaffung der Gefängnisse unmittelbar bevorsteht - aber es zeigt immerhin, dass die rein quantitative Betrachtung einer Institution nicht viel über deren Zukunftsaussichten auszusagen vermag.


== Utopie ==
In einer breit angelegten Sekundäranalyse kommt John Braithwaite (2001) zu dem Schluss, dass es Alternativen zur traditionellen Strafjustiz und zum Gefängnis gibt, die diesen in jeder Hinsicht überlegen sind. In jeder Hinsicht heißt: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten, aber auch im Hinblick auf die Einwirkung auf die Täter und im Hinblick auf die Erwartungen des sozialen Umfeldes im Stadtviertel oder in der Gemeinde. Interessanterweise zeitigt Restorative Justice in der Praxis sogar im Hinblick auf die Ziele der Abschreckung, der Sicherung (Unschädlichmachung) und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse als das herkömmliche Strafsystem. "Aktive Abschreckung" als Teil einer dynamischen Regulationspyramide im Sinne Braithwaites ist geradezu ein Markenzeichen gut funktionierender Restorative Justice in einem dynamischen Eskalationssystem, das jeweils nur dann zur nächsten Stufe übergeht, wenn Reaktionen auf der darunter liegenden Intensitätsstufe wiederholt wirkungslos bleiben. - Die Kritiker können also beruhigt sein: zusammen mit der Abschaffung der Gefängnisse werden gleichzeitig auch noch andere Strukturen unserer Gesellschaft verändert. Sogar die Strukturen der Strafjustiz und die Vorstellungen von der Rolle des Staates und seiner Zwangsinstitutionen bei einer gerechten Konfliktlösung.  
Eines ist unbestritten: Die Reputation des Gefängnissystems hält mit seiner Expansion nicht schritt. Während man früher von der positiven ethischen Qualität der Institution überzeugt war, ist man sich heute eher einig darin, das Gefängnis als ein Übel anzusehen. Bestenfalls als ein notwendiges Übel, dem man mit viel Mühe einige positive Nebenfolgen abnötigen kann, schlechtestenfalls als ein Übel, das gewissermaßen nur noch auf seine Abschaffung oder seine Ersetzung durch Besseres wartet.  


Welch Kontrast: als am Ende des 16. Jahrhunderts in Holland die ersten Zucht- und Arbeitshäuser gegründet wurden, kamen Delegationen aus aller Herren Länder, um diese wunderbaren Werke der Mildtätigkeit und Effizienz zu bestaunen und umgehend zu kopieren. Die zivilisierte Welt war begeistert von diesen Monumenten des Fortschritts und der Humanität. Noch besser war der Ruf der ersten amerikanischen Gefängnisse in Philadelphia und Auburn an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Die besten Köpfe der Zeit priesen das eine und/oder das andere System, aber alle waren überzeugt, dass die Gefängnisse etwas Gutes seien auf dem Weg zu mehr Humanität, Bildung und sozialer Entwicklung. Je mehr Gefängnisse eine Gesellschaft vorweisen konnte, desto stolzer waren ihre Bürger. Doch das ist heute anders. Je größer das Gefängnissystem in einem Staat, desto peinlicher ist es ihm. Das ist ein guter Nährboden für die Suche nach Alternativen. Wer im 18. Jahrhundert progressiv war, der entwarf Gefängnisse. Wer heute progressiv ist, sucht nach Alternativen. Das könnte durchaus darauf hindeuten, dass das Gefängnis seine beste Zeit schon hinter sich hat.  
Der dritte Einwand gegen die Abschaffung der Gefängnisse betrifft die Frage der Wahrung der Grundrechte und der prozessualen Garantien. Wenn die reintegrative Beschämung eine möglichst große Distanz zu den staatlichen Zwangsapparaten erfordert, dann stellt sich sofort die Frage, wie unter solchen Bedingungen die Grundrechte der Beteiligten und ihre prozessualen Garantien zu sichern sind. Das ist tatsächlich ein Dilemma. Denn ohne Staat besteht immer das Risiko der Verzerrung des Gesprächsprozesses durch die unterschiedlich verteilte soziale Macht. Holt man den Staat aber zurück, riskiert man das Scheitern der auf Ungezwungenheit basierenden Konfliktregelung.  


Gefängnisse sind Orte der Bestrafung durch Freiheitsentzug. Eine Welt ohne Gefängnisse ist dann ein lohnendes Ziel, wenn es sich dabei entweder um eine Welt ganz ohne Strafen handelt - dann braucht man logischerweise auch keine Gefängnisse mehr - oder wenn es sich um eine Welt handelt, die anders und besser straft.  
Interessanterweise ist es wieder John Braithwaite, der sich dieses Problems angenommen hat, indem er sich mit der Frage nach den "Standards für wiederherstellende Gerechtigkeit" und ihrem Verhältnis zu juristischen Garantien auseinandersetzte. Gewisse juristische Garantien wie z.B. das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und das des due process können in der Restorative Justice wegen ihrer Konzentration auf die jeweils einzigartige Situation nur beschränkt zur Geltung kommen. Es gelingt John Braithwaite aber, auch die Rolle und die Funktion der strafrechtlichen Konfliktregelung im Rahmen einer neuen Theorie der Gerechtigkeit umzudeuten, deren zentraler Wert die Freiheit von Fremdbestimmung darstellt (freedom as non-domination). Das Ziel von Restorative Justice ist es in John Braithwaites "Republikanischem Modell" der reintegrierenden Beschämung, die richtige Lösung zu finden. Das Maß für die Richtigkeit ist das "Dominium" aller Beteiligten, d.h. die Maximierung von Würde, Freiheit und Eigentum bei allen, die an dem Konflikt beteiligt waren oder sind.


Vielleicht ist es auch eine Welt, die eine Kombination von beidem darstellt: eine Welt, die dort, wo sie erkennt, dass eine Strafe nicht not tut, auf das Strafen verzichtet - und dort, wo sie noch nicht auf das Strafen verzichten kann oder will, anders und besser straft als mit dem Gefängnis.  
Der vierte Einwand gegen die Abschaffung der Gefängnisse ist ausgerechnet die Straflosigkeit der Mächtigen. Selbst wenn man das Gefängnis abschaffen wolle, müsse man es doch für die großen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beibehalten. Oder wolle man die denn einfach laufen lassen?


Viele Leute verwechseln die Abschaffung der Gefängnisse mit der Abschaffung jeder Art von Freiheitsentzug. Sie glauben, eine Welt ohne Gefängnisse wäre dasselbe wie eine Welt ohne Polizeigewahrsam (für betrunkene Randalierer), ohne geschlossene psychiatrische Stationen (für psychisch Kranke, die eine konkrete Gefahr für sich oder andere darstellen) und ohne die Möglichkeit, die Bewegungsfreiheit zum Beispiel von Serienmördern zu beschränken, die - wenn man sie in Freiheit ließe - mit großer Wahrscheinlichkeit weiter morden würden. Doch das ist mit der Abschaffung der Gefängnisse nicht gemeint. Gemeint ist nicht, dass man auf jeden Freiheitsentzug zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verzichtet, sondern dass man auf den Freiheitsentzug als Strafe verzichtet - entweder, weil man auf die Strafe überhaupt verzichtet, oder, weil man anders und besser zu strafen vermag.  
Abgesehen davon, dass man sie immer hat laufen lassen, gibt es natürlich viele gute Gründe, die oberen Etagen der Macht mit mehr Gründlichkeit nach Delikten zu durchforsten. Auch das hat übrigens John Braithwaite vorgemacht. Wenn es aber stimmt, dass dem Wohl der Gesellschaft am besten gedient ist mit einer Art der Rechtsprechung, die nicht einfach auf Vergeltung, sondern auf "wiederherstellende Gerechtigkeit" abzielt und auf die Maximierung von Freiheit, Würde und Eigentum aller Beteiligten sowie auf das reintegrierende Beschämen der Täter, dann gibt es keinen guten Grund, das neue System der Konfliktregelung nicht auch auf solche Fälle anzuwenden.


Die Suche nach Wegen, die in eine Welt ohne Gefängnisse führt, könnte von einem Werturteil motiviert werden: dem Werturteil, dass es gut wäre, die Summe des in der Welt zugefügten Leides zu vermindern. Eine der kontinuierlichsten, stärksten und verbreitetsten Quellen der vorsätzlichen Leidzufügung aber ist überall auf der Welt das System der staatlichen Strafen und innerhalb dieses Systems sind es vor allem die Todesstrafe und die Gefängnisstrafe.
An diesem Punkt bemerke ich, dass ich dabei bin, entweder nur die Argumente, die ich in diesem Buch gelesen habe, zu wiederholen - oder aber als Ergänzung dazu ein weiteres Buch unter dem Deckmantel des Vorworts zu verfassen. Da ich weder das eine noch das andere beabsichtigte, als ich zu schreiben anfing, mache ich hier Schluss. Es gibt zwar noch viel zu sagen. Aber es wird auch noch viel gesagt werden. Nur nicht jetzt. Nicht von mir. Ich bin froh über dieses Buch. Wir alle können es sein.  


Wenn die positiven und legitimen Zwecke, mit denen diese Institutionen ihre Existenz rechtfertigen, auch anders und besser - d.h. mit der Zufügung von weniger Leid - ebenso gut oder besser erreicht werden könnten, dann stünde aus dieser Perspektive jedenfalls einer Abschaffung der Gefängnisse nichts mehr im Wege. Die entscheidenden Fragen allerdings müßten beantwortet werden: gibt es gute Alternativen zum Gefängnis? Und wie sähe wohl der Weg in eine Welt ohne Gefängnisse aus? Welche Schritte wären zu unternehmen, welche Fehler zu vermeiden?
Hamburg, den 12. März 2008                          Sebastian Scheerer


== Drei Einwände ==
*Der Rechtsstaat.
*Die Mächtigen
*Die Feinde der Gesellschaft
*Abolitionisten vs. Gradualisten (Reduktionisten, Minimalisten). Über den richtigen Weg ins Paradies der gefängnislosen Gesellschaft streiten sich die Gelehrten und die Aktivisten. Das ist nicht anders als im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Damals standen sich die Abolitionisten (die eine sofortige und unbedingte Abschaffung der Sklaverei forderten, in der sie eine "Sünde" sahen) und die Gradualisten (die für eine sozialverträgliche Reduktion und ein allmähliches Herunterfahren der Sklavenhaltung eintraten) in erbitterter Gegnerschaft gegenüber. - Dementsprechend kann man (radikale) Abolitionisten, die sich für eine sofortige und umfassende Abschaffung aller Gefängnisse aussprechen, von Reduktionisten, Minimalisten und Gradualisten unterscheiden, die sich vorläufig auch mit einem Baustopp für Gefängnisse (Moratorium) oder mit der Abschaffung eines Segments des Gefängnissystems wie z.B. der Jugendgefängnisse (sektoraler oder segmentärer Abolitionismus) begnügen würden.
*Negative vs. konstruktive Kritik. Andere Unterschiede betreffen die Frage nach der Formulierung und nach der Funktion von Alternativen zum Gefängnis. Die radikalen Abolitionisten verweigern oft die Antwort auf die Frage danach, was denn an die Stelle der Gefängnisse treten solle, wenn diese erst einmal abgeschafft wären. Sie können sich auf Gustav Radbruchs Forderung nach einer "negativen Kriminalpolitik" berufen, die sich zunächst einmal auf die Abschaffung überflüssiger Repression konzentriert, ohne sich in der Gestaltung neuer und angeblich besserer Kriminalpolitik zu verlieren. Sie können sich aber auch auf die Tradition der Kritischen Theorie und auf die Devise ihres berühmten Philosophen Theodor W. Adorno berufen, dass der Gegenstand der Wissenschaft niemals das Gute sein sollte, sondern nur das Schlechte. Was schlecht sei, das ließe sich benennen und bekämpfen, so Adorno, aber wenn Intellektuelle damit begännen, sich Blaupausen für die positive Gestaltung einer besseren Gesellschaft auszudenken, dann überschritten sie ihre Fähigkeiten und ihre Kompetenzen. Dahinter steht natürlich der jüdisch-christliche Gedanke des deus absconditus, der Verborgenheit Gottes: von Gott kann und soll man sich kein Bild machen, das absolut Gute entzieht sich jeder menschlichen Vorstellung und Gestaltung. Was der Mensch kann, ist allenfalls, sich dem Schlechten zu verweigern: was eine Sünde ist, kann man wissen, dagegen kann und soll man sich wehren. - Andere erinnern daran, dass viele Abolitionisten den Kampf für die Abschaffung der Sklaverei auch mit konstruktiven Argumenten geführt hatten. Sie hatten für alle, die um die ökonomischen Auswirkungen einer Sklavenbefreiung besorgt waren, Vorschläge für eine positive alternative (sklavenlose) Wirtschaftspolitik bereit. In diesem Sinne glauben heute viele Kritiker des Gefängnisses, dass es eine Schwäche der Kritik darstelle, nicht genügend über konstruktive Alternativen zu wissen: "The point is that too few have comeforward with real alternatives to serious crimes" (Bianchi, in: Feest & Paul 2008b: 11).
== Agenten des Wandels ==
Vivien Stern, langjährige Leiterin einer Straffälligenhilfsorganisation und Gründerin von Penal Reform International, ist sich nicht sicher, ob man alle Gefängnisse abschaffen kann. Aber sie hält Gefängnisse für ungerecht, gefährlich und ungesund und vertritt in ihrem Buch "Creating Criminals" (2006) die empirisch gut gestützten Thesen, dass es erstens keine guten Argumente für Gefängnisse mehr gibt, dass es aber zweitens immer mehr gute Argumente für die Reduzierung der Gefangenenzahlen gibt; drittens plädiert sie für den Verzicht auf die (zu mehr Gefängnissen führende) Vermarktung/Privatisierung von Gefängnissen; viertens wäre eine Reform der Drogenpolitik und des Umgangs mit Migrationsphänomenen ein Beitrag zur Verminderung der Gefangenenzahlen; fünftens und sechstens könnten die Ersetzung von kriminalisierenden Interventionen durch soziale Interventionen und die Verbesserung der Haftbedingungen und der Abbau von Haftplätzen Hand in Hand gehen. 
Die meisten Ansätze zur Überwindung von Gefängnissen betreffen vorsichtigere und schrittweise ("gradualistische") Strategien, die sich auf eines der folgenden vier Ziele (oder auf eine Kombination davon) richten:
*Abschaffung eines Teils des Gefängnissystems. Den Weg zur Abschaffung z.B. der Jugendstrafanstalten könnten Diversionsmaßnahmen, Family Group Conferences oder auch die Unterbringung von schwer delinquenten Jugendlichen in Pflegefamilien ebnen (Chamberlain & Reid 1991).
*Verminderung der Gefangenenzahlen und -raten. Verzicht auf Gefängnisbauten. Schließung von Gefängnissen. Verminderung des Zugangs neuer Gefangener, Verkürzung der Verweildauer im Vollzug durch  frühere und intensivere Entlassungsvorbereitung und deutlich verbesserte Nachsorge.
*Verringerung der Länge der Strafen durch Gesetzgeber, Justiz und vollzugliche Regelungen.
*Verringerung der Tiefe der Strafen durch Erleichterung der Haftbedingungen, positive Nutzung der Haftzeit (Verminderung der Tiefe der Strafe: Verbesserung der Ausstattung der Zellen, der Arbeitsbedingungen, Verminderung der sozialen Deprivation durch mehr Ausgänge, Urlaub, Besuchsmöglichkeiten, Kommunikationsmöglichkeiten mit Personen außerhalb der Anstalt usw. - Beratung oder Therapie zur Stärkung der Persönlichkeit; Sozialtherapie im Strafvollzug).
*Radikale und plötzliche Abschaffungen führen zwar meist zu Krisen, aber interessanterweise nicht zu Katastrophen. Dies gilt für die Abschaffung der Jugendgefängnisse im US-Bundesstaat Massachusetts ebenso wie für ungeplante Massenentlassungen von Menschen aus psychiatrischen Anstalten, die als die gefährlichsten psychisch kranken Straftäter eines ganzen Bundesstaates galten - mit der Folge, dass die allermeisten sich in der Freiheit keineswegs als gefährlich erwiesen.
*In einer breit angelegten Sekundäranalyse kommt John Braithwaite (2001) zu dem Schluss, dass es Alternativen zur traditionellen Strafjustiz und zum Gefängnis gibt, die diesen in jeder Hinsicht überlegen sind. In jeder Hinsicht heißt: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten, aber auch im Hinblick auf die Einwirkung auf die Täter und im Hinblick auf die Erwartungen des sozialen Umfeldes im Stadtviertel oder in der Gemeinde. Interessanterweise zeitigt Restorative Justice in der Praxis sogar im Hinblick auf die Ziele der Abschreckung, der Sicherung (Unschädlichmachung) und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse als das herkömmliche Strafsystem. "Aktive Abschreckung" als Teil einer dynamischen Regulationspyramide im Sinne Braithwaites ist geradezu ein Markenzeichen gut funktionierender Restorative Justice in einem dynamischen Eskalationssystem, das jeweils nur dann zur nächsten Stufe übergeht, wenn Reaktionen auf der darunter liegenden Intensitätsstufe wiederholt wirkungslos bleiben.
*In der Schweiz kommt man, was die Jugendstrafe angeht, mit einer Höchststrafe von vier Jahren (bis 2006: einem Jahr) aus. Im Vergleich zu Deutschland befindet sich nur ein Bruchteil der verurteilten jungen Mörder, Sexual- und Gewalttäter in offenen Maßregeleinrichtungen; die Mehrheit befindet sich in offenen Maßregeleinrichtungen.
*In Neuseeland wurde die Anzahl der Jugendstrafverfahren um zwei Drittel reduziert. Stattdessen wurden Alternativen zur Strafjustiz angewandt, vor allem Family Group Conferences und andere Formen der Restorative Justice. In Deutschland ist die quantitative Bedeutung von Mediation, Täter-Opfer-Ausgleich und anderen Alternativen hingegen äußerst gering.


Anmerkungen
(1) Boh


== Literatur ==
== Literatur ==

Version vom 11. März 2008, 20:20 Uhr

Die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Gefängnisse ist den meisten Menschen suspekt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: was soll man denn sonst machen, wenn man Verbrecher weder umbringen noch frei herumlaufen lassen will? Das Gefängnis ist kein Wert an sich, aber so lange die Menschen keine Engel werden, so lange ist und bleibt es ein notwendiges Übel. Das ist die Meinung der Herrschenden, aber auch die Meinung der Beherrschten. Es ist sogar die Meinung der Gefangenen. Der Glaube an die Notwendigkeit des Gefängnisses ist heute weiter verbreitet als der Glaube an Gott. Und dennoch handelt es sich um einen Mythos. Einen Alltagsmythos. Denn eine Welt ohne Gefängnisse ist möglich. Das belegt Alejandro Gómez Jaramillo in diesem Buch. Er zeigt uns die herrschende Meinung und die enorme Kraft, mit der sich das Glaubenssystem von der Notwendigkeit der Gefängnisse allen Kritiken entgegenstemmt. Zu den wichtigsten Teilen seiner Ausführungen gehört die Auseinandersetzung mit den wichtigsten Gegenargumenten, die immer dann vorgebracht werden, wenn die Perspektive einer Welt ohne Gefängnisse als weltfern, idealistisch und unrealistisch gebrandmarkt werden soll. Es sind dies insbesondere drei Einwände.

Erstens heißt es, die Abschaffung der Gefängnisse sei utopisch; sie übersteige die menschliche Vorstellungskraft - und was man sich nicht vorstellen könne, das könne man auch nicht realisieren. Die wenigen, die auf eine besondere Vorstellungskraft vertrauten und sich eine Welt ohne Gefängnisse ausmalten, seien keine Visionäre, sondern (harmlose oder weniger harmlose) Geisteskranke: eher mit Don Quixote in seinem Kampf gegen die Windmühlen zu vergleichen als mit aufgeklärten Reformern.

Was dieses Argument angeht, so habe ich der Widerlegung, die sich in diesem Buch findet, nichts hinzuzufügen (zumal der Autor das, was ich dazu zu sagen habe, freundlicherweise schon zitiert hat). Höchstens dieses: das Verhältnis von Vorstellung und Realität ist sehr viel mysteriöser, als die meisten Menschen glauben. Die meisten Menschen sagen: was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das muss logischerweise eine noch geringere Chance auf eine Daseinsform in der Realität haben. Was man sich "gerade noch" vorstellen kann, das hat vielleicht eine minimale Chance auf Realisierung; was man sich "nicht einmal vorstellen" kann, das hat absolut gar keine Chance, jemals Realität zu werden. Doch so ist es gerade nicht. Die reale Geschichte der Welt ist voller Ereignisse, die zur allgemeinen Verblüffung der Zeitgenossen passierten. Wer hat denn 1958 vorhergesehen, dass ein Jahr später eine 50jährige Castro-Herrschaft auf der Insel Cuba beginnen könnte? Wer hat 1916 die Oktoberrevolution in Russland und die Herrschaft Stalins vorhergesehen? Wer hat 1988 den Fall der Berliner Mauer und den Untergang der Sowjetunion vorhergesehen? Und wie wäre das allgemeine Urteil der Mehrheit über die drei oder vier Personen ausgefallen, die solche Vorhersagen gewagt hätten? Hätte man sie nicht für Phantasten, für Spinner und Sonderlinge gehalten? Und war es nicht genau das, was man in den USA über die Vorkämpfer der Sklavenbefreiung dachte, bis es dann plötzlich doch so weit war? Eine Welt ohne Sklaverei - das war für die Südstaatler bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs unvorstellbar. Mit anderen Worten: es sind immer nur wenige Individuen, deren Vorstellungskraft ausreicht, um sich ein Bild von einer möglichen Zukunft zu machen, die mehr ist als nur die Extrapolation eines bekannten Trends. Um der Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen, kann es manchmal auch nützlich sein, einen Blick in die Geschichte zu werfen. Was die Gefängnisse angeht, so schrumpft ihr Ewigkeits-Nimbus ganz gehörig, wenn wir einen distanzierten Blick auf die Geschichte des homo sapiens sapiens werfen. Menschenartige Wesen mit dem Gattungsnamen "homo" begannen ihre Existenz auf der Erde vor etwa zwei bis drei Millionen Jahren. Den "homo sapiens" gibt es seit rund 250 000 Jahren. Vor 10 000 Jahren wurden die ersten Menschen sesshaft: sie lernten Ackerbau und Viehzucht und gründeten feste Siedlungen. Bis dahin und noch viele Jahrtausende länger war die Welt unzweifelhaft eine Welt ohne Gefängnisse. Es gab Konflikte und Sanktionen, aber es gab weder "Kriminalität" noch "Gefängnisse". Und dies nicht nur dem Namen nach, sondern die Konfliktregelung war eher einem zukunftsorientierten Heilungs- und Wiedergutmachungsprozess vergleichbar als einer heutigen Strafe. Das Gefängnis folgte erst auf die Geburt der modernen Kriminalstrafe. In Europa, belehrte uns Gotthold Bohne, entstanden die Gefängnisse erst zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert in Norditalien. Andere verweisen, wie in diesem Buch sehr schön nachzulesen ist, auf das Bridewell und die Amsterdamer Institutionen im späten 16. Jahrhundert. Foucault wiederum geht sogar bis zur Zeit der "Großen Transformation" von 1760 bis 1840, um die Geburt des Gefängnisses zu datieren (Bohne 1925; Foucault 2004).

Das Gefängnis ist also eine sehr junge Institution, und es gibt einige Hinweise darauf, dass sie auch nicht viel älter werden, sondern durch andere Formen der Sanktionierung und Konfliktregelung schon bald abgelöst werden wird. Schon Gilles Deleuze hatte vielleicht nicht unrecht, als er vor einigen Jahren erklärte: Wie viele andere Einschließungsmilieus ist das Gefängnis eine Einrichtung, die schon längst überholt ist und nur noch auf ihre Abschaffung wartet.

Zweitens heißt es, eine Abschaffung der Gefängnisse sei deswegen unrealistisch, weil sie gar nicht isoliert durchzuführen sei, sondern als Voraussetzung eine Veränderung ganz anderer Strukturen der Gegenwartsgesellschaften erfordere. Ohne eine vorherige Veränderung der politischen und der ökonomischen Machtstrukturen sei die Abschaffung von Gefängnissen eine blanke Illusion.

Dies ist ein zähes Argument, weil es weder ganz richtig noch ganz falsch ist. Es ist nicht ganz richtig, weil es das Verhältnis zwischen Ökonomie und Recht als Einbahnstraße zwischen der Basis (der Ökonomie) und dem Überbau (dem Recht) betrachtet, während sich doch sogar unter traditionellen Marxisten schon herumgesprochen hat, dass die Dinge sehr viel komplizierter sind und damit auch sehr viel mehr Dynamik entfalten können. Erstens ist die Zuordnung von gesellschaftlichen Phänomenen zu diesen beiden Sphären alles andere als eindeutig regelbar und zweitens führt kein Weg an der Anerkennung starker Wechselwirkungen zwischen "Basis" und "Überbau" vorbei. Viel wichtiger ist aber drittens, dass das Argument auch nicht ganz falsch ist. Tatsächlich geht eine signifikante Veränderung wie die Abschaffung einer Institution (wie z.B. des Gefängnisses) nie ganz isoliert, sondern impliziert auch Veränderungen in benachbarten Sphären. So wäre es z.B. ein durchaus berechtigter Gedanke, dass eine Abschaffung der Gefängnisse nicht möglich wäre ohne eine gewisse (auch tiefgreifende) Veränderung im Strafprozess, in der Straftheorie und in der ganzen Konfiguration von staatlichen Akteuren, Tätern und Opfern. Mit anderen Worten: es ist durchaus nicht falsch zu sagen, dass eine Abschaffung der Gefängnisse auch die Veränderung ganz anderer Strukturen der Gegenwartsgesellschaft impliziert. Doch diese Tatsache - und wahrscheinlich ist es eine - wird vielleicht auch falsch interpretiert, wenn man darin ein Hindernis für die Abschaffung der Gefängnisse betrachtet. Schon gar nicht eignet sich dieses Argument, um die Befürworter einer Welt ohne Gefängnisse als naive Trottel darzustellen. Vielmehr kann dieses Argument uns dafür sensibilisieren, dass bereits heute eine solche Entwicklung im Gang ist. Es ist eine Entwicklung, die real ist und die fortschreitet. Zugleich ist es eine Entwicklung, die heute noch kaum wahrgenommen wird, weil sie sich nicht dort vollzieht, wo der Fokus der Aufmerksamkeit liegt, sondern an den Rändern der wahrnehmbaren Welt. Es ist eine Entwicklung, die das Potential besitzt, auf mittlere Sicht das Gefängnis zu besiegen - und es ist eine Entwicklung, die Hand in Hand geht mit einer Transformation der Voraussetzungen, auf denen das Gefängnis beruht: einer Transformation dessen, was unter Gerechtigkeit verstanden wird, und unter der Lösung eines Konflikts.

Man darf sich freilich nicht vom Blick auf das Zentrum der Welt blenden lassen. Man muss auf die Ränder blicken. Das Zentrum der Macht sind die USA. Dort feiert das Gefängnis seine letzten großen Triumphe. In keinem Land der Erde wächst das System der Gefängnisse so schnell und so grenzenlos wie in den USA. Nirgendwo sitzt einer von 100 Bürgern hinter Gittern. Aber in den USA mit ihren (mehr als) 200 Millionen Einwohnern gibt es (mehr als) 2 Millionen Gefangene: "One in 100". Dass eine so rapide wachsende Institution schon bald Vergangenheit sein könnte, will angesichts solcher Entwicklungen nicht einleuchten.

Doch der Anschein des Erfolgs ist trügerisch. So trügerisch wie der Boom des Sklavenhandels, der seiner Abschaffung vorausgegangen war. Manche Institutionen scheinen ausgerechnet dann noch einmal explosionsartig expandieren zu wollen, wenn sie das Ende nahen spüren - ähnlich wie Sterne, die sich bekanntlich kurz vor dem Sternentod noch einmal ganz gewaltig auszudehnen pflegen. Und ist es nicht eine erwiesene historische Tatsache, dass der Sklavenhandel über den Atlantik seinen Höhepunkt genau in den Jahrzehnten erlebte, die seiner Abschaffung unmittelbar vorausgingen? Wer die wahnsinnige Geschwindigkeit beobachtet, mit der das amerikanische Gefängnissystem alle bisherigen Dimensionen der Einsperrung wie ein Hürdenläufer überspringt, kann gar nicht anders, als an diese Beispiele zu denken. Dies auch deshalb, weil sich in den USA gerade wegen des Irrsinns der Gefängnis-Explosion immer mehr Nicht-Regierungs-Organisationen mit den Ursachen dieser Misere, mit ihren ökonomischen und menschlichen Kosten, mit Alternativen zum Gefängnis und mit Öffentlichkeitsarbeit gegen das Gefängnis befassen. Es ist diese Art der Selbst-Aufklärung und Selbst-Mobilisierung der Zivilgesellschaft, die schon früher die Weichen für große Veränderungen gestellt hatte und die es bald auch in bezug auf die Große Einsperrung tun könnte.

Vor allem aber ist es ungeheuer wichtig, sich nicht vom Zentrum des Imperiums blenden zu lassen. Wer immer nur auf Amerika und Europa blickt, dem entgeht das Wichtigste, was es im Augenblick zur Zukunft des Gefängnisse zu sehen gibt. Ich meine: die Bewegung zur "Restorative Justice". Diese Bewegung, die sich zunächst fast unbemerkt an den Rändern der alten angelsächsischen Kriminologie - in Australien, Neuseeland und Kanada - entwickelte, nimmt Abschied von den langweiligen Ritualen des Streits zwischen linker, liberaler und rechter Kriminalpolitik. Sie interessiert sich weder für das Ideal der fürsorglichen Behandlung noch für das neo-konservative oder neo-klassische Programm der just deserts. Nicht umsonst entwickelte sich "Restorative Justice" in Gegenden, in denen es noch intakte Gemeinschaften der Urbevölkerung gab - und die ersten Impulse kamen denn auch von der Kulturanthropologie der 60er und 70er Jahre sowie von rechtssoziologischen Forschungen,die sich mit dem Konflikt der traditionellen Rechtsordnung mit dem kolonialen Recht befasst hatten. Aus dieser Perspektive entwickelte sich das Bild einer von dem traditionell "westlichen" Modell radikal abweichenden Art der Lösung von "kriminellen" Konflikten, die gleichwohl (und nach der Ansicht vieler Intellektueller sogar "besser") funktionierte.

Nach John Braithwaite ist Restorative Justice eine Form der Rechtsprechung, an der möglichst alle von einer Handlung betroffenen Personen teilnehmen und sowohl die Handlung selbst als auch deren Folgen für alle Betroffenen möglichst zwanglos besprechen. Es geht dabei um die Art und Weise der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sowohl in psychischer als auch in materieller Hinsicht. Es geht um den Gefühls- und den Materialschaden auf der Seite des Opfers wie auch um die Wiederherstellung des Status des Täters in der Gemeinschaft - und last not least geht es um die Wiederherstellung der sozialen Kohäsion, die durch die Handlung geschwächt wurde. Zentral ist dabei die moralische Beschämung des Täters: erst wenn der Täter sich für seine Tat schämt, wenn er das Unrecht und die Notwendigkeit der Wiedergutmachung einsieht und bereit ist, sich dafür auch selbst zu engagieren, wird es möglich, ihm eine Brücke zur Reintegration zu bauen (reintegrative Beschämung). Eine zweite wichtige Voraussetzung ist die Zwanglosigkeit der Kommunikation - das heißt aber auch: die größtmögliche Distanz zu staatlichen Zwangspersonen wie Staatsanwälten oder Richtern. Schon das unterscheidet die Restorative Justice gravierend vom herkömmlichen Strafprozess. Tatsächlich ist aber praktisch alles anders - sogar das Ziel der Verhandlung. Ziel ist nicht eine abstrakte Bestrafung und die Wiederherstellung eines abstrakten Rechtsfriedens, sondern die positive Beendigung des Konfliktsfür die unmittelbar Beteiligten, die "caring community". Das Ziel ist nicht die Strafe und die Stärkung der staatlichen Autorität, sondern die Heilung von Verletzungen.

In einer breit angelegten Sekundäranalyse kommt John Braithwaite (2001) zu dem Schluss, dass es Alternativen zur traditionellen Strafjustiz und zum Gefängnis gibt, die diesen in jeder Hinsicht überlegen sind. In jeder Hinsicht heißt: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten, aber auch im Hinblick auf die Einwirkung auf die Täter und im Hinblick auf die Erwartungen des sozialen Umfeldes im Stadtviertel oder in der Gemeinde. Interessanterweise zeitigt Restorative Justice in der Praxis sogar im Hinblick auf die Ziele der Abschreckung, der Sicherung (Unschädlichmachung) und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse als das herkömmliche Strafsystem. "Aktive Abschreckung" als Teil einer dynamischen Regulationspyramide im Sinne Braithwaites ist geradezu ein Markenzeichen gut funktionierender Restorative Justice in einem dynamischen Eskalationssystem, das jeweils nur dann zur nächsten Stufe übergeht, wenn Reaktionen auf der darunter liegenden Intensitätsstufe wiederholt wirkungslos bleiben. - Die Kritiker können also beruhigt sein: zusammen mit der Abschaffung der Gefängnisse werden gleichzeitig auch noch andere Strukturen unserer Gesellschaft verändert. Sogar die Strukturen der Strafjustiz und die Vorstellungen von der Rolle des Staates und seiner Zwangsinstitutionen bei einer gerechten Konfliktlösung.

Der dritte Einwand gegen die Abschaffung der Gefängnisse betrifft die Frage der Wahrung der Grundrechte und der prozessualen Garantien. Wenn die reintegrative Beschämung eine möglichst große Distanz zu den staatlichen Zwangsapparaten erfordert, dann stellt sich sofort die Frage, wie unter solchen Bedingungen die Grundrechte der Beteiligten und ihre prozessualen Garantien zu sichern sind. Das ist tatsächlich ein Dilemma. Denn ohne Staat besteht immer das Risiko der Verzerrung des Gesprächsprozesses durch die unterschiedlich verteilte soziale Macht. Holt man den Staat aber zurück, riskiert man das Scheitern der auf Ungezwungenheit basierenden Konfliktregelung.

Interessanterweise ist es wieder John Braithwaite, der sich dieses Problems angenommen hat, indem er sich mit der Frage nach den "Standards für wiederherstellende Gerechtigkeit" und ihrem Verhältnis zu juristischen Garantien auseinandersetzte. Gewisse juristische Garantien wie z.B. das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und das des due process können in der Restorative Justice wegen ihrer Konzentration auf die jeweils einzigartige Situation nur beschränkt zur Geltung kommen. Es gelingt John Braithwaite aber, auch die Rolle und die Funktion der strafrechtlichen Konfliktregelung im Rahmen einer neuen Theorie der Gerechtigkeit umzudeuten, deren zentraler Wert die Freiheit von Fremdbestimmung darstellt (freedom as non-domination). Das Ziel von Restorative Justice ist es in John Braithwaites "Republikanischem Modell" der reintegrierenden Beschämung, die richtige Lösung zu finden. Das Maß für die Richtigkeit ist das "Dominium" aller Beteiligten, d.h. die Maximierung von Würde, Freiheit und Eigentum bei allen, die an dem Konflikt beteiligt waren oder sind.

Der vierte Einwand gegen die Abschaffung der Gefängnisse ist ausgerechnet die Straflosigkeit der Mächtigen. Selbst wenn man das Gefängnis abschaffen wolle, müsse man es doch für die großen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beibehalten. Oder wolle man die denn einfach laufen lassen?

Abgesehen davon, dass man sie immer hat laufen lassen, gibt es natürlich viele gute Gründe, die oberen Etagen der Macht mit mehr Gründlichkeit nach Delikten zu durchforsten. Auch das hat übrigens John Braithwaite vorgemacht. Wenn es aber stimmt, dass dem Wohl der Gesellschaft am besten gedient ist mit einer Art der Rechtsprechung, die nicht einfach auf Vergeltung, sondern auf "wiederherstellende Gerechtigkeit" abzielt und auf die Maximierung von Freiheit, Würde und Eigentum aller Beteiligten sowie auf das reintegrierende Beschämen der Täter, dann gibt es keinen guten Grund, das neue System der Konfliktregelung nicht auch auf solche Fälle anzuwenden.

An diesem Punkt bemerke ich, dass ich dabei bin, entweder nur die Argumente, die ich in diesem Buch gelesen habe, zu wiederholen - oder aber als Ergänzung dazu ein weiteres Buch unter dem Deckmantel des Vorworts zu verfassen. Da ich weder das eine noch das andere beabsichtigte, als ich zu schreiben anfing, mache ich hier Schluss. Es gibt zwar noch viel zu sagen. Aber es wird auch noch viel gesagt werden. Nur nicht jetzt. Nicht von mir. Ich bin froh über dieses Buch. Wir alle können es sein.

Hamburg, den 12. März 2008 Sebastian Scheerer


Anmerkungen (1) Boh

Literatur

  • Bernhard, Sigrid et al. (1990) Arnoldshainer Thesen zur Abschaffung der Freiheitsstrafe. Zeitschrift für Evangelische Ethik 34: 218-294.
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  • Chamberlain, Patricia & John B. Reid (1991) Using a Specialized Foster Care Community Treatment Model for Children and Adolescents Leaving the State Mental Hospital. Journal of Community Psychology 19: 266-276.
  • Christie, Nils (1982) Limits to Pain. Oslo: Universitetsforlaget.
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  • Cornel, Heinz (2008) Alternativen zum Gefängnis zwischen Alibi, Reformpolitik und realem Abolitionismus. Kriminologisches Journal 40: 54-66.
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  • Feest, Johannes & Bettina Paul (2008b) Abolitionismus. Einige Antworten auf oft gestellte Fragen. Kriminologisches Journal 40: 6-20.
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  • Steadman, Henry J. & Cocozza, Joseph J (1974). Careers of the Criminally Insane. Lexington, Mass.: Lexington Book.
  • Stern, Vivien (2006) Creating Criminals. Prisons and People in Market Society. London, New York: Zed Books.

Links