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Verbrecher aus Schuldgefühl
==Definition==  
==Definition==  
Der '''Verbrecher aus Schuldgefühl''' ist jemand, der eine Straftat begeht, weil in ihm ein ihm nicht bewusstes Schuldgefühl wirkt, das nach Entlastung drängt. So führt  derjenige  unbewusst sozusagen einen realen Anlass dafür herbei, dass er als schuldig erkannt und zur Rechenschaft gezogen wird. Es handelt sich dabei um eine psychoanalytische Konzeption, die auf [http://de.wikipedia.org/wiki/Sigmund_Freud] Sigmund Freud zurückgeht.
Der '''Verbrecher aus Schuldgefühl''' ist jemand, der eine Straftat begeht, weil in ihm ein ihm nicht bewusstes Schuldgefühl wirkt, das nach Entlastung drängt. So führt  derjenige  unbewusst sozusagen einen realen Anlass dafür herbei, dass er als schuldig erkannt und zur Rechenschaft gezogen wird. Es handelt sich dabei um eine psychoanalytische Konzeption, die auf [http://de.wikipedia.org/wiki/Sigmund_Freud] Sigmund Freud zurückgeht.
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==Herkunft==
==Herkunft==
Im Jahre 1915 (GW X, 364-391) veröffentlichte Sigmund Freud eine kleine Schrift, in der er „Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit“ beschrieb, darunter  „Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein“. Darin macht er auf Fälle aufmerksam, bei denen ansonsten „anständige Personen“ Vergehen begingen, auch solche, die sich in seiner Behandlung befanden. Solche Taten seien vor allem darum begangen worden, „weil sie verboten und weil mit ihrer Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter verbunden war“ (S. 390). Freud fand bei einer solchen Person ein drückendes Schuldbewusstsein unbekannter Herkunft, und nachdem er ein Vergehen begangen hatte, sei der Druck gemildert und das Schuldbewusstsein  „wenigstens irgendwie untergebracht“ (S. 390).Freud behauptete, dass in solchen Fällen das Schuldbewusstsein früher da gewesen sei als die Tat, und damit die Verhältnisse von Schuldgefühl und Tat quasi auf den Kopf gestellt. „Diese Personen durfte man mit gutem Recht als Verbrecher aus Schuldbewußtsein bezeichnen. Die Präexistenz des Schuldgefühls hatte sich natürlich durch eine ganze Reihe von anderen Äußerungen und Wirkungen nachweisen lassen“ (S. 390).
Im Jahre 1915 (GW X, 364-391) veröffentlichte Sigmund Freud eine kleine Schrift, in der er „Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit“ beschrieb, darunter  „Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein“. Darin macht er auf Fälle aufmerksam, bei denen ansonsten „anständige Personen“ Vergehen begingen, auch solche, die sich in seiner Behandlung befanden. Solche Taten seien vor allem darum begangen worden, „weil sie verboten und weil mit ihrer Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter verbunden war“ (S. 390). Freud fand bei einer solchen Person ein drückendes Schuldbewusstsein unbekannter Herkunft, und nachdem er ein Vergehen begangen hatte, sei der Druck gemildert und das Schuldbewusstsein  „wenigstens irgendwie untergebracht“ (S. 390).Freud behauptete, dass in solchen Fällen das Schuldbewusstsein früher da gewesen sei als die Tat, und damit die Verhältnisse von Schuldgefühl und Tat quasi auf den Kopf gestellt. „Diese Personen durfte man mit gutem Recht als Verbrecher aus Schuldbewußtsein bezeichnen. Die Präexistenz des Schuldgefühls hatte sich natürlich durch eine ganze Reihe von anderen Äußerungen und Wirkungen nachweisen lassen“ (S. 390).
Freud stellt die Fragen, woher dieses stammen mag, und, ob es wahrscheinlich sei, das diese Art von Verursachung von Verbrechen häufig sei. Die erste der Fragen beantwortet er so, dass der Ödipus-Komplex den Hintergrund des Schuldgefühls sei: „Das regelmäßige Ergebnis der analytischen Arbeit lautete, daß dieses dunkle Schuldgefühl aus dem Ödipuskomplex stamme, eine Reaktion sei auf die beiden großen verbrecherischen Absichten, den Vater zu töten und mit der Mutter sexuell zu verkehren. Im Vergleich mit diesen beiden waren allerdings die zur Fixierung des Schuldgefühls begangenen Verbrechen Erleichterungen für den Gequälten. Man muß sich hier daran erinnern, daß Vatermord und Mutterinzest die beiden großen Verbrechen der Menschen sind, die einzigen, die in primitiven Gesellschaften als solche verfolgt und verabscheut werden.“ (S. 390)
Freud stellt die Fragen, woher dieses stammen mag, und, ob es wahrscheinlich sei, das diese Art von Verursachung von Verbrechen häufig sei. Die erste der Fragen beantwortet er so, dass der Ödipus-Komplex den Hintergrund des Schuldgefühls sei:
 
:„Das regelmäßige Ergebnis der analytischen Arbeit lautete, daß dieses dunkle Schuldgefühl aus dem Ödipuskomplex stamme, eine Reaktion sei auf die beiden großen verbrecherischen Absichten, den Vater zu töten und mit der Mutter sexuell zu verkehren. Im Vergleich mit diesen beiden waren allerdings die zur Fixierung des Schuldgefühls begangenen Verbrechen Erleichterungen für den Gequälten. Man muß sich hier daran erinnern, daß Vatermord und Mutterinzest die beiden großen Verbrechen der Menschen sind, die einzigen, die in primitiven Gesellschaften als solche verfolgt und verabscheut werden.“ (S. 390)
 
Bei der Beantwortung der zweiten Frage meint er, man müsse die Zahl der Verbrecher abziehen, die „ohne Schuldgefühl Verbrechen begehen, die entweder keine moralischen Hemmungen entwickelt haben oder sich im Kampf mit der Gesellschaft zu ihrem Tun berechtigt glauben. Aber die Mehrzahl der anderen Verbrecher, bei denen, für die dier Strafsatzungen eigentlich gemacht sind, könnte eine solche Motivierung des Verbrechens sehr wohl in Betracht kommen, manch dunkle Punkte in der Psychologie des Verbrechers erhellen, und der Strafe eine neue psychologische Fundierung geben.“ (S. 391).Ein Freund habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass der Verbrecher aus Schuldgefühl auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche] Nietzsche bekannt gewesen sei, was  in den Reden Zarathustras über den bleichen Verbrecher erkennbar werde. "Überlassen wir es zukünftiger Forschung zu entscheiden, wie viele von den Verbrechern zu diesen "bleichen" zu rechnen sind." (S. 391)
Bei der Beantwortung der zweiten Frage meint er, man müsse die Zahl der Verbrecher abziehen, die „ohne Schuldgefühl Verbrechen begehen, die entweder keine moralischen Hemmungen entwickelt haben oder sich im Kampf mit der Gesellschaft zu ihrem Tun berechtigt glauben. Aber die Mehrzahl der anderen Verbrecher, bei denen, für die dier Strafsatzungen eigentlich gemacht sind, könnte eine solche Motivierung des Verbrechens sehr wohl in Betracht kommen, manch dunkle Punkte in der Psychologie des Verbrechers erhellen, und der Strafe eine neue psychologische Fundierung geben.“ (S. 391).Ein Freund habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass der Verbrecher aus Schuldgefühl auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche] Nietzsche bekannt gewesen sei, was  in den Reden Zarathustras über den bleichen Verbrecher erkennbar werde. "Überlassen wir es zukünftiger Forschung zu entscheiden, wie viele von den Verbrechern zu diesen "bleichen" zu rechnen sind." (S. 391)


==Entwicklung des Konzepts==
==Entwicklung des Konzepts==
Freud, der in diesem Zusammenhang die Begriffe „Schuldbewußtsein“ und „Schuldgefühl“ synonym benutzte (z. B. in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ von 1933), hat insbesondere in „Das Ich und das Es“(1923) das Verhältnis von Ich, Es und Über-Ich und damit auch des Schuldgefühls bestimmt. Mit dem unter 2. genannten kleinen Kapitel gab er, der sich insgesamt mit der Kriminologie eher marginal befasst hat,  den Startschuss für die Entwicklung einer  ganzen eigenständigen Forschungsrichtung, der psychoanalytischen Kriminologie, die von einigen seiner Schüler in Gang gesetzt  wurde. Hier sind insbesondere [http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Stekel] Wilhelm Stekel zu nennen, der sich später mit Freud entzweite, sowie Theodor Reik und [[Franz Alexander]]. [[Theodor Reik]] hat 1925  das in psychoanalytischen Kreisen beachtete Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ publiziert, in dem das Strafbedürfnis des Neurotikers einen zentralen Platz einnimmt. Franz Alexander hat zusammen mit dem Strafverteidiger Hugo Staub eine psychoanalytische Würdigung des Justizsystems geleistet (der Verbrecher und sein Richter, 1928), worin unter anderem eine über Freud hinausgehende Typologie des Verbrechers enthalten ist. Diese Typologie unterscheidet grundsätzlich  
Freud, der in diesem Zusammenhang die Begriffe „Schuldbewußtsein“ und „Schuldgefühl“ synonym benutzte (z. B. in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ von 1933), hat insbesondere in „Das Ich und das Es“ (1923) das Verhältnis von Ich, Es und Über-Ich und damit auch des Schuldgefühls bestimmt.
 
:"Es war eine Ueberraschung zu finden, dass eine Steigerung dieses ubw Schuldgefuehls den Menschen zum Verbrecher machen kann. aber es ist unyweifelhaft so. es l~sst sich bei vielen, besonders jugendlichen Verbrechern ein maechtiges Schuldgefuehl nachweisen, welches vor der Tat bsetand, also nicht deren Folge, sondern deren Motiv ist, als ob es als Erleichterung empfunden wuerde, dies unbewusste Schuldgefuehl an etwas Reales und Aktuelles knuepfen zu koennen" (1923 Studienausgabe S. 319).
 
 
Mit dem unter 2. genannten kleinen Kapitel gab er, der sich insgesamt mit der Kriminologie eher marginal befasst hat,  den Startschuss für die Entwicklung einer  ganzen eigenständigen Forschungsrichtung, der psychoanalytischen Kriminologie, die von einigen seiner Schüler in Gang gesetzt  wurde. Hier sind insbesondere [http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Stekel] Wilhelm Stekel zu nennen, der sich später mit Freud entzweite, sowie Theodor Reik und [[Franz Alexander]]. [[Theodor Reik]] hat 1925  das in psychoanalytischen Kreisen beachtete Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ publiziert, in dem das Strafbedürfnis des Neurotikers einen zentralen Platz einnimmt. Franz Alexander hat zusammen mit dem Strafverteidiger Hugo Staub eine psychoanalytische Würdigung des Justizsystems geleistet (der Verbrecher und sein Richter, 1928), worin unter anderem eine über Freud hinausgehende Typologie des Verbrechers enthalten ist. Diese Typologie unterscheidet grundsätzlich  
„akzidentelle Verbrecher“, deren Taten nicht persönlichkeitsadäquat sind, und durch Fahrlässigkeit oder Situationsdruck entstehen, von   
„akzidentelle Verbrecher“, deren Taten nicht persönlichkeitsadäquat sind, und durch Fahrlässigkeit oder Situationsdruck entstehen, von   
„chronischen Verbrechern“ mit Ihrer Persönlichkeit adäquaten Taten.
„chronischen Verbrechern“ mit Ihrer Persönlichkeit adäquaten Taten.
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==Literatur==
==Literatur==
Alexander, F., H. Staub, (1929):Der Verbrecher und seine Richter. Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen. Wien (Internationaler Psychoanalytischer Verlag)
*Alexander, F., H. Staub, (1929):Der Verbrecher und seine Richter. Ein psychoanalytischer Einblick in die Welt der Paragraphen. Wien (Internationaler Psychoanalytischer Verlag)
 
*Böllinger, L., H. Stöver, L. Fietzek (1995): Drogenpraxis, Drogenrecht, Drogenpolitik. Frankfurt (Fachhochschulverlag)
Böllinger, L., H. Stöver, L. Fietzek (1995): Drogenpraxis, Drogenrecht, Drogenpolitik. Frankfurt (Fachhochschulverlag)
*Bowlby, J. (1969, Dt. 1975): Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. München (Kindler)  
 
*Fonagy, P. (1998): Frühe Bindung und die Bereitschaft zu Gewaltverbrechen. In: Streek-Fischer, A: Adoleszenz und Trauma. Göttingen (Vandenhoek und Ruprecht)  
Bowlby, J. (1969, Dt. 1975): Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. München (Kindler)  
*Freud, S. (1915)  Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit GW X, 364-391  (zitiert nach Frankfurt 1999 (Fischer))
 
*Freud, S.: (1923) Das Ich und das Es GW XIII, 237-289 (Studienausgabe Bd. III: 282-325)
Fonagy, P. (1998): Frühe Bindung und die Bereitschaft zu Gewaltverbrechen. In: Streek-Fischer, A: Adoleszenz und Trauma. Göttingen (Vandenhoek und Ruprecht)  
*Freud, S.: (1933) Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse GW XV, 6-197
 
*Hill, A., P. Briken & W. Berner (2008): Lust-voller Schmerz. Sadomasochistische Perspektiven. Gießen (Psychosozial-Verlag)
Freud, S. (1915)  Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit GW X, 364-391  (zitiert nach Frankfurt 1999 (Fischer))
*Kunz, K.-L. (2008): Kriminologie. Bern (Haupt)
 
*Lackinger, F., G. Dammann,  B. Wittmann (2008): Psychodynamische Psychotherapie bei Delinquenz. Stuttgart (Schattauer)
Freud, S.: (1923) Das Ich und das Es GW XIII, 237-289
*Rauchfleisch, U.: (2008) Begleitung und Therapie straffälliger Menschen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
 
*Reik, T. (1925): Geständniszwang und Strafbedürfnis: Probleme d. Psychoanalyse u. d. Kriminologie. Wien (Internat. Psychoanalyt. Verlag)
Freud, S.: (1933) Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse GW XV, 6-197
*Reiwald, P. (1948): Die Gesellschaft und ihre Verbrecher. Neu herausgegeben mit Beiträgen von Herbert Jäger und Tilmann Moser. Frankfurt 1973 (Suhrkamp)
 
Hill, A., P. Briken & W. Berner (2008): Lust-voller Schmerz. Sadomasochistische Perspektiven. Gießen (Psychosozial-Verlag)
 
Kunz, K.-L. (2008): Kriminologie. Bern (Haupt)
 
Lackinger, F., G. Dammann,  B. Wittmann (2008): Psychodynamische Psychotherapie bei Delinquenz. Stuttgart (Schattauer)
 
Rauchfleisch, U.: (2008) Begleitung und Therapie straffälliger Menschen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)
 
Reik, T. (1925): Geständniszwang und Strafbedürfnis: Probleme d. Psychoanalyse u. d. Kriminologie. Wien (Internat. Psychoanalyt. Verlag)
 
Reiwald, P. (1948): Die Gesellschaft und ihre Verbrecher. Neu herausgegeben mit Beiträgen von Herbert Jäger und Tilmann Moser. Frankfurt 1973 (Suhrkamp)


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