Verbrecher aus Schuldgefühl: Unterschied zwischen den Versionen

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==Entwicklung des Konzepts==
==Entwicklung des Konzepts==
Freud, der in diesem Zusammenhang die Begriffe „Schuldbewußtsein“ und „Schuldgefühl“ synonym benutzte (z. B. in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1933), hat insbesondere in „Das Ich und das Es“(1923) das Verhältnis von Ich, Es und Über-Ich und damit auch des Schuldgefühls bestimmt. Mit dem unter 2. genannten kleinen Kapitel gab er, der sich insgesamt mit der Kriminologie eher marginal befasst hat,  den Startschuss für die Entwicklung einer  ganzen eigenständigen Forschungsrichtung, der psychoanalytischen Kriminologie, die von einigen seiner Schüler in Gang gesetzt  wurde. Hier sind insbesondere Wilhelm Stekel zu nennen, der sich später mit Freud entzweit hat, sowie vor allem Thoedor Reik und Franz Alexander. Theodor Reik hat 1925  das in psychoanalytischen Kreisen beachtete Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ publiziert, in dem das Strafbedürfnis des Neurotikers einen zentralen Platz einnimmt. Franz Alexander hat zusammen mit dem Strafverteidiger Hugo Staub eine psychoanalytische Würdigung des Justizsystems geleistet (der Verbrecher und sein Richter, 1928), worin unter anderem eine über Freud hinausgehende Typologie des Verbrechers enthalten ist. Diese Typologie unterscheidet grundsätzlich  
Freud, der in diesem Zusammenhang die Begriffe „Schuldbewußtsein“ und „Schuldgefühl“ synonym benutzte (z. B. in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ von 1933), hat insbesondere in „Das Ich und das Es“(1923) das Verhältnis von Ich, Es und Über-Ich und damit auch des Schuldgefühls bestimmt. Mit dem unter 2. genannten kleinen Kapitel gab er, der sich insgesamt mit der Kriminologie eher marginal befasst hat,  den Startschuss für die Entwicklung einer  ganzen eigenständigen Forschungsrichtung, der psychoanalytischen Kriminologie, die von einigen seiner Schüler in Gang gesetzt  wurde. Hier sind insbesondere Wilhelm Stekel zu nennen, der sich später mit Freud entzweit hat, sowie vor allem Thoedor Reik und Franz Alexander. Theodor Reik hat 1925  das in psychoanalytischen Kreisen beachtete Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ publiziert, in dem das Strafbedürfnis des Neurotikers einen zentralen Platz einnimmt. Franz Alexander hat zusammen mit dem Strafverteidiger Hugo Staub eine psychoanalytische Würdigung des Justizsystems geleistet (der Verbrecher und sein Richter, 1928), worin unter anderem eine über Freud hinausgehende Typologie des Verbrechers enthalten ist. Diese Typologie unterscheidet grundsätzlich  
„akzidentelle Verbrecher“, deren Taten nicht persönlichkeitsadäquat sind, und durch Fahrlässigkeit oder Situationsdruck entstehen, von   
„akzidentelle Verbrecher“, deren Taten nicht persönlichkeitsadäquat sind, und durch Fahrlässigkeit oder Situationsdruck entstehen, von   
„chronischen Verbrechern“ mit Ihrer Persönlichkeit adäquaten Taten.
„chronischen Verbrechern“ mit Ihrer Persönlichkeit adäquaten Taten.
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===Beispiel===
===Beispiel===
Alexander berichtet über einen 34-jährigen Mann, der sich jahrelang mit Erfolg mittels eines gefälschten ärztlichen Diploms als Arzt ausgegeben hatte und dabei wegen hervorragender Kenntnisse auf medizinischem Gebiet durchaus Anerkennung erworben hatte. Zuletzt war er in einer gynäkologischen Klinik tätig gewesen. Er war wegen Diebstählen zu über einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, weil er Fachbücher, Teile eines Mikroskops und Porzellan gestohlen hatte. Zunächst hatte man ihn nur bei Bücherdiebstählen erwischt und ihn  freilassen wollen, bis er wegen  des Einräumens der anderen Diebstähle in Haft genommen wurde. Während der Haft erschien er glücklich und zufrieden, und studierte eifrig Fachbücher. Der Verdacht lag nahe, das es sich bei den Taten um ein neurotisches Agieren gehandelt hatte.  
Alexander berichtet über einen 34-jährigen Mann, der sich jahrelang mit Erfolg mittels eines gefälschten ärztlichen Diploms als Arzt ausgegeben hatte und dabei wegen hervorragender Kenntnisse auf medizinischem Gebiet durchaus Anerkennung erworben hatte. Zuletzt war er in einer gynäkologischen Klinik tätig gewesen. Er war wegen Diebstählen zu über einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, weil er Fachbücher, Teile eines Mikroskops und Porzellan gestohlen hatte. Zunächst hatte man ihn nur bei Bücherdiebstählen erwischt und ihn  freilassen wollen, bis er wegen  des Einräumens der anderen Diebstähle in Haft genommen wurde. Während der Haft erschien er glücklich und zufrieden, und studierte eifrig Fachbücher. Der Verdacht lag nahe, das es sich bei den Taten um ein neurotisches Agieren gehandelt hatte.  
Bereits mit 17 hatte der Mann einen Diebstahl von Süßigkeiten begangen und war dafür aus einem Kadettenkorps entlassen worden. Kurz zuvor hatte er Besuch seiner schwangeren  Mutter gehabt, was ihm furchtbar peinlich gewesen war. Die Autoren legen dar, dass der Mann bereits damals aufgrund des Schuldgefühls wegen der Schwangerschaft der  Mutter, für die er sich selbst unbewusst verantwortlich gefühlt hatte, den Diebstahl begangen hatte, um bestraft zu werden.  Es wird eine Linie gezogen von seiner von der Mutter schon, als er Kind war, heimlich unterstützen Leidenschaft für Süßes, die vom Vater drakonisch geahndet worden war, zu einer vom Vater verhinderten sinnlichen Bindung an die Mutter, verbunden mit  dem ödipalen Wunsch der Beseitigung des Vaters. Der Hausarzt der Familie, der häufig bei der oft kranken Mutter war, riet den Eltern davon ab, ihren Sohn Medizin studieren zu lassen. Der Arztberuf, der ihm daher verwehrt wurde, war bei ihm unbewusst  mit einer infantilen Schaulust verbunden. Wegen des heimlichen Triumphes, sich das Verbotene dennoch auf unlauterem Wege zu verschaffen, hatte der Mann so starke unbewusste Schuldgefühle, dass er durch seine Diebstähle eine Situation herbeiführte, in der seine Geschichte aufflog. Damit war die Ordnung wieder hergestellt, und er erleichtert. Er hatte sein unbewusstes Strafbedürfnis befriedigt.  
Bereits mit 17 hatte der Mann einen Diebstahl von Süßigkeiten begangen und war dafür aus einem Kadettenkorps entlassen worden. Kurz zuvor hatte er Besuch seiner schwangeren  Mutter gehabt, was ihm furchtbar peinlich gewesen war. Die Autoren legen dar, dass der Mann bereits damals aufgrund des Schuldgefühls wegen der Schwangerschaft der  Mutter, für die er sich selbst unbewusst verantwortlich gefühlt hatte, den Diebstahl begangen hatte, um bestraft zu werden.  Es wird eine Linie gezogen von seiner von der Mutter schon, als er Kind war, heimlich unterstützen Leidenschaft für Süßes, die vom Vater drakonisch geahndet worden war, zu einer vom Vater verhinderten sinnlichen Bindung an die Mutter, verbunden mit  dem ödipalen Wunsch der Beseitigung des Vaters. Der Hausarzt der Familie, der häufig bei der oft kranken Mutter war, riet den Eltern davon ab, ihren Sohn Medizin studieren zu lassen. Der Arztberuf, der ihm daher verwehrt wurde, war bei ihm unbewusst  mit einer infantilen Schaulust verbunden. Wegen des heimlichen Triumphes, sich das Verbotene dennoch auf unlauterem Wege zu verschaffen, hatte der Mann so starke unbewusste Schuldgefühle, dass er durch seine Diebstähle eine Situation herbeiführte, in der seine Geschichte aufflog. Damit war die Ordnung wieder hergestellt, und er erleichtert. Er hatte sein unbewusstes Strafbedürfnis befriedigt.


==Gegenwärtige Bedeutung des Konzepts==
==Gegenwärtige Bedeutung des Konzepts==
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