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== Definitionen: Materielle Verbrechensbegriffe == | == Definitionen: Materielle Verbrechensbegriffe == | ||
Materielle Verbrechensbegriffe lösen sich von den normativen Vorgaben des Strafrechts und | |||
Für die Kriminologie ist es oft unbefriedigend, einfach darauf abzustellen, ob eine Handlung vom Gesetzgeber mit (einer gewissen Mindest-) Strafe bedroht ist oder nicht, ist der strafrechtliche Verbrechensbegriff doch laut Kürzinger (Kriminologie 1982, 14) der „willkürlichen Verfügungsgewalt des Gesetzgebers ausgeliefert. Der Gesetzgeber entscheidet letztendlich welches Handeln kriminalisiert werden soll (Neukriminalisieren) und welches nicht oder nicht mehr (Entkriminalisieren)". | |||
Materielle Verbrechensbegriffe lösen sich daher von den normativen Vorgaben des Strafrechts. Der Preis für diese Emanzipation ist allerdings hoch. Er besteht in der Schaffung einer Differenz zwischen dem, was das Gesetz als Verbrechen bezeichnet und dem, was die Nutzer eines materiellen Verbrechensbegriffs als Verbrechen bezeichnen. Und er besteht typischerweise auch in einer geringeren Bestimmbarkeit dessen, was denn nun als Verbrechen im materiellen Sinne anzusehen sei. | |||
=== Naturrecht === | === Naturrecht === | ||
Im Naturrecht wird eine Trennung in moralisch an sich verwerfliche Delikte (mala delicta per se) und schlicht verbotene Delikte (mala prohibita) vorgenommen. Diese Unterscheidung von natürlichen und bloß konventionellen Verbrechen spielt im strafrechtlichen Denken des Common Law noch heute eine bedeutende Rolle. Aber welche Handlungen sind "mala per se", | Im Naturrecht wird eine Trennung in moralisch an sich verwerfliche Delikte (mala delicta per se) und schlicht verbotene Delikte (mala prohibita) vorgenommen. Diese Unterscheidung von natürlichen und bloß konventionellen Verbrechen spielt im strafrechtlichen Denken des Common Law noch heute eine bedeutende Rolle. Aber welche Handlungen sind "mala per se" und welche (nur) "prohibita"? Der Ehebruch und die Homosexualität, heute entkriminalisiert, galten lange Zeit als in sich verwerfliche und manchmal sogar als todeswürdige Straftaten. Ähnlich dramatisch der Wandel, den die Einstellung zur Gotteslästerung (entkriminalisiert seit 1969) und zur Pornographie (entkriminalisiert seit 1975) durchmachten. Welche Einstellung ist die richtige? Wie ließe sich bestimmen, ob der Ehebruch und die Homosexualität vielleicht doch "mala per se" darstellen? Wie ließe sich ein Naturrecht begründen, das unabhängig wäre vom souzio-kulturellen Wandel und vom Zeitgeist? | ||
=== Rechtsgut === | === Rechtsgut === | ||
Die juristische Lehre vom Rechtsgut bezeichnet als Verbrechen solche Handlungen, die geeignet sind, geschützte Rechtsgüter in strafwürdiger Weise zu verletzen. Rechtsgüter sind dabei die rechtlich geschützten individuellen Interessen der Teilnehmer am Rechtsverkehr. Dieser „rechtsgutsbezogene“ Verbrechensbegriff ist enger als der natürliche Verbrechensbegriff und knüpft an die normativen Grundlagen einer Rechtsordnung (Gesellschaft) an. Er steht daher dem formellen Verbrechensbegriff schon recht nahe. | Die juristische Lehre vom Rechtsgut bezeichnet als Verbrechen solche Handlungen, die geeignet sind, geschützte Rechtsgüter in strafwürdiger Weise zu verletzen. Rechtsgüter sind dabei die rechtlich geschützten individuellen Interessen der Teilnehmer am Rechtsverkehr. Dieser „rechtsgutsbezogene“ Verbrechensbegriff ist enger als der natürliche Verbrechensbegriff und knüpft an die normativen Grundlagen einer Rechtsordnung (Gesellschaft) an. Er steht daher dem formellen Verbrechensbegriff schon recht nahe. Allerdings ist das Fundament der Rechtsgutslehre und damit die Bestimmbarkeit dessen, was legitimerweise Rechtsgut ist und was nicht, völlig unklar. | ||
=== Sozialschädlichkeit === | === Sozialschädlichkeit === | ||
Aus den Sozialwissenschaften stammt der Begriff des antisozialen Verhaltens, das im Kontext sozial unangepassten oder abweichenden Verhaltens (Devianz) definiert wird. Der daraus erwachsende Verbrechensbegriff stützt sich auf ein sozialwissenschaftliches Verständnis vom Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft | Aus den Sozialwissenschaften stammt der Begriff des antisozialen Verhaltens, das im Kontext sozial unangepassten oder abweichenden Verhaltens (Devianz) definiert wird. Der daraus erwachsende Verbrechensbegriff stützt sich auf ein sozialwissenschaftliches Verständnis vom Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft. Doch auch hier fehlt eine solide normative Basis, um einen handhabbaren Verbrechensbegriff zu liefern. Was der eine für sozialschädlich hält, ist für den anderen vielleicht sozial nützliche Provokation oder Innovation. Auch dafür gibt es zahllose Beispiele. | ||
Die Orientierung am empirischen Status Quo des sozialen Unwerturteils ist auch nicht viel solider: "Das soziale Unwerturteil über eine Handlung muss nicht mit der Einschätzung durch das Strafrecht einhergehen. Es ist aber schwierig festzustellen, was man im soziologischen Sinne als Verbrechen verstehen will, weil die Kriterien hierfür nicht eindeutig sind“ (Kürzinger, 1996, 19). Die Unterscheidung ist wiederum normativ, das Problem wird also nur verlagert. | |||
Beispiele | |||
Die | |||
Die Unterscheidung ist wiederum normativ, das Problem wird also nur verlagert. | |||
Folgt man der | Folgt man der Labeling-Auffassung, dass nur das ein Verbrechen sei, was von den sozialen Instanzen als solches definiert wird, dann wird nicht mehr auf die Qualität der Handlung selbst, sondern auf ihre soziale Bewertung abgestellt, die ihrerseits sehr unterschiedlich sein kann. Man entfernt sich auch leicht vom allgemeinen Sprachgebrauch und vom common sense, wenn man nur den entdeckten und verfolgten Mord als Verbrechen ansieht, nicht aber den unentdeckten (vgl. Kürzinger 1996, 19). | ||
===Natürlicher Verbrechensbegriff=== | |||
Im Jahre 1885 hatte Garofalo in seinem Buch „Criminologia“ (die Lehre vom natürlichen Verbrechen, „delitto naturale“) versucht, einen „natürlichen Verbrechensbegriff“ zu schaffen. | Im Jahre 1885 hatte Garofalo in seinem Buch „Criminologia“ (die Lehre vom natürlichen Verbrechen, „delitto naturale“) versucht, einen „natürlichen Verbrechensbegriff“ zu schaffen. Hierunter waren Handlungen zu verstehen, die zu allen Zeiten und bei nahezu allen Völkern und Kulturen als verwerflich bzw. sozialschädlich eingestuft und entsprechend bestraft worden waren. Gemeint war hier die Verletzung fundamentaler Gemeinschaftsgüter, insbesondere Handlungen, die gegen tiefste Empfindungen gegen die Redlichkeit und des Mitleids verstoßen. Delikte wie z. B. Mord, Raub, Vergewaltigung und Diebstahl. Diese „kriminellen Handlungen“ wurden „delicta mala per se“ (Verbrechen, die in sich schlecht sind) genannt - im Gegensatz zu „delicta mere prohibita“. Das sind Handlungen, die nur deshalb als verwerflich gelten, weil sie verboten sind. Garofalo stand mit seinen Überlegungen auch in der Tradition der katholischen Theologie. | ||
Hierunter waren Handlungen zu verstehen, die zu allen Zeiten und bei nahezu allen Völkern und Kulturen als verwerflich bzw. sozialschädlich eingestuft und entsprechend bestraft worden waren. Gemeint war hier die Verletzung fundamentaler Gemeinschaftsgüter, insbesondere Handlungen, die gegen tiefste Empfindungen gegen die Redlichkeit und des Mitleids verstoßen. Delikte wie z. B. Mord, Raub, Vergewaltigung und Diebstahl. Diese „kriminellen Handlungen“ wurden „delicta mala per se“ (Verbrechen, die in sich schlecht sind) genannt - im Gegensatz zu „delicta mere prohibita“. Das sind Handlungen, die nur deshalb als verwerflich gelten, weil sie verboten sind. Garofalo stand mit seinen Überlegungen auch in der Tradition der katholischen Theologie. | |||
''kriminologischer Verbrechensbegriff:'' | ''kriminologischer Verbrechensbegriff:'' |