Stigmatisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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Unter Stigmatisierung [griechisch] als soziologisches Phänomen wird eine entehrende und vom gesellschaftlichen Leben ausschließende Bewertung von auffälligem Verhalten verstanden.
Unter '''Stigmatisierung''' [griechisch] als soziologisches Phänomen wird eine entehrende und vom gesellschaftlichen Leben ausschließende Bewertung von auffälligem Verhalten verstanden.


== Allgemein ==
== Allgemein ==
Die Stigmatisierung entsteht im gesellschaftlichen Leben, indem durch selektive Zuschreibung einer Person oder einer Klasse von Personen tatsächliche oder mögliche negative bewertete Eigenschaften zugeschrieben werden, durch welche die Person damit sozial diskreditiert wird. Diese soziologische Begriffsdefinition wird von der Rollentheorie, der Theorie des symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie getragen.
Die Stigmatisierung entsteht im gesellschaftlichen Leben, indem durch selektive Zuschreibung einer Person oder einer Klasse von Personen tatsächliche oder mögliche negative bewertete Eigenschaften zugeschrieben werden, durch welche die Person damit sozial diskreditiert wird. Diese soziologische Begriffsdefinition wird von der Rollentheorie, der Theorie des symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie getragen.


== Stigmabegriff und Begriffsgeschichte ==
== Stigmabegriff und Begriffsgeschichte ==
Die Griechen schufen den Begriff Stigma als Verweis auf körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes üben den moralischen Zustand des Zeichenträges zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, dass der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war.  
Die Griechen schufen den Begriff Stigma als Verweis auf körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes üben den moralischen Zustand des Zeichenträges zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, dass der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war.  


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== Stigmatisierungsprozess ==
== Stigmatisierungsprozess ==
Charakteristisch für den Stigmatisierungsprozess ist, dass ein vorhandenes Merkmal negativ von der Gesellschaft definiert wird, und dass im folgenden dem Merkmalsträger weitere negative Eigenschaften zugesprochen werden, die mit dem eigentlichen tatsächlichen Merkmal nichts mehr zu tun haben. Diese Zuschreibung weiterer Eigenschaften kennzeichnen Stigmatisierungen als Generalisierungen, die sich auf die Gesamtperson in allen ihren sozialen Bezügen erstrecken. Das Stigma wird zu einem „master status“ (Kirchner/Thrun 2001), der wie keine andere Tatsache die Stellung einer Person in der Gesellschaft sowie den Umgang anderer Menschen mit ihr bestimmt.” Der Stigmatisierte steht diesem Prozess hilflos gegenüber und wird “in den meisten Fällen die Standards der Hauptgesellschaft für 'Normalität' verinnerlichen und die Zuschreibungen in die Vorstellung von sich selbst integrieren”. Er erlebt sich selbst als defizitär, entwickelt Schamgefühle oder andere passive Reaktionsvarianten (kompensierende Fertigkeiten, Psychosomatik usw.). Diese Reaktionen können wiederum von der Umwelt als Ausdruck der Abweichung aufgefasst werden. Dadurch bilden Defekt und Reaktion quasi eine nahezu untrennbare Einheit. Es ist daher für den Betroffenen äußert schwierig aus dieser Stigmatisierung herauszukommen, denn egal wie er sich verhält, jedes Entgegenwirken wird als Bestätigung der zugeschriebenen Eigenschaften angesehen. Dadurch wird es dem Stigmatisierten fast unmöglich gemacht als vollwertiger Interaktionspartner Anerkennung zu finden. Weil es ihm schwer fällt zu beurteilen, wie sein Stigma und sein Merkmal vom aktuellen Interaktionspartner gesehen werden, wird er sich in Kommunikationen unsicher, verlegen, angespannt und ängstlich verhalten. “Für den Stigmatisierten ist es dann schwer, in derart verunsicherten Interaktionen seine persönliche Identität aufrechtzuerhalten oder zu entwickeln.”  
Charakteristisch für den Stigmatisierungsprozess ist, dass ein vorhandenes Merkmal negativ von der Gesellschaft definiert wird, und dass im folgenden dem Merkmalsträger weitere negative Eigenschaften zugesprochen werden, die mit dem eigentlichen tatsächlichen Merkmal nichts mehr zu tun haben. Diese Zuschreibung weiterer Eigenschaften kennzeichnen Stigmatisierungen als Generalisierungen, die sich auf die Gesamtperson in allen ihren sozialen Bezügen erstrecken. Das Stigma wird zu einem „master status“ (Kirchner/Thrun 2001), der wie keine andere Tatsache die Stellung einer Person in der Gesellschaft sowie den Umgang anderer Menschen mit ihr bestimmt.” Der Stigmatisierte steht diesem Prozess hilflos gegenüber und wird “in den meisten Fällen die Standards der Hauptgesellschaft für 'Normalität' verinnerlichen und die Zuschreibungen in die Vorstellung von sich selbst integrieren”. Er erlebt sich selbst als defizitär, entwickelt Schamgefühle oder andere passive Reaktionsvarianten (kompensierende Fertigkeiten, Psychosomatik usw.). Diese Reaktionen können wiederum von der Umwelt als Ausdruck der Abweichung aufgefasst werden. Dadurch bilden Defekt und Reaktion quasi eine nahezu untrennbare Einheit. Es ist daher für den Betroffenen äußert schwierig aus dieser Stigmatisierung herauszukommen, denn egal wie er sich verhält, jedes Entgegenwirken wird als Bestätigung der zugeschriebenen Eigenschaften angesehen. Dadurch wird es dem Stigmatisierten fast unmöglich gemacht als vollwertiger Interaktionspartner Anerkennung zu finden. Weil es ihm schwer fällt zu beurteilen, wie sein Stigma und sein Merkmal vom aktuellen Interaktionspartner gesehen werden, wird er sich in Kommunikationen unsicher, verlegen, angespannt und ängstlich verhalten. “Für den Stigmatisierten ist es dann schwer, in derart verunsicherten Interaktionen seine persönliche Identität aufrechtzuerhalten oder zu entwickeln.”  


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== Hypothesen zur Genese von Stigmatisierung nach Hohmeier ==
== Hypothesen zur Genese von Stigmatisierung nach Hohmeier ==
Hohmeier stellt vier Hypothesen zur Entstehung von Ausgrenzung bzw. Stigmatisierung vor (vgl. Hohmeier 1975):  
Hohmeier stellt vier Hypothesen zur Entstehung von Ausgrenzung bzw. Stigmatisierung vor (vgl. Hohmeier 1975):  


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== Interaktionsprozesse ==
== Interaktionsprozesse ==
Gegenwärtig haben besonders Goffman und Lemert sich mit dem Problem des Stigmas auf der interaktionalen Ebene befasst. Goffman versteht Stigma als Beeinträchtigung bzw. Herabminderung einer Person oder einer Gruppe. Dabei ist der Begriff ebenso wie der des abweichenden Verhaltens zu relativieren, da eine bestimmte Eigenschaft die Normalität, zum anderen eine starke Abweichung von ihr bestätigt, und zwar immer dann, wenn eine Person in unerwünschter Weise anders ist, als dies von ihr angenommenen worden ist (Goffman 1967 S. 13). Da Personen aus randständigen Gruppen wegen ihrer Isoliertheit und daraus resultierende begrenzte Möglichkeit, der herrschenden Kultur wünschenswert erscheinenden Rollen zu trainieren, um entsprechende Verhaltenseinstellungen und -erfahrungen zu erlernen, nur über ein begrenztes Verhaltensrepertoire verfügen, sind sie besonders leicht zu stigmatisieren.
Gegenwärtig haben besonders Goffman und Lemert sich mit dem Problem des Stigmas auf der interaktionalen Ebene befasst. Goffman versteht Stigma als Beeinträchtigung bzw. Herabminderung einer Person oder einer Gruppe. Dabei ist der Begriff ebenso wie der des abweichenden Verhaltens zu relativieren, da eine bestimmte Eigenschaft die Normalität, zum anderen eine starke Abweichung von ihr bestätigt, und zwar immer dann, wenn eine Person in unerwünschter Weise anders ist, als dies von ihr angenommenen worden ist (Goffman 1967 S. 13). Da Personen aus randständigen Gruppen wegen ihrer Isoliertheit und daraus resultierende begrenzte Möglichkeit, der herrschenden Kultur wünschenswert erscheinenden Rollen zu trainieren, um entsprechende Verhaltenseinstellungen und -erfahrungen zu erlernen, nur über ein begrenztes Verhaltensrepertoire verfügen, sind sie besonders leicht zu stigmatisieren.


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== Literatur ==
== Literatur ==
* Dreitzel, H. P. : ''Die gesellschaftlichen Leiden und die Leiden an der Gesellschaft'', Stuttgart 1968
'''Dreitzel,''' H. P. (1968): Die gesellschaftlichen Leiden und die Leiden an der Gesellschaft, Stuttgart
* Freedman, J. L.; Doob, A. N.: ''Deviancy – The psychology of being different'', New York 1968
 
* Goffman, E.: ''Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität'', Frankfurt/M. 1967
'''Freedman,''' J. L.; '''Doob,''' A. N. (1968): Deviancy – The psychology of being different, New York
* Goffman, E.: ''Interaktionsrituale, Frankfurt a. M.'' 1971
 
* Gouldner, A. V.: ''The norm of reciprocity: A preliminary statment'', in: American Sociological Review 25 (1960), 161 – 178.  
'''Goffman,''' E. (1967): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt/M.  
* ''Haffter, C.: The changeling: History and psychodynamics of attitudes to handicapped children in European folklore'', in: Journal of the History of the Behavioral Sciences (1968), S. 55 - 61
 
* Hohmeier, J. ''Die soziale Situation ehemaliger Strafgefangener. Erscheinungsformen und Folgen Stigmatisierung – Entwurf eines Forschungsprojektes'', in KrimJ 3 (1971), S. 98 - 106
'''Goffman,''' E. (1971): Interaktionsrituale, Frankfurt/M.  
* Hohmeier, J.: ''Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß'', in: Brusten, M.; Homeier, J. (Hrsg.): Stigmatisierung 1. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Neuwied/Darmstadt 1975
 
* Kirchner, A.; Thurn, C.: ''Lernbehinderung als Stigma'', Würzburg 2001
'''Gouldner,''' A. V. (1960): The norm of reciprocity: A preliminary statment, in: American Sociological Review 25, 161 – 178.  
* Lautmann, R.: ''Entstigmatisierung durch Rechtsgesetze'', KrimJ 1971, S. 935
 
* Lemert, E. M.: ''The Stigma Theory of Crime and Social Deviation'', in: The American Journal of Sociology, Vol. 77 (1971) , No. 2, 357-358  
'''Haffter,''' C. (1968): The changeling: History and psychodynamics of attitudes to handicapped children in European folklore, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences, S. 55 - 61
* Rubington, E.; Weinberg, M. S. (Hrsg.): ''Deviance'', London 1968
 
* Scott, R. A.: ''The construction of conceptions of stigma by professional experts'', in: Douglas, J. D. (Hrsg.), Deviance and respectability, New York 1970 , S. 255 – 290
'''Hohmeier,''' J. (1971) Die soziale Situation ehemaliger Strafgefangener. Erscheinungsformen und Folgen Stigmatisierung – Entwurf eines Forschungsprojektes, in KrimJ 3, 98 - 106
 
'''Hohmeier,''' J. (1975): Stigmatisierung als sozialer Definitionsprozeß, in: Brusten, M.; Homeier, J. (Hrsg.): Stigmatisierung 1. Zur Produktion gesellschaftlicher Randgruppen, Neuwied/Darmstadt  
 
'''Kirchner,''' A.; '''Thurn,''' C. (2001): Lernbehinderung als Stigma, Würzburg
 
'''Lautmann,''' R. (1971): Entstigmatisierung durch Rechtsgesetze, KrimJ 1971 S. 935
 
'''Lemert,''' E. M. (1971): The Stigma Theory of Crime and Social Deviation, in: The American Journal of Sociology, Vol. 77, No. 2, 357-358  
 
'''Rubington,''' E.; Weinberg, M. S. (Hrsg.): Deviance (1968), London
 
'''Scott,''' R. A. (1970): The construction of conceptions of stigma by professional experts, in: Douglas, J. D. (Hrsg.), Deviance and respectability, New York, S. 255 – 290
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