Sozialisation: Unterschied zwischen den Versionen

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==== Definition ====
==== Definition ====


„Bezeichnung für die Gesamtheit aller Vorgänge, in deren Verlauf der Einzelmensch zu einem aktiven Angehörigen einer Gesellschaft und Kultur wird. Durch Prozesse der Sozialisation gewinnt das Individuum seine Identität als eine in Gesellschaft handlungsfähige Persönlichkeit. Sozialisation ist zugleich a) „Vergesellschaftung“ des Menschen im Sinne der Übernahme und Internalisierung („Verinnerlichung“) von soziokulturellen Werten, Verhaltenserwartungen und sozialen Rollen als auch b) Personalisation des Menschen im Sinne von „Besonderung“ seiner individuell bestimmten Auseinandersetzung mit den Angeboten und Einflüssen seiner Gesellschaft“ (Hillmann, S. 805).
Sozialisation bezeichnet "die Gesamtheit aller Vorgänge, in deren Verlauf der Einzelmensch zu einem aktiven Angehörigen einer Gesellschaft und Kultur wird. Durch Prozesse der Sozialisation gewinnt das Individuum seine Identität als eine in Gesellschaft handlungsfähige Persönlichkeit. Sozialisation ist zugleich a) „Vergesellschaftung“ des Menschen im Sinne der Übernahme und Internalisierung („Verinnerlichung“) von soziokulturellen Werten, Verhaltenserwartungen und sozialen Rollen als auch b) Personalisation des Menschen im Sinne von „Besonderung“ seiner individuell bestimmten Auseinandersetzung mit den Angeboten und Einflüssen seiner Gesellschaft“ (Hillmann, S. 805).




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===== Talcott Parsons (Systemtheorie): Sozialisation als Erlernen von Rollen =====
===== Talcott Parsons (Systemtheorie): Sozialisation als Erlernen von Rollen =====


Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons begreift Sozialisation als den Vorgang der Internalisierung der Werte und Normen der Gesellschaft. Der Sozialisationsprozess vollzieht sich nach Parsons in dem Durchlaufen einer Abfolge unterschiedlicher und sich zunehmend differenzierender Rollenbeziehungen (Kindheit: Mutter-Kind-Beziehung, Kernfamilie –  Jugend: Gleichaltrigengruppe, Schule – Erwachsenenalter: Beruf, eigene Familie), innerhalb derer neue Verhaltenserwartungen und Wertorientierungen verinnerlicht werden. Ähnlich wie Durkheim erfährt Parsons Kritik für seine einseitige Sichtweise von Sozialisation als Vergesellschaftung und Prozess der Rollenaneignung, in der Individualität und Autonomie – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle spielen.  
Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons begreift Sozialisation als den Vorgang der Internalisierung der Werte und Normen der Gesellschaft. Der Sozialisationsprozess vollzieht sich nach Parsons in dem Durchlaufen einer Abfolge unterschiedlicher und sich zunehmend differenzierender Rollenbeziehungen (Kindheit: Mutter-Kind-Beziehung, Kernfamilie –  Jugend: Gleichaltrigengruppe, Schule – Erwachsenenalter: Beruf, eigene Familie), innerhalb derer neue Verhaltenserwartungen und Wertorientierungen verinnerlicht werden. Ähnlich wie Durkheim erfährt Parsons Kritik für seine einseitige Sichtweise von Sozialisation als Vergesellschaftung und Prozess der Rollenaneignung, in der Individualität und Autonomie – wenn überhaupt – eine untergeordnete Rolle spielen.


===== George Herbert Mead (Handlungstheorie): Sozialisation durch symbolische Interaktion =====
===== George Herbert Mead (Handlungstheorie): Sozialisation durch symbolische Interaktion =====
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Sozialisationsinstanzen
Sozialisationsinstanzen
Sozialisationsinstanzen sind „[...] gesellschaftliche Gruppen (Familie, Peer Groups), Organisationen (Kindergarten, Schulen, Hochschulen, Betriebe) und Medien (Massenmedien), die durch Vermittlung von Sprache, Werten, Normen, Wissen und Fertigkeiten maßgeblich zur Sozialisation der Persönlichkeit beitragen. Die primäre Sozialisation vollzieht sich vorrangig in Primärgruppen, insbesondere Familie, die sekundäre und tertiäre hauptsächlich in sozialen Sekundärsystemen (Organisationen)“ (Hillmann, S. 806).
Sozialisationsinstanzen sind „[...] gesellschaftliche Gruppen (Familie, Peer Groups), Organisationen (Kindergarten, Schulen, Hochschulen, Betriebe) und Medien (Massenmedien), die durch Vermittlung von Sprache, Werten, Normen, Wissen und Fertigkeiten maßgeblich zur Sozialisation der Persönlichkeit beitragen. Die primäre Sozialisation vollzieht sich vorrangig in Primärgruppen, insbesondere Familie, die sekundäre und tertiäre hauptsächlich in sozialen Sekundärsystemen (Organisationen)“ (Hillmann, S. 806).


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=====<u>Komponenten und Ebenen eines Strukturmodells der Sozialisationsbedingungen</u>=====
Komponenten und Ebenen eines Strukturmodells der Sozialisationsbedingungen
 
 
 


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Besonders für die ersten Lebensjahre bildet die Kernfamilie (bestehend aus Eltern und unmündigen Kindern) die primäre Sozialisationsinstanz. Eine maßgebliche Aufgabe der Eltern besteht in der Übermittlung des gesellschaftlichen Normen- und Wertesystems an ihre Kinder. Darüber hinaus dient das elterliche Verhalten, welches durch Nachahmung erlernt werden soll, dem Kind in den ersten Lebensjahren als alleiniges Vorbild. Eine weitere Funktion besteht nach Schwind (1998) in der gesellschaftlichen Platzierung: „Eltern machen ihre Kinder mit der eigenen sozialen Rolle bekannt, indem sie sie in bestimmte Kreise und Institutionen einführen: Kirche, Sportverein, soziale Einrichtungen, in denen die Eltern selbst tätig sind“ (Schwind, S. 178).
Besonders für die ersten Lebensjahre bildet die Kernfamilie (bestehend aus Eltern und unmündigen Kindern) die primäre Sozialisationsinstanz. Eine maßgebliche Aufgabe der Eltern besteht in der Übermittlung des gesellschaftlichen Normen- und Wertesystems an ihre Kinder. Darüber hinaus dient das elterliche Verhalten, welches durch Nachahmung erlernt werden soll, dem Kind in den ersten Lebensjahren als alleiniges Vorbild. Eine weitere Funktion besteht nach Schwind (1998) in der gesellschaftlichen Platzierung: „Eltern machen ihre Kinder mit der eigenen sozialen Rolle bekannt, indem sie sie in bestimmte Kreise und Institutionen einführen: Kirche, Sportverein, soziale Einrichtungen, in denen die Eltern selbst tätig sind“ (Schwind, S. 178).


Ein empirisch gut belegtes Ergebnis kriminologischer Forschung besteht darin, dass diesen elterlichen Pflichten in unvollständigen Familien sowie Familien der Unterschicht nicht in ausreichendem Maße nachgekommen werde („broken-home-situation“), wodurch sich ein erhöhtes Delinquenzrisiko für diese Kinder ergäbe. In gleicher Weise werden bestimmte Erziehungsstile mit einer größeren Wahrscheinlichkeit für delinquentes Verhalten in Zusammenhang gebracht. So steigern gleichgültige, autoritäre sowie inkonsistente Erziehungsweisen nach den von Schwind rezipierten Studienergebnissen das Gefährdungspotential für kriminelle Handlungen. Sack (1993) bringt jedoch aufgrund von Befunden der Dunkelfeldforschung Zweifel an der Richtigkeit der vielfach postulierten Kausalbeziehung zwischen gestörten Familienstrukturen und Erziehungsstilen sowie Kriminalität an und weist dabei auf die Bedeutung der sozialen Kontrolle hin. „Die Familie begünstigt bzw. verhindert nicht nur Kriminalität im Sinne des Verhaltens, sondern sie begünstigt und verhindert Kriminalität im Sinne ihrer Sichtbarkeit und offiziellen Relevanz. Nicht die Sozialisations-, sondern die Platzierungsfunktion der Familie im Kontext der Sozialstruktur gewinnt damit eine stärkere Betonung“ (Sack, S. 130f.).
Ein empirisch gut belegtes Ergebnis kriminologischer Forschung besteht darin, dass diesen elterlichen Pflichten in unvollständigen Familien sowie Familien der Unterschicht nicht in ausreichendem Maße nachgekommen werde („broken-home-situation“), wodurch sich ein erhöhtes Delinquenzrisiko für diese Kinder ergäbe. In gleicher Weise werden bestimmte Erziehungsstile mit einer größeren Wahrscheinlichkeit für delinquentes Verhalten in Zusammenhang gebracht. So steigern gleichgültige, autoritäre sowie inkonsistente Erziehungsweisen nach den von Schwind rezipierten Studienergebnissen das Gefährdungspotential für kriminelle Handlungen. Fritz Sack äußert allerdings aufgrund von Befunden der Dunkelfeldforschung Zweifel an der Richtigkeit der vielfach postulierten Kausalbeziehung zwischen familiären Störungen und Kriminalitätserzeugung: „Die Familie begünstigt bzw. verhindert nicht nur Kriminalität im Sinne des Verhaltens, sondern sie begünstigt und verhindert Kriminalität im Sinne ihrer Sichtbarkeit und offiziellen Relevanz. Nicht die Sozialisations-, sondern die Plazierungsfunktion der Familie im Kontext der Sozialstruktur gewinnt damit eine stärkere Betonung“ (Sack 1993: 130 f.).


===== Peer group =====
===== Peer group =====
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Seit längerem ist zu beobachten, dass sich die Schule immer mehr auf die Funktion der Wissensvermittlung konzentriert und die ihr zugedachten Erziehungsaufgaben nicht mehr (angemessen) erfüllt. Der Leistungsdruck, dem die Schüler durch die Selektionsfunktion der Schule ausgesetzt sind, führt nicht selten zu Konkurrenz, Frustrationen und Stress.
Seit längerem ist zu beobachten, dass sich die Schule immer mehr auf die Funktion der Wissensvermittlung konzentriert und die ihr zugedachten Erziehungsaufgaben nicht mehr (angemessen) erfüllt. Der Leistungsdruck, dem die Schüler durch die Selektionsfunktion der Schule ausgesetzt sind, führt nicht selten zu Konkurrenz, Frustrationen und Stress.
Eine empirisch gut belegte Erkenntnis der Kriminologie stellt auf den Zusammenhang zwischen schulischer und krimineller Karriere ab. So weist Schöch (1993) darauf hin, dass registrierte Delinquenz relativ hoch mit Schuldefiziten oder Störungen des normalen Schulablaufes korreliert (Schöch, S. 458). Er beruft sich auf Studienergebnisse, nach denen Bestrafte häufiger durch schulische Misserfolge, Fernbleiben von der Schule, aggressives und destruktives Verhalten sowie durch den Besuch der Sonderschule auffallen als der Bevölkerungsdurchschnitt (vgl. ebd., S 458 und Schwind, S. 210f.). Da schulische Störungen jedoch häufig mit zahlreichen weiteren Defiziten im familiären Bereich und der Wohnsituation einhergehen, können diese nach Schöch nicht einfach als Ursache für Delinquenz angesehen werden.
Eine empirisch gut belegte Erkenntnis der Kriminologie stellt auf den Zusammenhang zwischen schulischer und krimineller Karriere ab. So weist Schöch (1993) darauf hin, dass registrierte Delinquenz relativ hoch mit Schuldefiziten oder Störungen des normalen Schulablaufes korreliert (Schöch, S. 458). Er beruft sich auf Studienergebnisse, nach denen Bestrafte häufiger durch schulische Misserfolge, Fernbleiben von der Schule, aggressives und destruktives Verhalten sowie durch den Besuch der Sonderschule auffallen als der Bevölkerungsdurchschnitt (vgl. ebd., S 458 und Schwind, S. 210f.). Da schulische Störungen jedoch häufig mit zahlreichen weiteren Defiziten im familiären Bereich und der Wohnsituation einhergehen, können diese nach Schöch nicht einfach als Ursache für Delinquenz angesehen werden.
Ende der achtziger Jahre hat die kriminologische Forschung damit begonnen, sich mit dem Thema „Gewalt in der Schule“ zu beschäftigen. Schwind weist darauf hin, dass diese Untersuchungen im wesentlichen folgende Ergebnisse gemeinsam haben: es sei eine Zunahme der Anzahl schulschwieriger Schüler festzustellen; bei den Delikten handele es sich überwiegend um Körperverletzungen, aber auch um Raubtaten, Erpressungen sowie Sachbeschädigungen; .besonders belastet seien Sonder-, Haupt- und Realschulen mit problematischen Schuleinzugsgebieten; Täter seien fast ausschließlich Jungen in der siebten und achten Klasse, die die Gewalt in Gruppen ausüben und immer brutaler werden; dieselben stellen zugleich auch häufig die Opfer von Gewalt dar; in einigen Fällen erfolgen Gewalthandlungen grundlos oder aus nichtigen Anlässen; in Deutschland handele es sich bei körperlichen Angriffen gegen das Lehrpersonal im Gegensatz zu den USA um eine Seltenheit; Ursachen für Gewalt in der Schule lägen in Problemen der familialen Erziehung, Medieneinflüssen, Frustrationen, Langeweile sowie reiner Freude an der Gewalt (vgl. hierzu Schwind, S. 216).
 
Ende der achtziger Jahre hat die kriminologische Forschung damit begonnen, sich mit dem Thema „Gewalt in der Schule“ zu beschäftigen. Schwind weist darauf hin, dass diese Untersuchungen im wesentlichen folgende Ergebnisse gemeinsam haben: es sei eine Zunahme der Anzahl schulschwieriger Schüler festzustellen; bei den Delikten handele es sich überwiegend um Körperverletzungen, aber auch um Raubtaten, Erpressungen sowie Sachbeschädigungen; .besonders belastet seien Sonder-, Haupt- und Realschulen mit problematischen Schuleinzugsgebieten; Täter seien fast ausschließlich Jungen in der siebten und achten Klasse, die die Gewalt in Gruppen ausüben und immer brutaler werden; dieselben stellen zugleich auch häufig die Opfer von Gewalt dar; in einigen Fällen erfolgen Gewalthandlungen grundlos oder aus nichtigen Anlässen; in Deutschland handele es sich bei körperlichen Angriffen gegen das Lehrpersonal im Gegensatz zu den USA um eine Seltenheit; Ursachen für Gewalt in der Schule lägen in Problemen der familialen Erziehung, Medieneinflüssen, Frustrationen, Langeweile sowie reiner Freude an der Gewalt (vgl. hierzu Schwind, S. 216).


==== Kriminologische Relevanz ====
==== Kriminologische Relevanz ====
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*Trotha, T. von (1993): ''Bande, Gruppe, Gang''. In: G. Kaiser / H.-J. Kerner / F. Sack /H. Schellhoss (Hrsg.): ''Kleines Kriminologisches Wörterbuch''. Heidelberg: C.F. Müller. S. 53 – 59  
*Trotha, T. von (1993): ''Bande, Gruppe, Gang''. In: G. Kaiser / H.-J. Kerner / F. Sack /H. Schellhoss (Hrsg.): ''Kleines Kriminologisches Wörterbuch''. Heidelberg: C.F. Müller. S. 53 – 59  
*Wheeler, S. (1961): ''Socialisation in Correctional Communities''. In: American Sociological Review. S. 697 – 712
*Wheeler, S. (1961): ''Socialisation in Correctional Communities''. In: American Sociological Review. S. 697 – 712
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Anonymer Benutzer

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