Einleitung

Der Begriff „Sozialkapital“ erfreut sich seit Ende der neunziger Jahre zunehmender Verbreitung in sozialwissenschaftlichen Debatte. „Sozialkapital“ umfasst Vertrauen, Normen, Werte, Sitten, Regeln, Denkschemata, Verhaltensmuster und Netzwerke, die den sozialen Zusammenhalt von unterschiedlichen sozialen Organisationen befördern.


Historie des Begriffs „Sozialkapital“

Das Forschungsfeld um das „Sozialkapital“ entstand durch die wissenschaftliche Diskussion im Bereich der sozialen Netzwerkforschung und der sozialen Ressourcen. Es stellte sich heraus, dass die diskutierten Theorien nicht dem Bedarf einer beständigen Theorie gerecht wurden und viele Fragen offen ließen. Deshalb musste ein neuer Begriff und Theorieansatz gefunden werden, der die noch offenen Fragen und Probleme der sozialen Netzwerkforschung und des Bereiches der sozialen Ressourcen schließt. Hier trat nun das „Sozialkapital“ in den Vordergrund. In der wissenschaftlichen Debatte gibt es jedoch einen Streit darüber, wann der Begriff „Sozialkapital“ in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt wurde und welcher Wissenschaftler ihn zuerst einbrachte. Die Wissenschaft ist sich deshalb über den Entstehungsprozess nicht einig. 1997 startet Michael I. Lichter einen Versuch, dem Ursprung des Begriffs „Sozialkapital“ auf den Grund zu gehen. Lichter veröffentlicht im Internet die Frage, wann und von wem der Begriff „Sozialkapital“ zum ersten Mal verwendet wurde. Festzuhalten ist, dass die Konzepte zum „Sozialkapital“ unabhängig voneinander in verschiedenen Disziplinen entwickelt wurden. Der Begriff wurde bereits von Jane Jacobs 1961 in ihrem Werk, „The Death and Life of Great American Cities“ , zur Beschreibung von städtischen Nachbarschaftsnetzwerken verwendet. Nach Lewis A. Friedland wurden von diesem Werk von Jacobs, Glenn Cartman Loury und in der Folge James S. Coleman inspiriert. Robert D. Putnam, der sich selbst an der Internetdebatte von Lichter beteiligte, führt den Ursprung des Begriffes „Sozialkapital“ auf einen anderen Autor, den Deutschen Ekkehart Schlicht zurück. Schlicht verwendete 1984 „Sozialkapital“ in einem Aufsatz über „Normengeleitetem Verhalten“. Schlicht selbst wurde von den Arbeiten von Weizsäcker und von Alfred Marshall angeregt. Weiter ergaben die Recherchen über die Herkunft von „Sozialkapital“, dass Lydia Judson Hanifan schon 1920 in „The Community Center“ den Begriff gebrauchte. Hanifan, Jacobs und Loury verwendeten den Begriff ohne ein theoretisches Konzept im Hintergrund. Erst James Coleman und Pierre Bourdieu stellen „Sozialkapital“ in einen theoretischen Zusammenhang.


Begriffsdefinition

„Soziales Kapital stellt die Zugehörigkeit zu familiären und klassenabhängigen sozialen Netzen dar, die gegenseitige Verpflichtungsbeziehungen, Vertrauen und Reputation mit sich bringen“ . Dem „Sozialkapital“ wird nicht nur Einfluss auf den ökonomischen Fortschritt eines Landes zugesprochen, sondern ihm auch eine besondere Wirkung auf das Funktionieren von Demokratien zugeschrieben. Im Unterschied zu den anderen Kapitalsorten, entsteht „Sozialkapital“ in den Beziehungen zwischen den Akteuren. Grundlegend kann „Sozialkapital“ nach dem Nutzen der Akteure unterschieden werden: Erstens, nach dem Nutzen des Einzelnen, der durch aktives Eigenengagement, sich selbst das „Sozialkapital“ erwirtschaftet und Nutzen daraus ziehen kann. Zweitens, der Nutzen des Einzelnen, der entsteht, wenn der Einzelne geringeres Engagement in die vorhandenen Netzwerkstrukturen investiert, jedoch durch die vorhandenen sozialen Beziehungen über Dritte, Nutzen daraus für sich selbst ziehen kann. Drittens, der Nutzen der Gemeinschaft, der durch das Vorhandensein dieser Netzwerkstrukturen und dem daraus resultierende „Sozialkapital“ entsteht. Dem „Sozialkapital“ werden auf den verschiedenen Ebenen unterschiedliche Wirkungen zugesprochen. Im Bereich der individuellen Ebene hat beispielsweise derjenige Vorteile, der über „Sozialkapital“ verfügt und dieses dann bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle oder auch im Berufsleben nutzen kann. Weiter wurde ein positiver Zusammenhang zwischen der Bildung von „Sozialkapital“ und dem politischen Engagement festgestellt. Bei steigendem „Sozialkapital“ besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Personen politisch beteiligen. In der wissenschaftlichen Praxis wird „Sozialkapital“ als unabhängige und auch als abhängige Variable zur Erklärung der unterschiedlichsten Phänomene verwendet, deshalb ist keine einheitliche Operationalisierung erkennbar. Zwei Untersuchungsebenen haben sich in der wissenschaftlichen Verwendung herauskristallisiert. Der individualistische und der Netzwerk-theoretische Ansatz, welcher „Sozialkapital“ als Ressource ansieht, die instrumentell nutzbar, jedoch nicht spezifisch unabhängig von anderen Personen anwendbar ist. Beim Ansatz in der Debatte um die „politische Kultur“, wird „Sozialkapital“ als Gesamtes gesehen, als Ressource, der eine positive Wirkung als Problemlösungsfaktor beigemessen wird. „Sozialkapital“ ist produktiv und weist eine Beeinflussung von ökonomischen Effekten auf. Damit das Niveau von „Sozialkapital“ gehalten werden kann, muss in das „Sozialkapital“ reinvestiert werden. Dies erfolgt durch die Pflege der sozialen Kontakte in einem ständigen Wechselwirkungsprozess, in dem Zeit und direkt oder auch indirekt Geld investiert werden muss. Von diesen Investitionen wird erwartet, dass daraus später Profit erzielt wird. „Sozialkapital“ lässt sich auch in andere Kapitalformen umwandeln. Wenn „Sozialkapital“ erlischt, entsteht daraus physisches Kapital oder auch Humankapital. „Sozialkapital“ hilft Ziele, die für unerreichbar scheinen, mit einem durchaus niedrigeren Kosteneinsatz leichter zu erreichen.


Sozialkapital und Kriminologie

„Sozialkapital“ hat für die Kriminologie vor allem im Bereich Prävention eine bedeutende Rolle. Es kann dazu beitragen Kriminalität zu verhindern. Jedoch nicht jede Form von „Sozialkapital“ erwirtschaftet denselben Nutzen. Beispielweise kann das Engagement in einer politischen Partei neben den positiven Effekten auch negative Auswirkungen haben, wenn z.B. der Arbeitgeber dem politischen Engagement eines Bewerbers einer Arbeitsstelle kritisch gegenüber steht und dieser deshalb nicht in die engere Auswahl gezogen wird. Dennoch wird dem Soziakapital meist eine positive Wirkung zugesprochen. Im Gegenzug gibt es auch Wissenschaftler, die dem „Sozialkapital“ einen negativen Effekt bescheinigen. Denkt man beispielsweise an die Mafia, die durch ihr Gewaltmonopol agiert und den eigenen Verbund so zusammenhält, indem sie Personen, die nicht in ihr Konzept passen, unterdrückt. Einige Studien haben ergeben, dass es bei Gruppen, die über einen hohen Anteil an „Sozialkapital“ verfügen, dazu führen kann, dass die Mitglieder dieser Gruppierung nur über eine eingeschränkte individuelle Freiheit verfügen. Diese wird durch bestehende Normen der Gruppe so eingeengt und dadurch wird ein Aufstieg jedes Einzelnen innerhalb der sozialen Struktur erschwert. Robert Putnams Hypothese ist, dass das in den letzten Jahrzehnten zurückbildende Engagement der Bürger für die Gesellschaft, eine schleichende Zerstörung der grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Vorbedingungen für eine wirksame Demokratie, zur Folge hat. So sieht er, dass in Gesellschaften, die über ein hohes Plus an Sozialkapital verfügen, mehr freiwillige Kooperationen entstehen. Netzwerke haben für die Akteure einer Gesellschaft einen positiven Vorzug, d.h. einen privaten oder internen Nutzen. Im Gegensatz dazu gibt es auch Ansätze, die von einem externen oder öffentlichen Effekt von Sozialkapital sprechen. Als Beispiel hierfür führt Putnam die Beziehungsdichte innerhalb eines Wohngebietes an. In Wohnbezirken, in denen eine hohe Beziehungsdichte vorhanden ist, ist eine niedrigere Kriminalitätsrate festzustellen, d.h. dieses informelle Sozialkapital hat eine präventive Wirkung. Selbst die passiven Bewohner dieses Wohnbezirkes, die ihre sozialen Kontakte weniger aktiv pflegen, profitieren davon. Putnam sieht dies als einen Beweis dafür an, dass Sozialkapital auch zum öffentlichen Gut werden kann. Für die kriminologische Forschung ist sowohl der positive als auch der negative Effekt von „Sozialkapital“ interessant. Netzwerke können zur Kriminalitätsbekämpfung beitragen oder auch Verursacher sein.


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