Die 9-Millionen-Republik Ruanda - der afrikanische Staat mit der höchsten Bevölkerungsdichte - war 1994 Schauplatz eines von der Weltöffentlichkeit passiv miterlebten Genozids, bei dem binnen weniger Monate rund 800.000 Menschen auf grausamste Weise umgebracht wurden. Die Aufarbeitung des Geschehens erfolgt in erster Linie mittels der Gacaca-Justiz. Für die mutmaßlichen Haupttäter wurde der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda eingerichtet.

Allgemeines

Ruanda wird von den Tutsi (Viehzüchtertradition), den Hutu (Ackerbautradition) und den zu den Pygmäenethnien gezählten Batwa (Jäger- und Sammlertradition; Töpfer) bewohnt. Am stärksten benachteiligt ist traditionell die kleine Gruppe der Batwa: während im Landesdurchschnitt knapp 60% der Haushalte über genügend Land zur Selbstversorgung verfügen (0,7 ha), ist dies bei den Batwa nur bei 1,5% der Fall. Bis 1959 und seit 1994 besteht die gesellschaftlich und politisch maßgebliche Schicht zum größten Teil aus Angehörigen der Tutsi, zu denen auch der seit 1994 amtierende Präsident Paul Kagame gehört. Seit 1994 wird das Land autokratisch regiert. Die Pressefreiheit ist eingeschränkt: "Erst 2011 wurden laut der Organisation Reporter ohne Grenzen zwei ruandische Journalistinnen zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, weil sie den Präsidenten kritisiert hatten. Wer dort eine Zeitung oder einen Sender gründen will, muss hohe Gebühren entrichten, 41.000 Euro sind es für eine neue Zeitung - auch ein Weg, die Medienvielfalt einzuschränken. Und so zählt Reporter ohne Grenzen Kagame zu den Feinden der Pressefreiheit. Sein Land steht auf der Liste der 178 Länder, die am meisten Pressefreiheit gewährleisten, nur auf Platz 169" (Raab 2011).

Mit dem Ende des Genozids wurde - nach einer Zwischenphase der Hutu-Herrschaft von 1959 bis 1994 - die traditionelle Ethno-Hierarchie wieder hergestellt. Nach der starken und letztlich fatalen Betonung der Ethnizität ist die seither (wieder) tonangebende Minderheit an einer möglichst geringen Thematisierung ethnischer Zugehörigkeit interessiert und übt in dieser Hinsicht mit dem Strafrecht und anderen Mitteln nicht unbedeutenden Druck aus. Die Regierung proklamiert den Vorrang der ruandischen Identität vor der ethnischen Zugehörigkeit und den Vorrang der wirtschaftlichen Entwicklung vor der Demokratie. Meinungsfreiheit und Recht der Opposition sind stark eingeschränkt.

Geschichte

Nach der allmählichen Einwanderung der Bantu sprechenden und Ackerbau betreibenden Hutu (um das Jahr 1000 n.Chr.) in das Gebiet des heutigen Ruanda, das damals nur von Batwa bewohnt war, kamen einige Jahrhunderte später die Tutsi, die Rinder züchteten und Eisen herstellen konnten. Die Waldgebiete, in denen die Batwa wohnten, wurden zugunsten des Ackerbaus der Hutus und der Viehzucht der Tutsi allmählich gerodet. Da Ruanda die arabischen und europäischen Sklavenjagden vermeiden konnte, war der Zuzug von Einwohnern beachtlich - zumal örtliche Machthaber aus der Größe ihrer Klientel weitere Macht und Einkommen ableiten konnten. Die Bevölkerung nahm allein zwischen den 1940er und 1980er Jahren von einer auf sieben Millionen zu. Während der Kolonialzeit (1895-1916: deutsche Kolonie; danach belgisches Treuhandgebiet) wurde Grundbesitz der örtlichen Machthaber aufgeteilt und seit den 1960er Jahren ermutigte die Regierungspolitik die Bauern, ihr Ackerland zu Lasten des Weidelandes, der Feuchtgebiete und Wälder auszudehnen. Die vorher entspannte Situation - zwischen den Tutsi und den Hutu hatten sich feudale Abhängigkeits- und Kooperationsstrukturen entwickelt, was auch zu einer gewissen Verwischung der ethnischen Grenzen geführt hatte - spitzte sich zu. Als Ruanda sich der Unabhängigkeit näherte, war die soziale Situation gespannt.

Im sogenannten ersten ruandischen Genozid (1959-1961) wurden rund 100.000 Tutsi umgebracht. Die Hutu-Revolution resultierte in der Flucht des Tutsi-Königs und 200.000 weiterer Tutsi nach Burundi. Im Januar 1961 wurde die Republik Ruanda ausgerufen. Im September gewann die von den Hutu dominierte Parmehutu Partei die Wahlen. Formell unabhängig wurde Ruanda am 1.07.1962. Die Parmehutu Partei nannte sich nunmehr Mouvement Démocratique Républicain (MDR, Democratic Republican Movement) und hielt sich unter ihrem Vorsitzenden Grégoire Kayibanda bis 1973 an der Macht. 1963 begannen Tutsi nach Ruanda zurückzukehren. Die Regierung befürchtete einen bewaffneten Aufstand der Tutsi und unternahm entsprechend repressive Maßnahmen. In der folgenden Dekade kam es dann zu größeren Auseinandersetzungen. Am 05.07.1973 riss der Verteidigungsminister General Juvénal Habyarimana in einem unblutigen Coup die Macht an sich. Habyarimana, ein Hutu aus dem wohlhabenderen nördlichen Ruanda, warf Kayibanda die bevorzugte Behandlung der südlichen Hutu vor und gründete mit dem Mouvement Républicain National pour la Démocratie (MRND, National Republican Movement for Development) eine neue Partei.

1990 halfen belgische Truppen und afrikanische Nachbarstaaten bei der Niederwerfung eines Aufstandsversuchs durch exilierte Tutsi in Uganda. Rund 2.000 Tutsi starben, bevor der Front Patriotique Rwandais (FPR, Rwandan Patriotic Front) und die ruandische Regierung einen Waffenstillstand erreichten. 1991 führte eine neue Verfassung eine Mehrparteien-Demokratie in Ruanda ein. Im August 1993 kam es zu einem Friedensvertrag mit der FPR und Wahlen wurden für 1995 vorgesehen. Es kam jedoch zu Verzögerungen.

Der Genozid von 1994

Zwischen 800.000 und einer Million Menschen kamen in der Zeit vom 07.04.1994 bis Juni desselben Jahres in Ruanda um. Der Genozid begann nach dem Abschuss des Flugzeugs von Präsident Juvénal Habyarismana (einem Angehörigen der Ethnie der Hutu) am Abend des 06.04.1994 und entwickelte sich zu einem beispiellosen Massaker von Hutus an Tutsis und an moderaten Hutus. Der Völkermord wurde durch den Einmarsch und die Machtübernahme der im Exil von Paul Kagame aufgebauten "Front Patriotique Rwandais" beendet.

Der Genozid in Ruanda (1994) überraschte die Welt, weil "man" geglaubt hatte, dass nach 1945 kein Genozid mehr zugelassen werden und durchgeführt werden könnte - aber in diesem Fall trotzdem zugelassen wurde. Die "Weltgemeinschaft" ließ den Genozid zu und zögerte sogar, ihn als solchen zu bezeichnen, obwohl er alle Merkmale des Genozids in einzigartiger Weise und offensichtlich verwirklichte.

Die Aufarbeitung

15 Jahre nach dem Völkermord leben Hunderte mutmaßlicher Täter in Kongo-Kinshasa, Südafrika, Kenia und vor allem in Europa (Belgien, Frankreich, Deutschland) und Amerika (Kanada, USA). Dazu gehört Félicien Kabuga, der mutmaßliche Geldgeber der Interhamwe-Milizen (Kenia). In Frankreich läuft eine Klage gegen die in der Nähe von Paris lebende Witwe des Präsidenten (Agathe H.), die verdächtigt wird, an der Planung und Ausführung des Genozids beteiligt gewesen zu sein. Ebenso wie Frankreich lehnt auch Kanada, wo rund 800 Tatverdächtige leben, Auslieferungen Ruanda ab, weil die ruandische Justiz nicht internationalem Standard entspreche. In Kanada lebt z.B. Léon Mugesera, der Ideologe der Massenvernichtung.

In der Folge wurden Verdächtige willkürlich verhaftet (1996); 1997 kehrten rund 1,2 Millionen Hutu-Flüchtlinge zurück. 1998 wurden 21 des Völkermords beschuldigte Verurteilte öffentlich hingerichtet. 2001 wurden Gacaca-Dorfgerichte zur schnelleren Aburteilung der über 120 000 genozidverdächtigen Inhaftierten eingerichtet.

Gegen den 2008 wiedergewählten Paul Kagame und neun seiner Getreuen besteht ein internationaler Haftbefehl. Der französische Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière wirft den Gesuchten den Flugzeugabschuss und die Auslösung des mit der Tutsi-Machtübernahme beendeten Genozids vor. Auch die spanische Justiz sucht Kagame: "Los múltiples testimonios son concordantes: sus repetidas órdenes son siempre de screening, código interno que significa eliminación sin distinctión miles de civiles desarmados. Aunque en el caso de los tres obispos y diversos sacerdotes y religiosas asesinados en Kabgayi junto a una multitud de civiles, usó una variante: "Limpiad esa basura"" (Carrereo 2008).

Die FPR strebte die alleinige politische Führungsrolle in Ruanda an und bootete u.a. auch ihre Koalitionspartner MDR, PL und PSD aus. Angesichts ihrer zahlenmäßig minoritären Situation hätte die FPR diese Alleinherrschaft an den Urnen nie erlangen können. Deshalb schritt sie laut Anklageschrift zu den erwähnten Maßnahmen, die mit der faktischen Aufkündigung des Abkommens von Arusha begannen und mittles einer Dynamik von Chaos und Krieg zur Erreichung des Zieles führten - wenn auch auf dem Umweg über den Hutu-Genozid an den Tutsi. Das erste Ziel war die Eliminierung der damaligen Hutu- und der als verräterisch angesehenen Tutsi-Elite im Staat, einschließlich derjenigen der verbündeten Parteien; die Ermordung des Präsidenten Habyarimana als der einzigen Integrationsfigur. Während Hutu im Landesinnern die (von Kagame als Verräter angesehenen) Tutsi ermordeten, schickte man die Truppen fort, um die Hutu gewähren zu lassen und sich der Verräter auf diese Art zu entledigen. Die FPR erreichte ihr Ziel: die Wiederherstellung ihrer (in ihrer eigenen Mythologie) seit alters her bestehenden Herrschaft über Ruanda. Und die Herrschaft über die erheblichen Bodenschätze in benachbarten Zaire, heute (wieder) Kongo, wo man systematisch Coltan, Diamanten und Gold ausbeutet. Die UNO-Reaktion folgt dem Einfluss der USA und Dutzender von multinationalen Mineralienunternehmen und manifestiert ihre Grenzen auch in bezug auf ACNUR, den Organismus, der zum Schutze vor weiteren Gewalttaten eingerichtet worden war. ACNUR wurde gegen sein eigenes Mandat und gegen den Gersony-Bericht genötigt, die Hutu-Flüchtlinge nach Ruanda zurückzuschicken, wo sie häufig verschwanden oder ermordet wurden. Die Chefanklägerin des Ruanda-Tribunals, Carla del Ponte, wurde unmittelbar abgelöst, nachdem sie erklärt hatte, sie wolle zumindest einen der vermutlich 40 mutmaßlichen aktiven Tutsi-Staatsterroristen anklagen. Fernando Andreu hat nun erstmals in der Geschichte nicht die Verbrechen der Verlierer, sondern der Sieger angeklagt - wenn auch nur vor einem staatlichen Gericht in Spanien.

Nach Ansicht von Juan Carrero (Präsident des Fórum Internacional por la Verdad y la Justicia en el África de los Grandes Lagos) und Jordi Palou-Loverdos (Anwalt der spanischen und ruandischen Opfer sowie des Fórum vor der Audiencia Nacional in Madrid) wurden von 1990 bis 2008 von Angehörigen der Ethnie der Tutsi in Ruanda und in der Republik Kongo einzelne politische Delikte und massenhafte Tötungen begangen, die zum Teil auch die Bezeichnung eines Genozids verdienen und zum Teil als solche aufgrund des Weltrechtsprinzips in Spanien zur Anklage kamen.

Gegen 40 Personen mit hohen Ämtern in der ruandischen Regierung erließ Fernando Andreu, Richter an der Audiencia Nacional in Madrid, im Februar 2008 internationale Haftbefehle wegen des Verdachts auf Genozid. Unter den Opfern befanden sich neun Spanier (sechs Missionare und drei Angehörige der Médicos del Mundo). Eines der Opfer, Joaquim Vallmajó, hatte in Briefen an seine Freunde die FPR (Frente Patriótico Ruandés) beschuldigt, eine Kampagne der Desinformation in Gang zu setzen, "para hacer creer que las víctimas son los verdugos y los verdugos son las víctimas". Wenige Tage vor seinem Verschwinden im April 1994 hatte er die Maschinengewehrsalven, Schreie und Explosionen gehört, die das mitternächtliche Massaker an 2.500 Hutu-Bauern im Stadion von Byumba begleiteten. Auch die anderen spanischen Opfer waren unwillkommene Zeugen der Massaker seitens der (heute in Ruanda regierenden) Tutsi-Führungsebene an Hutu-Zivilisten gewesen.

Der ruandische Genozid liegt auch den beiden Angriffskriegen der Tutsi-Regierung in Ruanda uner Paul Kagame gegen Kongo zugrunde, die direkt oder indirekt rund fünf Millionen Menschenleben kosteten.

"Bis heute treiben die FDLR-Milizen, deren Präsident Ignace Murwanashyaka unbehelligt in Mannheim lebt, in Kongo ihr Unwesen" (Scheen 2009).

Seit einiger Zeit wird Kagame bezichtigt, einen Krieg gebraucht zu haben, "um die Macht übernehmen zu können, weil er angesichts der erdrückenden Mehrheit der Hutu im Land niemals eine Wahl gewonnen hätte, behaupten seine Kritiker. Ruanda bestreitet diese Vorwürfe und behauptet, die auf dem Höhepunkt des Völkermordes nach Ruanda entsandten franzöischen Streitkräfte hätten direkt am Völkermord teilgenommen" (Scheen 2009).


Literatur

  • Carney, J. J. Carney (2012) Beyond Tribalism: The Hutu-Tutsi Question ... Journal of Religion in Africa 42 (2012) 172-202.
  • Hankel, Gerd (Hg.) (2008) Die Macht und das Recht. Beiträge zum Völkerrecht und zum Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts; Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft.
  • Hankel, Gerd (2006) Die UNO. Idee und Wirklichkeit; Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft.
  • Hankel, Gerd (2003) Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg; Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft.
  • Hankel, Gerd und Gerhard Stuby, Hg. (1995) Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen; Hamburger Edition HIS Verlagsgesellschaft.
  • Krüger, Karen (2006) Die Massen bewegen: Medien und Emotionen in der Moderne, in: Frank Bösch, ‎Manuel Borutta, ‎Emotions ..
  • Krüger, Karen (2004) “They are not different from us, they just look different“. Colonial Stereotypes and Violence in Rwanda 1994
  • Longman, Timothy (2001) CHURCH POLITICS AND THE GENOCIDE IN RWANDA. Journal of Religion in Africa 31: 163-186. Darin: "Both because they saw Tutsi as the established elite who needed to be appeased and because they believed in the natural superiority of Tutsi, missionaries initially offered educational and employment opportunities overwhelmingly to Tutsi. As Tutsi themselves entered the priesthood, some used their positions to further advance the interests and prospects of their ethnic group. Most significantly, the court histories written by the priest Alexis Kagame helped justify Tutsi rule over Rwanda (Linden and Linden 1977: 73-185; Rutayisire 1987; Vidal 1991). Following the Second World War, a new breed of Catholic missionary, influenced by social democratic philosophies, questioned the inequalities in Rwandan society and began to foster a Hutu 'counter-elite,' providing education and employment to promising young Hutu. When a peasant uprising in November 1959 drove most Tutsi from political offices, the Hutu counter-elite fostered by the missionaries stepped out of their church functions to assume political leadership, including Gr&goire Kayibanda, who had served as editor of a Catholic newspaper and leader of a Catholic consumers' cooperative and went on to become prime minister, then president (Linden and Linden 1977: 220-281; Lemarchand 1970: 119-260). While the 1959 revolution led to a dramatic shift in the structures of political power in Rwanda, as Hutu assumed nearly all state offices, and marked a partial shift in church support from Tutsi to Hutu, the basic principles of the churches' participation in political struggles and engagement in ethnic politics remained consistent."
  • Mamdani, Mahmood (2001) When Victims Becme Killers. Princeton Darin: "Chapter Four focuses on the revolution of 1959 and on the intellectuals who tended to eulogize it. Unlike some who write after the genocide of 1994 and caricature the Revolution, I take its social claims seriously. But unlike those who turn the social and economic record of the revolution as reason enough to embrace it, I turn to its political record toproblematize the revolution. The single most important failure of the revolution was its inability to transform Hutu and Tutsi as political identities generated by the colonial power. If anything, the revolution built on and reinforced these identities in the name of justice. The underside of the Rwandan revolution, its political tragedy, was that this relentless pursuit of justice turned into a quest for revenge. That quest was the hallmark of the First Republic."
  • Raab, Klaus (2011) Ruandas Präsident lässt mit sich reden. der Freitag Nr. 22, 1.06.2011: 21.

Weblinks