Restorative Justice (to restore: wiederherstellen; justice: Gerechtigkeit; restorative justice = wiederherstellende Gerechtigkeit) ist eine Form alternativer Konfliktregelung - das heißt: eine Alternative zum Gerichtsverfahren. In verschiedenen Ausprägungen und mit wechselndem Erfolg wird "wiederherstellende Gerechtigkeit" in nichtstaatlichen Gemeinschaften (z.B. Stammesgesellschaften) und in Staaten wie Australien, Kanada und Neuseeland praktiziert.

Begriff

RJ ist eine Reaktion auf Delikte, die das Opfer, den Täter und die Gemeinschaft/Gesellschaft in die Suche nach Lösungen involviert, die auf die Wiederherstellung von positiven sozialen Beziehungen, insbesondere auf Wiedergutmachtung, Versöhnung und Vertrauensbildung hin orientiert sind.


Grundidee

Die Grundidee der Restorative Justice lautet: es gibt Besseres als die Strafjustiz. Besser für die Opfer von Straftaten und ihre Bezugspersonen; besser für die Täter von Straftaten und ihre Bezugspersonen; besser aber auch für die Gesellschaft insgesamt. Besser, weil es nicht auf bloßen Ausgleich des Unrechts abzielt, sondern auf die 'Wiederherstellung' dessen, was beim Opfer und in der Gesellschaft als ganzer zerstört wurde, auf die 'Wiederherstellung' des friedlichen und vertrauensvollen Miteinanders und nicht nur auf die Ruhigstellung eines ungelösten Problems.

Im Zentrum des Konzepts findet sich der Gedanke, dass Delikte Menschen und ihre Beziehungen beschädigen, und dass die Annahme von Verantwortung eine notwendige Voraussetzung für den Beginn eines jeden Prozesses von Wiederherstellung ist. Die fundamentalen Prinzipien von RJ sind:

1. den Schädiger direkt für das individuelle Opfer und die Schäden der spezifischen Gemeinschaft, die auch betroffen ist, verantwortlich machen;

2. vom Schädiger verlangen, dass er unmittelbare Verantwortung für das "Heilmachen" - soweit das möglich ist - übernimmt;

3. dem Opfer Zugang zu Gerichten und anderen Institutionen zu verschaffen, so dass ihm Einfluss auf die Verpflichtungen ermöglicht wird, die dem Schädiger auferlegt werden

4. die Gemeinschaft zu ermuntern, sich direkt in die Unterstützung der Opfer, die Verantwortlichmachung der Schädiger und die Zur-Verfügung-Stellung von Gelegenheiten für die Schädiger, sich wieder in die Gemeinschaft einzugliedern, einzubringen.

RJ beruht laut Howard Zehr (1990: 181) auf folgenden Annahmen:

  • Straftaten verletzen Menschen und Beziehungen
  • Gerechtigkeit zielt darauf ab, Bedürfnisse und Verpflichtungen zu identifizieren,
  • um die Angelegenheit wieder zurechtzurücken.
  • Gerechtigkeit unterstützt Dialog und gegenseitiges Einvernehmen,
  • räumt Opfern und Tätern zentrale Rollen ein
  • und wird danach beurteilt, inwieweit sie dazu führt, dass Verantwortlichkeiten angenommen, Bedürfnisse befriedigt und die Heilungsprozesse (von Individuen und Beziehungen) gefördert werden.

RJ bedeutet nicht die Rückkehr zu den Beziehungen, die vor der Tat bestanden. Es geht aber um das Heilen von Wunden. Opfer werden wieder das Gefühl haben wollen, eine gewisse Kontrolle über ihr Leben zu haben; sie werden Aufklärung, Erklärungen und eine ernstgemeinte Reue der Schädiger erfahren wollen. Schädiger wird es gut tun, Verantwortung für ihre Taten und den dadurch angerichteten Schaden zu übernehmen - aber auch, sich darum zu kümmern, all das in ihnen selbst zu bearbeiten, das sie so gefährlich für andere gemacht hat. Die Gemeinden wiederum werden ein Interesse daran haben, die Illegitimität des schädigenden Verhaltens und die Geltung der Normen zu bekräftigen. Dazu kommt das Ziel der erfolgreichen Reintegration des Schädigers in die Gemeinschaft.

Geschichte

Obwohl RJ auch Wurzeln in anderen Kulturen hat, stammen die wichtigsten Einflüsse auf die nordamerikanische RJ-Bewegung aus den Lehren der Ureinwohner, religiösen Gemeinschaften, von Gefängnis-Abolitionisten und von der Bewegung der alternativen Konfliktregelung.

1989 trat in Neuseeland der Children, Young Persons and their Families Act in Kraft, der das sog. family group conferencing einführte - ein Programm, das auf den Prinzipien von Restorative Justice basierte. Australien führte das family group conferencing dann in mehreren Gerichtsbezirken ein. 1996 folgte der kanadische Strafvollzug mit der Einführung von restorative justice programs in vielen Gefängnissen. Das Church Council on Justice and Corrections wurde beauftragt, eine Liste von gemeindebasierten Reaktionen auf Kriminalität zu erstellen - und bei vielen davon handelte es sich um Initiativen, die sich den Prinzipien der RJ verschrieben hatten. Sogar die Law Commission of Canada publizierte ein Diskussionspapier darüber.


Qualitätssicherung

John Braithwaite unterscheidet drei Arten von Qualitäts-Standards: begrenzende (die unbedingt einzuhalten sind), maximierende (die bestmöglich entwickelt werden sollten) und emergente oder ermöglichende (die nicht erzwungen werden dürfen, aber überaus hilfreich sein können). Diese drei Standards - limiting, maximizing, emerging/enabling - beruhen zum Teil auf dem Prinzip der Nicht-Beherrschung und zum Teil auf Werten, die sich in internationalen Normen (vor allem UNO-Konventionen und Erklärungen) finden.

Das Prinzip der Nicht-Beherrschung Konfliktlösungsprozesse müssen versuchen, Betroffene weder auszugrenzen noch mundtot zu machen oder sonstwie einzuschüchtern. Wenn Personen mit einem legitimen Interesse an einer Sitzung teilnehmen wollen, sollten sie nicht ausgeschlossen werden. Bei jungen Tätern ist es wichtig, sie nicht in eine Situation zu zwingen, wo sie einem ganzen Raum voller Erwachsener schutzlos ausgeliefert sind. Auf jeden Fall bedarf es starker erwachsener Persönlichkeiten, die sich trauen, als Interessensvertreter der Jugendlichen den Mund aufzumachen. Wo das Risiko eines Machtungleichgewichts zwischen Tätern und Opfern besteht, bedarf es einer Menge Vorbereitungsarbeit, bevor eine Sitzung anberaumt wird. In den Ländern, in denen Polizeibeamte das Recht haben, Jugendliche an Programme wiederherstellender Gerechtigkeit zu überweisen, bedeutet das Prinzip der Nicht-Beherrschung, dass die Jugendlichen auf jeden Fall gleichzeitig die Möglichkeit erhalten, kostenlos einen Rechtsanwalt zu kontaktieren, der sich in der Materie auskennt und sich dem Jugendlichen gegenüber äußern kann, welche Alternativen es zur Teilnahme gibt, welche Risiken und Chancen die Teilnahme bietet, worauf zu achten ist und so weiter. Andererseits sollte die Verfügbarkeit von rechtlicher Beratung nicht dazu führen, dass der Konflikt dem Täter (oder dem Opfer) von Rechtsanwälten aus den Händen genommen und nur noch zwischen den Anwälten ausgetragen wird. Auch das widerspräche dem Prinzip der Nicht-Beherrschung. Geradezu widersinnig wäre es andererseits, wenn die Gruppe, innerhalb derer sich die Konfliktlösung abspielt, das Recht verliehen wäre, in ihren Sanktionen über das für die in Frage stehenden Taten vorgesehene gesetzliche Strafmaximum hinauszugehen. Derartige Exzesse wären zweifellos ebenfalls ein Verstoß gegen dieses Prinzip. Um Stimatisierung zu vermeiden und um einen möglichst herrschaftsfreien Dialog zu ermöglichen, ist es einerseits auch gut, die Öffentlichkeit von den Sitzungen solcher alternativen Verfahren auszuschließen. Um den Verlust an Konrolle zu kompensieren, ist es andererseits unabdingbar, solche Sitzungen für Forscher, Kritiker, Journalisten, Politiker, Richter und KollegInnen von anderen alternativen Konfliktregelungsgremien weit zu öffnen. Am allerwichtigsten ist die Öffnung von solchen Sitzungen für "peer reviewers", d.h. für Gleichgestellte, die Erfahrung mit der alterenativen Konfliktregelung haben und die in der Lage sind, die Einhaltung der Standards zu überprüfen.

Internationale Standards Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert in ihrer Präambel die Werte der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens, hat aber in ihren 30 Artikeln noch mehr zu bieten, nämlich nicht zuletzt das Recht, nicht willkürlich seines Eigentums, seines Lebens, seiner Freiheit oder seiner Sicherheit beraubt zu werden (Artikel 17, 3, 25) - auch gibt es ein Menschenrecht auf Gesundheitsfürsorge (Artikel 25) und demokratische Teilhabe (Artikel 21). Für wiederherstellende Gerechtigkeit ist Artikel 5 von großer Bedeutung: "Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden."

Die beharrliche Arbeit für eine extensive Auslegung der Bestimmung liegt im Interesse derjenigen, die in wiederherstellender Gerechtigkeit eine weniger grausame und erniedrigende Behandlung oder Strafe sehen als in der staatlichen Konfliktregelung, die bekanntlich Boot Camps und einen oftmals erniedrigenden Strafvollzug in Haftanstalten ebenso für "normal" hält wie - in manchen Ländern - tödliche Injektionen (USA), tausendfache Erschießungen (China: vielleicht pro Jahr zehntausend) oder Steinigungen von Ehebrecherinnen (Iran).

Wertvorstellungen, die für die Beurteilung von Restorative Justice weitere Orientierung geben könnten, sind z.B. auch in der UNO-Deklaration von 1985 gegen Machtmissbrauch und im Second Optional Protocol on the Covenant on Civil and Political Rights enthalten.

Braithwaite leitet aus seiner "republikanischen Perspektive" und den aus dem Menschenrechtsinstrumentarium der Vereinten Nationen gewonnenen Wertorientierungen heuristisch folgende vorläufige Standards ab:

Einschränkende Standards

Nicht-Beherrschung Stärkung (Empowerment) Respektierung der gesetzlichen Strafobergrenze Respektvolles Zuhören Gleiche Sorge für alle Betroffenen Verantwortung, Berufungsmöglichkeiten Respekt für die Menschenrechte in ihren Ausprägungen in verschiedenen UNO-Normenwerken

Maximierende Standards, die sich aus den UNO-Normen ebenso ableiten lassen wie aus den empirisch erhobenen Erwartungen der an Restorative Justice Programmen Beteiligten, beziehen sich auf die Vermeidung künftiger Ungerechtigkeiten und auf die bestmögliche Unterstützung aller Beteiligten bei der künftigen Entwicklung ihrer Fähigkeiten sowie auf die bestmögliche Wiederherstellung von menschlicher Würde, Eigentums, körperlicher Integrität, Gesundheit, menschlichen Beziehungen, Gemeinschaften, Umwelt, Freiheit, Mitgefühl und Sorge, Frieden, Verantwortungsgefühl und Gefühlen.


Emergente Standards

Bereuen von Ungegerechtigkeit Bitte um Entschuldigung Negative Bewertung der Handlung Gewährung von Entschuldigung Gnadengewährung

Daraus folgt für Braithwaite, dass es gut wäre, vor der Etablierung künftiger Programme der Restorative Justice folgende Schritte zu unternehmen:

(1) Interessenten (stakeholders) versammeln, um die normativen Ausgangsbedingungen und Prinzipien zu klären, denen man folgen will.

(2) Örtliche Verpflichtung auf die Standards sicherstellen. Sicherstellen, dass die nicht geteilten Werte zumindest weiter Gegenstand der Diskussion sein können.

(3) Versuche, die umstrittenen Standards durch reflexive Praxis einer Klärung zuzuführen - durch eine Praktizierung der wiederherstellenden Gerechtigkeit auf eine Art und Weise, die ihre eigenen Grundlagen reflektiert.

(4) Vermeidung von didaktischen Übungen. Training-Sitzungen sollten besser Teil der örtlichen reflexiven Praxis sein.

(5) Nutzung von peer reviews, um problematische Praktiken, die gegen die Werte verstoßen könnten, zu verhindern, aber auch, um das Verständnis umstrittener Standards durch regulatorische Deliberation zu verbessern.

(6) Örtliche Erfahrungen auf nationaler Ebene sammeln, auswerten und nach Möglichkeit staatliche Unterstützung für konsentierte Praktiken mobilisieren.


Risiken

Nils Christie warnte vor Fehlentwicklungen der Restorative Justice durch deren Erfolg, Expansion und Vereinnahmung. Insbesondere nannte er fünf Risiken der künftigen Entwicklung:

1. Mediations-Imperialismus. Der Versuch einer kompletten Ersetzung des Strafrechts durch Mediationsprozesse würde ins Chaos führen. Mediation kann den Druck aus dem Strafrechtssystem nehmen, es aber nicht abschaffen. Im Gegenteil: "well functioning penal courts are essential to protect some of the basic principles in mediation, particularly its non-compulsive nature. Sometimes it is impossible to get the parties to meet. Some would not dare to meet those they might have harmed. Some harmed people would not accept meeting those who are supposed to have done it. And some might insist in continuing what society in general saw as harmful behaviour. Mediation can not take place in such cases." Hinzu kommt, dass viele Fälle von Jugenddelinquenz, die in einem rechtsstaatlichen System eingestellt worden wären, u.U. durch Mediation erfasst und damit einen klassischen Fall von Net-Widening darstellen könnten.

2. Der heimliche Lehrplan von Mediation könnte in der Bestrafung der Übeltäter bestehen.

3. Die Vereinigung von Mediation und Strafrecht (vgl. Andrew von Hirsch et al. 2003) könnte das Schlechteste von beiden Welten verknüpfen. Anthony Duff z.B. erklärt, dass der Zweck der Mediation durchaus in der Zufügung von Leid bestehe - nur sei das Leid eben ein Spezifisches, das aus der Anerkennung von Schuld folge.

4. Professionalisierung.

One driving force behind the professionalization is the recent explosion in higher education. An increasing part of the population is taking high school or university exams, often of an unspecified type. This means that they are highly educated for tasks not yet specified. Mediation is an obvious possibility for future jobs. It is a territory not yet occupied, except by lawyers. Conflicts are the new land of promise, - entrepreneurs arrive, create training courses, establish firms, – and little by little a new profession comes into being, a profession of mediators. One more speciality. I warned against lawyers here in Sheffield 30 years ago, and called them professional thieves. They still are, but are now followed by a flock of top-educated generalists on the outlook for challenging tasks that may be possible to convert to paid work.

With professionlization of the activity, we experience one more challenge which is removed from civil society. One more of those tasks that folks of all sorts could unite around are taken away. We will hear that professional mediators know best, and we abdicate. Soon there are no tasks left in the neighbourhood, and we can safely retreat to privacy and leave everything else to experts. They certainly know what is best. But mediation is only one example of a general development. With the explosion in higher education, a great number of activities are taken away from ordinary folks.


5. Die Buchhalter und ihre Verwandten With growth come the bookkeepers. We need to know what goes on. And the bookkeepers need concepts for what they are counting. I met this problem in the very first annual reports from our state system for mediation in Norway. I met concepts as “offender” and “victims”, and also reports on cases “solved” or “not solved”. But this terminology goes against the central ideas in mediation. At the core of a mediative process lies the intention to bring variations in meanings up in the open, and thereby also open for changes in the meaning given to the acts by one or both parties.

Bookkeepers have relatives among social scientists. Discussing mediation, one is nearly always met with the questions on efficiency. But this is a narrowly conceived efficiency. How many conflicts are solved? Or, if cases are taken over from police or prosecutors, as it to some extent is possible to do in Norway, questions are raised about recidivism rates. What happens later in these cases? How many are registered anew with the police, how many end up in prison?


5. International Penal Courts – a setback for peace making

But my time is soon out. So also is the whole conference. I will therefore limit myself to an authoritarian provocation, claiming that the International Penal Courts represent a setback for the basic ideas of peace making and ideals of restorative justice. From the Nuremberg courts after World War II and up to the present UN penal courts for Yugoslavia and Rwanda, these courts have strengthened the idea that punishment is the only natural answer to atrocities, that impunity is unacceptable, and that some selected persons ought to receive a maximum of intended pain to make things right. International penal courts prevent us from seeing the conflicts in a broader and politically relevant perspective. They also prolong ongoing conflicts, as exemplified in Uganda just these days where “Britain has been accused of hindering attempts to end the 20 years civil war in northern Uganda by insisting that leading rebels be arrested and tried for war crimes”. Similar problems appeared in conflicts inside the old Yugoslavia. International penal courts are also in danger of blocking the way for establishing commissions for peace and reconciliation. In the fight for human rights and decency, it is as if Amnesty International and other pressure groups willingly accept – and thereby give increased credibility to – those tools for pain-delivery they usually detest. Their flat acceptance of International penal courts is a setback for attempts to move conflicts from institutions for pain-delivery over to institutions for mediation.



Literatur

  • Braithwaite, John (2002) Setting Standards for Restorative Justice. British Journal of Criminology 42: 563-577.
  • v. Hirsch, Andrew, Julian Roberts, Anthony E. Bottoms, Kent Roach und Maria Schiff (2003) Restorative Justice and Criminal Justice - Competing or Reconcilable Paradigms?” Hart.
  • Zehr, Howard (1990) Changing Lenses: A New Focus for Crime and Justice. Waterloo, ONTARIO: Herald Press.


Links