Punitivität: Unterschied zwischen den Versionen

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== Deutungsansätze für Punitivität ==
== Deutungsansätze für Punitivität ==


Im internationalen und zeitlichen Vergleich (etwa Kesteren et&nbsp;al. 2000, Besserer 2002, Roberts et&nbsp;al. 2002, Kommerer 2004) wird deutlich, daß das Verhältnis von Verhalten und gesellschaftlicher Reaktion, von [[Verbrechen]] und [[Strafe]] kein naturgegebenes und zwangsläufiges ist, sondern durchaus variieren kann.<br>
Im internationalen und zeitlichen Vergleich (etwa Kesteren et&nbsp;al. 2000, Besserer 2002, Roberts et&nbsp;al. 2002, Kommerer 2004) wird deutlich, daß das Verhältnis von Verhalten und gesellschaftlicher Reaktion, von [[Verbrechen]] und [[Strafe]] kein naturgegebenes und zwangsläufiges ist, sondern durchaus variieren kann. In der kriminologischen Diskussion finden sich verschiedene Ansätze, wie die Punitivität zu deuten ist, das heißt, woher die vielerorts konstatierte Zunahme kommt und wie man mit ihr umgehen kann.<br>


In der Kriminologie finden sich – abgesehen von den unterschiedlichen Befunden bezüglich einer Zunahme der Punitivität – auch verschiedene Ansätze, wie die Punitivität zu deuten ist, das heißt, woher die Zunahme kommt und wie man mit ihr umgehen kann.<br>
Die Ursache einer punitiveren [[Kriminalpolitik]] wird häufig als Strategie von Politikern im Sinne eines <i>Top-down</i>-Prozesses gesehen: Punitive soziale Kontrolle wurde und wird von populistischen Politikern auf die Agenda gesetzt, da diese als Erfolgsgarant im Kampf um Wählerstimmen gilt (Becker und Reddig 2004; Beckett und Sasson 2004). Der Staat ist in der Spätmoderne durch das weit verbreitete Mißtrauen gegenüber Regierungen und ihren Experten und seinem Rückzug aus seinen vormaligen Haupttätigkeitsbereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik in eine Legitimationskrise geraten. Die von Kriminalität hervorgerufene Angst und Empörung und die damit einhergehenden Rufe nach staatlichen Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung helfen dem Staat wieder auf (Sack 2004), und zwar aus seiner Legitimationskrise. Kriminalität wird zur Regierungsstrategie, was Simon (1997) als <i>Governing through crime</i> bezeichnete.<br>
 
Die Ursache einer punitiveren [[Kriminalpolitik]] wird häufig als Strategie von Politikern gesehen: Punitive soziale Kontrolle wurde und wird von populistischen Politikern auf die Agenda gesetzt, da diese als Erfolgsgarant im Kampf um Wählerstimmen gilt (Becker und Reddig 2004; Beckett und Sasson 2004). Der Staat ist in der Spätmoderne durch das weit verbreitete Mißtrauen gegenüber Regierungen und ihren Experten und seinem Rückzug aus seinen vormaligen Haupttätigkeitsbereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik in eine Legitimationskrise geraten. Die von Kriminalität hervorgerufene Angst und Empörung und die damit einhergehenden Rufe nach staatlichen Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung helfen dem Staat wieder auf (Sack 2004), und zwar aus seiner Legitimationskrise. Kriminalität wird zur Regierungsstrategie, was Simon (1997) als <i>Governing through crime</i> bezeichnete.<br>


Eine andere Erklärung ist eher ein <i>Bottom-up-</i>Ansatz: In der Tradition der Autoritarismusforschung, wie sie etwa von Adorno et&nbsp;al. (1950) begründet wurde, deutet man Punitivität als autoritäre Aggression oder als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, hinter der man Sozialisationserfahrungen oder (wie Mansel 2004) gesellschaftliche Desintegrationsprozesse ausmachen kann. Maruna et&nbsp;al. (2004) greifen auf die Psychoanalyse zurück, um zu dem Schluß zu kommen, daß das Strafbedürfnis in der Triebstruktur des Menschen verwurzelt ist. Eine repressivere Kriminalpolitik ist hier die Folge einer gestiegenen Repressionsneigung der Bevölkerung und somit eines punitiveren gesellschaftlichen Klimas.<br>  
Eine andere Erklärung ist eher ein <i>Bottom-up-</i>Ansatz: In der Tradition der Autoritarismusforschung, wie sie etwa von Adorno et&nbsp;al. (1950) begründet wurde, deutet man Punitivität als autoritäre Aggression oder als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, hinter der man Sozialisationserfahrungen oder (wie Mansel 2004) gesellschaftliche Desintegrationsprozesse ausmachen kann. Maruna et&nbsp;al. (2004) greifen auf die Psychoanalyse zurück, um zu dem Schluß zu kommen, daß das Strafbedürfnis in der Triebstruktur des Menschen verwurzelt ist. Eine repressivere Kriminalpolitik ist hier die Folge einer gestiegenen Repressionsneigung der Bevölkerung und somit eines punitiveren gesellschaftlichen Klimas.<br>  


In vielen Erklärungen von Punitivität wird dem Einfluß der Medien eine große Rolle zugesprochen. So kommen etwa Pfeiffer et&nbsp;al. (2004) zu dem Ergebnis, daß der verstärkte Konsum von Fernsehsendungen, die Kriminalität und Strafverfolgung nichtfiktional oder auch fiktional zum Gegenstand haben, zu einer Überschätzung des Auftretens der Kriminalität führt und zu einem höheren Strafbedürfnis. Reuband (2004) kann in einer Fallstudie für die Stadt Dresden einen Zusammenhang zwischen Tageszeitungslektüre und Punitivität belegen: Leser von Boulevardblättern sind punitiver als Leser anderer Tageszeitungen.<br>
In vielen Erklärungen von Punitivität wird dem Einfluß der Medien eine große Rolle zugesprochen. So kommen etwa Pfeiffer et&nbsp;al. (2004) zu dem Ergebnis, daß der verstärkte Konsum von Fernsehsendungen, die Kriminalität und Strafverfolgung nichtfiktional oder auch fiktional zum Gegenstand haben, zu einer Überschätzung des Auftretens der Kriminalität führt und zu einem höheren Strafbedürfnis. Reuband (2004) kann in einer Fallstudie für die Stadt Dresden einen Zusammenhang zwischen Tageszeitungslektüre und Punitivität belegen: Leser von Boulevardblättern äußern sich  punitiver als Leser anderer Tageszeitungen.<br>


Eine ältere These, die auch zur Erklärung von Punitivität taugen kann, wird in der gegenwärtigen Diskussion kaum gewürdigt. Rusche und Kirchheimer (1939) haben in ihrer Untersuchung zu Strafvollzug und Arbeitsmarkt den Zusammenhang von Strafform und Produktionsverhältnissen betont. Der Wert eines Menschen hänge von den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ab: Mit Industrialisierung einhergehend löste die Einsperrung die Körperstrafe als dominierende Strafform im Strafvollzug ab. Arbeitskräftemangel nach dem Zweiten Weltkrieg ließ die [[Resozialisierung]] zum dominierenden Strafziel werden, das Gefängnis trat wieder in den Hintergrund, Geldstrafen und [[Diversion]] wurden populärer. Durch den Fortschritt der Produktivkräfte ist der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft aber gesunken, folglich wird wieder härter gestraft, d&nbsp;h. länger eingesperrt. Western und Beckett (1999) etwa behandeln die steigenden Gefangenenraten in den USA folglich auch als staatliche Intervention in den Arbeitsmarkt.
Eine ältere These, die auch zur Erklärung von Punitivität taugen kann, wird in der gegenwärtigen Diskussion kaum gewürdigt. Rusche und Kirchheimer (1939) haben in ihrer Untersuchung zu Strafvollzug und Arbeitsmarkt den Zusammenhang von Strafform und Produktionsverhältnissen betont. Der Wert eines Menschen hänge von den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ab: Mit Industrialisierung einhergehend löste die Einsperrung die Körperstrafe als dominierende Strafform im Strafvollzug ab. Arbeitskräftemangel nach dem Zweiten Weltkrieg ließ die [[Resozialisierung]] zum dominierenden Strafziel werden, das Gefängnis trat wieder in den Hintergrund, Geldstrafen und [[Diversion]] wurden populärer. Durch den Fortschritt der Produktivkräfte ist der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft aber gesunken, folglich wird wieder härter gestraft, d&nbsp;h. länger eingesperrt. Western und Beckett (1999) etwa behandeln die steigenden Gefangenenraten in den USA folglich auch als staatliche Intervention in den Arbeitsmarkt.
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