Punitivität: Unterschied zwischen den Versionen

680 Bytes entfernt ,  10:28, 2. Apr. 2006
keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 13: Zeile 13:


Der Begriff Punitivität stammt vom lateinischen Begriff <i>poena</i> ab, welcher ursprünglich das Wergeld bezeichnete, eine Zahlung, mit der eine Blutschuld gesühnt wurde. <i>Poena</i> nahm später auch die Bedeutungen Strafe, Rache und Buße an und wandelte sich zu <i>punire</i> (bestrafen, rächen, Rache nehmen). <i>Punitum</i> ist das Partizip Perfekt Passiv von <i>punire</i>, aus dem sich dann die heute bekannten Begriffe entwickelten.<br>
Der Begriff Punitivität stammt vom lateinischen Begriff <i>poena</i> ab, welcher ursprünglich das Wergeld bezeichnete, eine Zahlung, mit der eine Blutschuld gesühnt wurde. <i>Poena</i> nahm später auch die Bedeutungen Strafe, Rache und Buße an und wandelte sich zu <i>punire</i> (bestrafen, rächen, Rache nehmen). <i>Punitum</i> ist das Partizip Perfekt Passiv von <i>punire</i>, aus dem sich dann die heute bekannten Begriffe entwickelten.<br>
Punitivität ist ein aktueller Begriff, der in den letzten Jahren häufig diskutiert worden ist. Eine [[Punitivität I|häufig geäußerte Ansicht]] zum Thema Punitivität ist, daß die Zeit des liberalen Sanktionsklimas vorbei sei und anstelle von Hilfe und [[Resozialisierung]] als Paradigmen der sozialen Kontrolle nun die punitiven Aspekte sozialer Kontrolle vorherrschen würden. Bürger, Politiker, Richter etc. würden immer punitiver – vor allem und zuerst in den USA und in Großbritannien, wobei die anderen westlichen Länder diesen Wandel nachvollzögen oder dies schon tun würden: In der Bundesrepublik gilt zum Beispiel der überraschende Wahlerfolg der Schillpartei bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg im Jahr 2001 als ein Anzeichen.<br>


Der Begriff Punitivität wird häufig synonym mit Begriffen wie Sanktionsmentalität, Strafeinstellungen, Strafbedürfnis, Repressionsneigung, Strafdrang oder Straflust verwendet; oft ohne daß ein klares Bild über die Bedeutung des Begriffes vorliegt.  
Der Begriff Punitivität wird häufig synonym mit Begriffen wie Sanktionsmentalität, Strafeinstellungen, Strafbedürfnis, Repressionsneigung, Strafdrang oder Straflust verwendet; oft ohne daß ein klares Bild über die Bedeutung des Begriffes vorliegt.  
Zeile 23: Zeile 21:
Zweifellos sind auch noch weitere Dimensionen des Konzeptes denkbar, zum Beispiel eine legislative oder exekutive Form der Punitivität.<br>
Zweifellos sind auch noch weitere Dimensionen des Konzeptes denkbar, zum Beispiel eine legislative oder exekutive Form der Punitivität.<br>


Bei einer Untersuchung, die Punitivität zu Gegenstand hat, kann es nicht genügen, sich auf lediglich eine der genannten Dimensionen zu konzentrieren. Die verschiedenen Dimensionen sind wechselseitig miteinander verbunden und eine Veränderung auf der einen Ebene kann, muß aber nicht zwingend mit einer Veränderung auf der anderen Ebene einhergehen. So kann eine Veränderung auf legislativer Ebene (Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg) eine Veränderung auf gesellschaftlicher Ebene bewirken (beständiges Sinken der Zustimmung zur Todesstrafe in wiederholten Querschnittsuntersuchungen). Andererseits ist ein Ansteigen der Zahl der mit der Todesstrafe bewehrten Delikte (Anstieg auf der legislativen Ebene) im Großbritannien des 18.&nbsp;Jahrhunderts mit einem Sinken der Zahl der Verurteilungen zum Tode (kein Anstieg auf der justiziellen Ebene) einhergegangen.
Die verschiedenen Dimensionen von Punitivität sind wechselseitig miteinander verbunden und eine Veränderung auf der einen Ebene kann, muß aber nicht zwingend mit einer Veränderung auf der anderen Ebene einhergehen. So kann eine Veränderung auf legislativer Ebene (Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg) eine Veränderung auf gesellschaftlicher Ebene bewirken (beständiges Sinken der Zustimmung zur Todesstrafe). Andererseits ist ein Ansteigen der Zahl der mit der Todesstrafe bewehrten Delikte (Anstieg auf der legislativen Ebene) im Großbritannien des 18.&nbsp;Jahrhunderts mit einem Sinken der Zahl der Verurteilungen zum Tode (kein Anstieg auf der justiziellen Ebene) einhergegangen.
 
Punitivität ist ein aktueller Begriff, der in den letzten Jahren häufig diskutiert worden ist. Eine [[Punitivität I|häufig geäußerte Ansicht]] zum Thema Punitivität ist, daß die Zeit des liberalen Sanktionsklimas vorbei sei und anstelle von Hilfe und [[Resozialisierung]] als Paradigmen der sozialen Kontrolle nun die punitiven Aspekte sozialer Kontrolle vorherrschen würden. Bürger, Politiker, Richter etc. würden immer punitiver – vor allem und zuerst in den USA und in Großbritannien, wobei die anderen westlichen Länder diesen Wandel nachvollzögen oder dies schon tun würden: In der Bundesrepublik gilt zum Beispiel der überraschende Wahlerfolg der Schillpartei bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg im Jahr 2001 als ein Anzeichen.<br>


== Empirische Indikatoren von Punitivität ==
== Empirische Indikatoren von Punitivität ==
Zeile 54: Zeile 54:
Im internationalen und zeitlichen Vergleich wird deutlich, daß das Verhältnis von Verhalten und gesellschaftlicher Reaktion, von [[Verbrechen]] und [[Strafe]] kein naturgegebenes und zwangsläufiges ist. In der kriminologischen Diskussion finden sich verschiedene Ansätze, wie die Punitivität zu deuten ist, das heißt, woher die vielerorts konstatierte Zunahme kommt und wie man mit ihr umgehen kann.<br>
Im internationalen und zeitlichen Vergleich wird deutlich, daß das Verhältnis von Verhalten und gesellschaftlicher Reaktion, von [[Verbrechen]] und [[Strafe]] kein naturgegebenes und zwangsläufiges ist. In der kriminologischen Diskussion finden sich verschiedene Ansätze, wie die Punitivität zu deuten ist, das heißt, woher die vielerorts konstatierte Zunahme kommt und wie man mit ihr umgehen kann.<br>


Die Ursache einer punitiveren [[Kriminalpolitik]] wird häufig als Strategie von Politikern im Sinne eines <i>Top-down</i>-Prozesses gesehen: Punitive soziale Kontrolle wurde und wird von populistischen Politikern auf die Agenda gesetzt, da diese als Erfolgsgarant im Kampf um Wählerstimmen gilt. Der Staat ist in der Spätmoderne durch das weit verbreitete Mißtrauen gegenüber Regierungen und ihren Experten und seinem Rückzug aus seinen vormaligen Haupttätigkeitsbereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik in eine Legitimationskrise geraten. Die von Kriminalität hervorgerufene Angst und Empörung und die damit einhergehenden Rufe nach staatlichen Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung helfen dem Staat wieder auf (Sack 2004), und zwar aus seiner Legitimationskrise. Kriminalität wird zur Regierungsstrategie, was Simon (1997) als <i>Governing through crime</i> bezeichnete.<br>
Die Ursache einer punitiveren [[Kriminalpolitik]] wird häufig als Strategie von Politikern im Sinne eines <i>Top-down</i>-Prozesses gesehen: Punitive soziale Kontrolle wurde und wird von populistischen Politikern auf die Agenda gesetzt, da diese als Erfolgsgarant im Kampf um Wählerstimmen gilt. Der Staat ist in der Spätmoderne durch das weit verbreitete Mißtrauen gegenüber Regierungen und ihren Experten und seinem Rückzug aus seinen vormaligen Haupttätigkeitsbereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik in eine Legitimationskrise geraten. Die von Kriminalität hervorgerufene Angst und Empörung und die damit einhergehenden Rufe nach staatlichen Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung helfen dem Staat aus seiner Legitimationskrise. Kriminalität wird zur Regierungsstrategie, was Simon (1997) als <i>Governing through crime</i> bezeichnete.<br>


Eine andere Erklärung ist eher ein <i>Bottom-up-</i>Ansatz: In der Tradition der Autoritarismusforschung, wie sie etwa von Adorno et&nbsp;al. (1950) begründet wurde, deutet man Punitivität als autoritäre Aggression oder als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, hinter der man Sozialisationserfahrungen oder gesellschaftliche Desintegrationsprozesse ausmachen kann. Maruna et&nbsp;al. (2004) greifen auf die Psychoanalyse zurück, um zu dem Schluß zu kommen, daß das Strafbedürfnis in der Triebstruktur des Menschen verwurzelt ist. Eine repressivere Kriminalpolitik ist hier die Folge einer gestiegenen Repressionsneigung der Bevölkerung und somit eines punitiveren gesellschaftlichen Klimas.<br>  
Eine andere Erklärung ist eher ein <i>Bottom-up-</i>Ansatz: In der Tradition der Autoritarismusforschung deutet man Punitivität als autoritäre Aggression oder als gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, hinter der man Sozialisationserfahrungen oder gesellschaftliche Desintegrationsprozesse ausmachen kann. Zum Teil greift man auf die Psychoanalyse zurück, um zu dem Schluß zu kommen, daß das Strafbedürfnis in der Triebstruktur des Menschen verwurzelt ist. Oder man untersucht einen möglichen Zusammenhang von Punitivität mit [[Kriminalitätsfurcht]] oder der Wichtigkeit, die Befragte dem Thema Kriminalität zumessen. Eine repressivere Kriminalpolitik ist hier die Folge einer gestiegenen Repressionsneigung der Bevölkerung und somit eines punitiveren gesellschaftlichen Klimas.<br>  


In vielen Erklärungen von Punitivität wird dem Einfluß der Medien eine große Rolle zugesprochen. So kommen etwa Pfeiffer et&nbsp;al. (2004) zu dem Ergebnis, daß der verstärkte Konsum von Fernsehsendungen, die Kriminalität und Strafverfolgung nichtfiktional oder auch fiktional zum Gegenstand haben, zu einer Überschätzung des Auftretens der Kriminalität führt und zu einem höheren Strafbedürfnis. Reuband (2004) kann in einer Fallstudie für die Stadt Dresden einen Zusammenhang zwischen Tageszeitungslektüre und Punitivität belegen: Leser von Boulevardblättern äußern sich  punitiver als Leser anderer Tageszeitungen.<br>
In vielen Erklärungen von Punitivität wird dem Einfluß der Medien eine große Rolle zugesprochen. Besonders den Boulevardmedien wird unterstellt, daß sie Bedrohungsszenarien schaffen, die dann die Punitivität befördern.<br>


Eine ältere These, die auch zur Erklärung von Punitivität taugen kann, wird in der gegenwärtigen Diskussion kaum gewürdigt. Rusche und Kirchheimer (1939) haben in ihrer Untersuchung zu Strafvollzug und Arbeitsmarkt den Zusammenhang von Strafform und Produktionsverhältnissen betont. Der Wert eines Menschen hänge von den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ab: Mit Industrialisierung einhergehend löste die Einsperrung die Körperstrafe als dominierende Strafform im Strafvollzug ab. Arbeitskräftemangel nach dem Zweiten Weltkrieg ließ die [[Resozialisierung]] zum dominierenden Strafziel werden, das Gefängnis trat wieder in den Hintergrund, Geldstrafen und [[Diversion]] wurden populärer. Durch den Fortschritt der Produktivkräfte ist der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft aber gesunken, folglich wird wieder härter gestraft, d&nbsp;h. länger eingesperrt. Western und Beckett (1999) etwa behandeln die steigenden Gefangenenraten in den USA folglich auch als staatliche Intervention in den Arbeitsmarkt.
Eine ältere These, die auch zur Erklärung von Punitivität taugen kann, wird in der gegenwärtigen Diskussion kaum gewürdigt. Rusche und Kirchheimer (1939) haben in ihrer Untersuchung zu Strafvollzug und Arbeitsmarkt den Zusammenhang von Strafform und Produktionsverhältnissen betont. Der Wert eines Menschen hänge von den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ab: Mit Industrialisierung einhergehend löste die Einsperrung die Körperstrafe als dominierende Strafform im Strafvollzug ab. Arbeitskräftemangel nach dem Zweiten Weltkrieg ließ die [[Resozialisierung]] zum dominierenden Strafziel werden, das Gefängnis trat wieder in den Hintergrund, Geldstrafen und [[Diversion]] wurden populärer. Durch den Fortschritt der Produktivkräfte ist der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft aber gesunken, folglich wird wieder härter gestraft, d&nbsp;h. länger eingesperrt.


In der einflußreichen und breit angelegten Studie von Garland (2001) wird ein verschärftes Sanktionsklima als Reaktion auf einen in den letzten Jahrzehnten augenscheinlich gewordenen Kriminalitätsanstieg gedeutet. Im harten und expressiven Strafen zeige sich der Versuch des Staates, seine traditionelle, aber mittlerweile illusorisch gewordene Rolle als Beschützer seiner Bürger vor Feinden nicht nur von außen, sondern auch von innen symbolisch zu bekräftigen und seine Macht gegenüber den Feinden von innen zu demonstrieren.
In der einflußreichen und breit angelegten Studie von Garland (2001) wird ein verschärftes Sanktionsklima als Reaktion auf einen in den letzten Jahrzehnten augenscheinlich gewordenen Kriminalitätsanstieg gedeutet. Im harten und expressiven Strafen zeige sich der Versuch des Staates, seine traditionelle, aber mittlerweile illusorisch gewordene Rolle als Beschützer seiner Bürger vor Feinden nicht nur von außen, sondern auch von innen symbolisch zu bekräftigen und seine Macht gegenüber den Feinden von innen zu demonstrieren.
25

Bearbeitungen