Punitivität: Unterschied zwischen den Versionen

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Punitivität ist ein aktueller Begriff, der in den letzten Jahren häufig diskutiert worden ist. Eine [[Punitivität I|häufig geäußerte Ansicht]] zum Thema Punitivität ist, daß die Zeit des liberalen Sanktionsklimas vorbei sei und anstelle von Hilfe und [[Resozialisierung]] als Paradigmen der sozialen Kontrolle nun die punitiven Aspekte sozialer Kontrolle vorherrschen würden. Bürger, Politiker, Richter etc. würden immer punitiver – vor allem und zuerst in den USA und in Großbritannien, wobei die anderen westlichen Länder diesen Wandel nachvollzögen oder dies schon tun würden: In der Bundesrepublik gilt zum Beispiel der überraschende Wahlerfolg der Schillpartei bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg im Jahr 2001 als ein Anzeichen.<br>
Punitivität ist ein aktueller Begriff, der in den letzten Jahren häufig diskutiert worden ist. Eine [[Punitivität I|häufig geäußerte Ansicht]] zum Thema Punitivität ist, daß die Zeit des liberalen Sanktionsklimas vorbei sei und anstelle von Hilfe und [[Resozialisierung]] als Paradigmen der sozialen Kontrolle nun die punitiven Aspekte sozialer Kontrolle vorherrschen würden. Bürger, Politiker, Richter etc. würden immer punitiver – vor allem und zuerst in den USA und in Großbritannien, wobei die anderen westlichen Länder diesen Wandel nachvollzögen oder dies schon tun würden: In der Bundesrepublik gilt zum Beispiel der überraschende Wahlerfolg der Schillpartei bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg im Jahr 2001 als ein Anzeichen.<br>


== Empirische Indikatoren von Punitivität ==
== Empirische Indikatoren==


Empirische Indikatoren, die eine Messung von Punitivität möglich machen (nach Lautmann und Klimke 2004), finden sich auf allen konzeptuellen Ebenen (wobei die Einordnung in dieser Form nicht in jedem Fall zwingend ist):
Empirische Indikatoren, die eine Messung von Punitivität möglich machen (nach Lautmann und Klimke 2004), finden sich auf allen konzeptuellen Ebenen (wobei die Einordnung in dieser Form nicht in jedem Fall zwingend ist):
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Ein häufig verwendeter empirischer Indikator für Punitivität ist die Messung der Strafeinstellungen von Befragten. Hierzu werden vielfach Standardfragen verwendet, deren Validität angezweifelt werden kann. Hutton (2005) vergleicht in einer schottischen Untersuchung, die sowohl eine [[Quantitative Methoden|Face-to-Face-Befragung]], [[Qualitative Methoden|Fokusgruppen]] als auch eine Art [[Qualitative Methoden|<i>Deliberative poll</i>]] umfaßte, neben den Ergebnissen der unterschiedlichen Erhebungsmethoden und den Auswirkungen von Zusatzinformationen zum Entstehung und Tathergang eines Verbrechens auch »individualist« und »structuralist accounts« von Verbrechen. Während die individualistischen Darstellungen eine Moralgeschichte erzählen und eine einzelne Sanktion notwendig machen (der Befragte bekommt eine Rolle als Richter zugewiesen), beleuchten die strukturellen Darstellungen eher die Umstände von Kriminalität, wobei dann Themen wie gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Bildung etc. bedeutsam werden (der Befragte bekommt hier die Rolle eines Sozialreformers oder Politikers). Beide Arten der Darstellung folgen vollkommen unterschiedlichen Logiken und sind miteinander inkompatibel, was die sich stark unterscheidenden Ergebnisse von Umfragen zu Strafeinstellungen erklären kann: Während Umfragen, bei denen Kriminalität ohne Zusatzinformationen auf einer strukturellen Ebene abgefragt werden, eher eine punitive öffentliche Meinung erzeugen, resultieren Methoden, die den Befragten die Möglichkeit zu Dialog geben, Zusatzinformationen geben und die Darstellung der Kriminalität individuell einfassen, eher in liberalen Einstellungen.<br>
Ein häufig verwendeter empirischer Indikator für Punitivität ist die Messung der Strafeinstellungen von Befragten. Hierzu werden vielfach Standardfragen verwendet, deren Validität angezweifelt werden kann. Hutton (2005) vergleicht in einer schottischen Untersuchung, die sowohl eine [[Quantitative Methoden|Face-to-Face-Befragung]], [[Qualitative Methoden|Fokusgruppen]] als auch eine Art [[Qualitative Methoden|<i>Deliberative poll</i>]] umfaßte, neben den Ergebnissen der unterschiedlichen Erhebungsmethoden und den Auswirkungen von Zusatzinformationen zum Entstehung und Tathergang eines Verbrechens auch »individualist« und »structuralist accounts« von Verbrechen. Während die individualistischen Darstellungen eine Moralgeschichte erzählen und eine einzelne Sanktion notwendig machen (der Befragte bekommt eine Rolle als Richter zugewiesen), beleuchten die strukturellen Darstellungen eher die Umstände von Kriminalität, wobei dann Themen wie gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Bildung etc. bedeutsam werden (der Befragte bekommt hier die Rolle eines Sozialreformers oder Politikers). Beide Arten der Darstellung folgen vollkommen unterschiedlichen Logiken und sind miteinander inkompatibel, was die sich stark unterscheidenden Ergebnisse von Umfragen zu Strafeinstellungen erklären kann: Während Umfragen, bei denen Kriminalität ohne Zusatzinformationen auf einer strukturellen Ebene abgefragt werden, eher eine punitive öffentliche Meinung erzeugen, resultieren Methoden, die den Befragten die Möglichkeit zu Dialog geben, Zusatzinformationen geben und die Darstellung der Kriminalität individuell einfassen, eher in liberalen Einstellungen.<br>


== Deutungsansätze für Punitivität ==
== Deutungsansätze==


Im internationalen und zeitlichen Vergleich wird deutlich, daß das Verhältnis von Verhalten und gesellschaftlicher Reaktion, von [[Verbrechen]] und [[Strafe]] kein naturgegebenes und zwangsläufiges ist. In der kriminologischen Diskussion finden sich verschiedene Ansätze, wie die Punitivität zu deuten ist, das heißt, woher die vielerorts konstatierte Zunahme kommt und wie man mit ihr umgehen kann.<br>
Im internationalen und zeitlichen Vergleich wird deutlich, daß das Verhältnis von Verhalten und gesellschaftlicher Reaktion, von [[Verbrechen]] und [[Strafe]] kein naturgegebenes und zwangsläufiges ist. In der kriminologischen Diskussion finden sich verschiedene Ansätze, wie die Punitivität zu deuten ist, das heißt, woher die vielerorts konstatierte Zunahme kommt und wie man mit ihr umgehen kann.<br>
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#Strafrecht als symbolisches Mittel der Politik.<br> Susanne <u>Krasmann</u> ''„Gouvernementalité“'' (2003)
#Strafrecht als symbolisches Mittel der Politik.<br> Susanne <u>Krasmann</u> ''„Gouvernementalité“'' (2003)


'''Savelsberg, Joachim J'''.: ''Knowledge, Domination and Criminal Punishment Revisited''. In: Punishment & Society 1/1; S. 45-70.(1999).<br>
'''Simon, Jonathan''': ''Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat''. S. 279-301 in: Trotha, T. von (Hg.): Soziologie der Gewalt. (Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift f. Soziologie u. Sozialpsychologie). (Opladen, 1997). <br>
'''Stehr, Johannes''': ''Welche Funktionen haben staatliche Strafen und der Ruf nach Bestrafung der Jugend?'' In: Bettinger [u.a.]: Gefährdete Jugend? Jugend, Kriminalität und der Ruf nach Strafe. Opladen 2002, S. 103-116.<br>
'''Taylor, Ian''': ''Crime in Context: A Critical Criminology of Market Societies''. Cambridge 1999.<br>
'''Wacquant, Loic''': ''Elend hinter Gittern''.(2000).<br>
'''Weber, Hartmut-Michael''': ''Lebenslange Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik: Abschaffungsperspektiven gegenüber positiver Reform''. In: Knut Papendorf [u.a.] (Hrsg.):’Kein schärfer Schwert, denn das für Freiheit streitet!’ Eine Festschrift für Thomas Mathiessen. Bielefeld: 1993.<br>
'''Young, Jock''': ''Zur Soziologie der Rachsucht (vindictiveness) im Rahmen einer kulturellen Kriminologie''. (2003).
Vgl.: [[Globalisierung]], [[Gouvernementalité]], [[Neolibralismus]],  [[Vindictiveness]]
'''Achtung''':
Einen wesentlich ausführlicheren Beitrag zur „Punitivität“ findet sich in einer Abhandlung ([http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/IKS/KrimInstituteVereinigungenZs/FritzSack_Kriminalpolitik.html Abstract]) von '''Prof. Dr. Fritz Sack'''.<br>
[http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/publish/IKS/KrimInstituteVereinigungenZs/beiheft.html KrimJ; 36 Jhg. 2004; (8. Beiheft)]<br>
'''''Fritz Sack''''' brachte das Konzept und die Diskussion der „Punitivität“ aus dem Angelsächsischen mit, um es auch für die deutsche Diskussion verfügbar zu machen


== Verwandte Konzepte und Begriffe ==
== Verwandte Konzepte und Begriffe ==
*Punitiveness, Vindictiveness


[[Kriminalitätseinstellungen]], [[Kriminalpolitik]], <i>[[Law and order]]</i>, <i>[[Penal populism]]</i>, [[Sicherungsverwahrung]], [[Soziale Kontrolle]], [[Strafe]], [[Todesstrafe]], <i>[[Zero Tolerance | Zero tolerance]]</i>.
[[Kriminalitätseinstellungen]], [[Kriminalpolitik]], <i>[[Law and order]]</i>, <i>[[Penal populism]]</i>, [[Sicherungsverwahrung]], [[Soziale Kontrolle]], [[Strafe]], [[Todesstrafe]], <i>[[Zero Tolerance | Zero tolerance]]</i>.
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*Roberts, Julian V., Loretta J. Stalans, David Indermaur und Mike Hough (Hrsg.) 2002: <i>Penal Populism and Public Opinion. Lessons from five countries</i>, Oxford.-->
*Roberts, Julian V., Loretta J. Stalans, David Indermaur und Mike Hough (Hrsg.) 2002: <i>Penal Populism and Public Opinion. Lessons from five countries</i>, Oxford.-->
*Rusche, Georg und Otto Kirchheimer 1939: <i>Sozialstruktur und Strafvollzug</i>, übersetzt von Helmut und Susan Kapczynski, Frankfurt am Main 1974.
*Rusche, Georg und Otto Kirchheimer 1939: <i>Sozialstruktur und Strafvollzug</i>, übersetzt von Helmut und Susan Kapczynski, Frankfurt am Main 1974.
<!--*Sack, Fritz 2004: »Wie die Kriminalpolitik dem Staat aufhilft. <i>Governing through Crime</i> als neue politische Strategie«, in: Lautmann, Rüdiger, Daniela Klimke und Fritz Sack (Hrsg.): <i>Punitivität</i>. Achtes Beiheft zum <i>Kriminologischen Journal</i>, Weinheim, Seite 30 bis 50.
<!--*Sack, Fritz 2004: »Wie die Kriminalpolitik dem Staat aufhilft. <i>Governing through Crime</i> als neue politische Strategie«, in: Lautmann, Rüdiger, Daniela Klimke und Fritz Sack (Hrsg.): <i>Punitivität</i>. Achtes Beiheft zum <i>Kriminologischen Journal</i>, Weinheim, S. 30-50.
*Sessar, Klaus 2001: »Soziale Konstruktion und Bedeutung von Strafeinstellungen«, in: <i>Kriminologisches Bulletin</i>&nbsp;27, Heft&nbsp;1, Seite 7 bis 24.-->
*Sessar, Klaus 2001: »Soziale Konstruktion und Bedeutung von Strafeinstellungen«, in: <i>Kriminologisches Bulletin</i>&nbsp;27, Heft&nbsp;1, Seite 7 bis 24.-->
*Simon, Jonathan 1997: »Governing through Crime«, in: Friedman, Lawrence M. und George Fisher (Hrsg.): <i>The Crime Conundrum. Essays on Criminal Justice</i>, Boulder, CO, Seite 171 bis 189.
*Simon, Jonathan 1997: »Governing through Crime«, in: Friedman, Lawrence M. und George Fisher (Hrsg.): <i>The Crime Conundrum. Essays on Criminal Justice</i>, Boulder, CO, Seite 171 bis 189.
<!--*Simon, Jonathan 1997: »Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat«, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): <i>Soziologie der Gewalt</i>. Sonderheft&nbsp;37 der <i>Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie</i>, Opladen, Seite 277 bis 301.-->
<!--*Simon, Jonathan 1997: »Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat«, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): <i>Soziologie der Gewalt</i>. Sonderheft&nbsp;37 der <i>Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie</i>, Opladen, Seite 277 bis 301.-->
<!--*Stalans, Loretta J. 2002: »Measuring Attitudes to Sentencing«, in: Roberts, Julian V. und Mike Hough (Hrsg.): <i>Changing Attitudes to Punishment. Public Opinion, Crime and Justice</i>, Devon, Seite 15 bis 32.
<!--*Stalans, Loretta J. 2002: »Measuring Attitudes to Sentencing«, in: Roberts, Julian V. und Mike Hough (Hrsg.): <i>Changing Attitudes to Punishment. Public Opinion, Crime and Justice</i>, Devon, Seite 15 bis 32.
*Savelsberg, Joachim J'''.: ''Knowledge, Domination and Criminal Punishment Revisited''. In: Punishment & Society 1/1; S. 45-70.(1999).
*Simon, Jonathan: ''Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat''. S. 279-301 in: Trotha, T. von (Hg.): Soziologie der Gewalt. (Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift f. Soziologie u. Sozialpsychologie). (Opladen, 1997).
*Stehr, Johannes: ''Welche Funktionen haben staatliche Strafen und der Ruf nach Bestrafung der Jugend?'' In: Bettinger [u.a.]: Gefährdete Jugend? Jugend, Kriminalität und der Ruf nach Strafe. Opladen 2002, S. 103-116.
*Taylor, Ian''': ''Crime in Context: A Critical Criminology of Market Societies''. Cambridge 1999.<
*Weber, Hartmut-Michael''': ''Lebenslange Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik: Abschaffungsperspektiven gegenüber positiver Reform''. In: Knut Papendorf [u.a.] (Hrsg.):’Kein schärfer Schwert, denn das für Freiheit streitet!’ Eine Festschrift für Thomas Mathiessen. Bielefeld: 1993.
*Young, Jock (2003) ''Zur Soziologie der Rachsucht (vindictiveness) im Rahmen einer kulturellen Kriminologie.
*Streng, Franz 2004: »Strafzumessungsvorstellungen von Laien. Grundlagen für eine Kriminalpolitik jenseits des ›politisch-publizistischen Verstärkerkreislaufs‹«, <i>Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform</i>&nbsp;87, Heft&nbsp;2, S. 127-145.-->
*Streng, Franz 2004: »Strafzumessungsvorstellungen von Laien. Grundlagen für eine Kriminalpolitik jenseits des ›politisch-publizistischen Verstärkerkreislaufs‹«, <i>Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform</i>&nbsp;87, Heft&nbsp;2, S. 127-145.-->
*Thiel, Stephanie 2005: <i>Zu sozialpsychologischen Grundlagen rechtspopulistischer Wahlen am Beispiel einer Law-and-Order-Bewegung</i>, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Hamburg.
*Thiel, Stephanie 2005: <i>Zu sozialpsychologischen Grundlagen rechtspopulistischer Wahlen am Beispiel einer Law-and-Order-Bewegung</i>, unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Hamburg.
<!--*Western, Bruce und Katherine Beckett 1999: »How Unregulated is the U.S. Labor Market? The Penal System as a Labor Market Institution«, <i>American Journal of Sociology</i>&nbsp;104, Heft&nbsp;4, Seite 1030 bis 1060.-->
<!--*Western, Bruce und Katherine Beckett 1999: »How Unregulated is the U.S. Labor Market? The Penal System as a Labor Market Institution«, <i>American Journal of Sociology</i>&nbsp;104, Heft&nbsp;4, Seite 1030 bis 1060.
*Wacquant, Loic (2000) Elend hinter Gittern


== Weblinks ==
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