Im Gegensatz etwa zur Astrophysik, wo der Lauf der Gestirne sich präzise vorhersagen lässt, sind kriminologische Prognosen mit großen Unsicherheiten behaftet. Dafür gibt es drei Arten von Gründen: prinzipielle Gründe aus der Natur der zu prognostizierenden Sachverhalte, Unzulänglichkeiten in den Prognoseinstrumenten und Unzulänglichkeiten in der Anwendung von Prognoseinstrumenten.

Prognosefehler gibt es bei Makro-, Meso- und Mikroprognosen. Bei letzteren liegen die Folgen für konkrete Personen auf der Hand, dienen individuell Kriminalprognosen doch in aller Regel der Vorbereitung von Entscheidungen über die Verhängung, Ausgestaltung oder Aufhebung von freiheitsentziehenden Maßnahmen. Daher findet sich auch wesentlich mehr Literatur über Prognosefehler bei personenbezogenen Kriminalprognosen als über Fehler bei anderen Prognosen im Bereich der Kriminologie.

Kriminalprognostiker arbeiten insofern unter ungünstigen Bedingungen, als sie den Eintritt relativ seltener Ereignisse über einen relativ langen Zeitraum vorhersagen sollen - und das mit nur geringer Kenntnis der künftigen Lebenssituation des Betroffenen und der auf ihn einwirkenden Einflüsse. Das zu prognostizierende Ereignis ist häufig die polizeilich ermittelte und gerichtlich festgestellte "Rückfälligkeit" in strafbares Verhalten. Bedenkt man die Komplexität des Prozesses, der zu so einem Ereignis führt - neben den täterbezogenen Variablen vor allem auch die Interaktionen und die normativen Zuschreibungsprozesse des Kriminalisierungsprozesses (selektives Anzeigeverhalten, Selektivität im polizeilichen Ermittlungs- und staatsanwaltschaftlichen Erledigungsverhalten, Unwägbarkeiten des richterlichen Handelns), dann drängt sich die Frage auf, ob irgend jemand der sonst an einem Strafprozess Beteiligten wohl das Risiko negativer Konsequenzen aufgrund eines auf so unsicherer Grundlage erstellten Prognosegutachtens hinzunehmen bereit wäre (vgl. Pollähne 2006: 245).


Prognosequalität: der Maßstab

Eine Prognose ist gut, wenn sie sich als richtig erweist. Zumindest ex post, so scheint es, kann man also gute von schlechten Prognosen unterscheiden. Gut ist aber nicht immer gleichbedeutend mit richtig und schlecht nicht immer mit falsch.

Die Güte einer Prognose hat verschiedene Dimensionen. Sie kann prozeduraler oder materieller Art sein. Sie kann das Verfahren der Erstellung betreffen oder die Übereinstimmung des vorhergesagten mit dem eingetretenen Ereignis. Im besten Fall wird eine Prognose nach den Regeln der Kunst unter optimalen Bedingungen erstellt und erweist sich dadurch als richtig, dass das vorhergesagte Ereignis auch so eintritt, wie es angekündigt worden war.

Denkbar sind aber auch schwierigere Fälle:

  • Eine Prognose wird nach den Regeln der Kunst erstellt. Ergebnis der Prognose ("Ereignis wird nicht eintreten") und Realität ("Ereignis tritt ein") differieren jedoch ums Ganze.
  • Eine Prognose wird nicht nach den Regeln der Kunst erstellt. Ergebnis der Prognose ("Ereignis wird eintreten") und Realität ("Ereignis tritt ein") stimmen überein, entweder weil der Kausalverlauf zwar schludrig, aber korrekt vorhergesagt wurde - oder weil der vorhergesagte Kausalverlauf gar keine Rolle spielte, zufällig aber ganz andere Faktoren wirksam wurden, die dasselbe Ergebnis zeitigten.

Im Bereich der Astrophysik stellen punktgenaue Ereignis-Vorhersagen kein prinzipielles Problem dar. Die nächste Sonnenfinsternis lässt sich genau vorhersagen. Dazu bedarf es keines Ausweichens auf Wahrscheinlichkeitsaussagen.

In vielen Bereichen der Naturwissenschaften, aber bei fast allen Fragen der Humanwissenschaften befindet man sich im Reich der Wahrscheinlichkeitsaussagen. Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der X eintritt, beeinflussen das Kriterium der Ergebnis-Richtigkeit einer Prognose, bzw. ihrer materiellen Güte.

Wenn die Wettervorhersage erklärt, es bestehe eine 60-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass es innerhalb der nächsten 24 Stunden in Hamburg regnen werde: was ist dann mit der Güte der Vorhersage, wenn es nicht regnet?

Beschränkt auf diesen Einzelfall ließe sich die Frage nicht beantworten. Erst bei der Addition (z.B. der Vorhersagen über 365 Tage) und im Vergleich zu der Trefferquote bei einer reinen Zufallsvorhersage ließen sich (bei unterschiedlichen Methoden der Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten) verschiedene Grade der (über der Zufallswahrscheinlichkeit, die dann den Maßstab abgäbe, sozusagen das Normal-Null) Güte feststellen.

Fehlerarten

  • Falsch Negative

"Negativ" steht dafür, dass das Ereignis (z.B. der Rückfall eines Straftäters) nicht eintreten wird. Als "falsch negativ" wird der Fall bezeichnet, in dem fälschlich prognostiziert wurde, dass ein Rückfall nicht zu erwarten stehe. Der Häftling wird dann entlassen und begeht im Widerspruch zu seiner günstigen Rückfallprognose doch eine erneute Straftat, wird also wider Erwarten doch rückfällig. Solche Rückfälle werden insbesondere bei Sexualstraftätern, die mit einer günstigen Prognose entlassen wurden, in der Öffentlichkeit emotional diskutiert und können auch für diejenigen, die für die falsche Prognose verantwortlich zeichnen, negative Folgen haben.

  • Falsch Positive

Während der "richtige Positive" die vorhergesagte Rückfalltat tatsächlich begeht, begeht der "falsch Positive" die vorhergesagte Rückfalltat wider Erwarten doch nicht. Wie groß die Zahl derjenigen ist, denen zu unrecht eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit zugeschrieben wird, ist unbekannt. "Da die positiven Rückfallprognosen regelmäßig in den Freiheitsentzug führen", so Pollähne (2006: 248), "bleibt den Betroffenen in einem sher wahren Sinn des Wortes die Möglichkeit verschlossen (...), die Prognose zu falsifizieren, also unter Beweis zu stellen, dass sie - vorhersagewidrig - gar nicht rückfällig geworden wären; sie werden zu theoretisch realen, praktisch aber unsichtbaren Opfern."

  • Sich selbst erfüllende Prophezeiung (Rückkopplung zwischen Prognose und Verlauf)

Ursprünglich "falsch positive" Prognosen (die bei Probanden fälschlich einen Rückfall für sehr wahrscheinlich halten) können eine Reihe von Restriktionen, Sanktionierungen usw. nach sich ziehen, die ihrerseits "dazu beitragen, die ursprünglich falsch positiven zu wahr positiven Prognosen werden zu lassen. Dass die Studien zu kriminellen Karrieren auch 40 Jahre nach dem Aufkommen labeling-theoretischer Argumente die für den Karriereverlauf relevanten Determinanten fast nur in der Person und dem kriminellen sozialen Umfeld der Täter, nicht aber auch bei den informellen und formellen gesellschaftlichen Reaktionen suchen, ist ebenso skandalös wie fatal" (Albrecht 2004: 510).

Wie gut sind (Mikro-) Kriminalprognosen?

Volker Dittmann (2003: 178 f.) meint, dass eine "durchschnittliche Richtigkeit von etwa 90 Prozent erreichbar sein" dürfte - jedenfalls "unter optimalen Bedingungen". - In Bezug auf die Missbrauchsprognose im Strafvollzug meinte Murach hingegen im Jahre 1989, dass man vielleicht ebenso gut (oder schlecht) würfeln könne. Gemeint war damit wohl eine Art Fifty-Fifty-Chance, richtig zu liegen. - Damit dürfte ungefähr die Spannweite der Einschätzungen, was den Nutzen und die Güte von Kriminalprognosen angeht, erfasst sein. Welche Einschätzung stimmt?


Literatur

  • Albrecht, Günther (2004) Sinn und Unsinn der Prognose von Gewaltkriminalität. In: Wilhelm Heitmeyer, Hans-Georg Soeffner, Hg., Gewalt: 475 ff.
  • Dittmann, Volker (2003) Was kann die Kriminalprognose heute leisten? In: Frank Häßler (Hrsg.) Forensische Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie. Aspekte der forensischen Begutachtung: 173-187.
  • Murach, Michael (1989) Zwischen Würfeln und Wissenschaft. Zur Mißbrauchsprognose im Strafvollzug. In: Recht und Psychiatrie, Jg. 7: 57 ff.
  • Pollähne, Helmut (2006) Kriminalprognostik zwischen richtigen Basisraten und falschen Positiven: Theoretische, methodologische und juristische Aspekte. In: Stephan Barton (Hrsg) "...weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist!" Prognosegutachten, Neurobiolgoie, Sicherungsverwahrung. Baden-Baden: Nomos, 221-258.