Pre-crime

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"Pre-crime" ist ein 2007 von Lucia Zedner in die Kriminologie eingeführter Begriff. Er bezeichnet die zunehmende gesellschaftliche Tendenz, sich weniger mit der Bestrafung begangener Straftaten und mehr mit der Verhinderung noch nicht begangener Straftaten zu befassen.

Science Fiction

Der Begriff geht zurück auf Philip K. Dicks Science Fiction Story "Minority Report" (1956). In dieser wird eine staatliche "Precrime" (sic!)-Behörde geschildert, welche sich mit der Verhinderung noch nicht begangener Verbrechen beschäftigt. Anderton, der Behördenchef, erläutert die Vorteile dieses Verfahrens: "In unserer Gesellschaft kommt es zu keinen größeren Verbrechen...aber wir haben eine Verwahrunganstalt voll mit potentiellen Straftätern". Aber er fügt auch hinzu, dass diese Methode "legalistische Nachteile" mit sich bringe, da "wir Individuen einsperren, die kein Gesetz gebrochen haben".

Pre-crime Gesellschaft

Lucia Zedner sieht uns am Übergang von einer post-crime zu einer pre-crime Gesellschaft: "a society in which the possibility of forestalling risks competes with and even takes precedence over responding to wrongs done. In consequence, the post-crime orientation of criminal justice is increasingly overshadowed by the pre-crime logic of security" (Zedner 2007, 262). In dieser sich entwickelnden Gesellschaft besteht das Hauptaugenmerk darin, Delikte, mit möglichst "wissenschaftlichen" Methoden vorherzusagen[1].

Voraus-Strafe

Dem vorausgesagten Delikt entspricht der Begriff der Voraus-Strafe (pre-punishment), den ebenfalls Lucia Zedner geprägt hat (Zedner 2011). Sie diskutiert diesen am Beispiel der "control orders", welche im United Kingdom 2005 im Rahmen des Prevention of Terrorism Act eingeführt wurden (siehe auch McCullough/Pickering 2009). Dabei handelt es sich um Anordnungen der Innenverwaltung, welche den Aufenthalt, die Aktivitäten, die sozialen Beziehungen und Lebensentscheidungen der überwachten Person einschränken. Theoretisch können diese Anordnungen auch bis zur Freiheitsentziehung gehen (was aber bisher nur in einem vom Parlament erklärten Ausnahmezustand zulässig wäre). Diese Anordnungen gelten im anglo-amerikanischen Rechtskreis als "civil orders", sind also nicht Teil der Strafjustiz. Sie als Vorausstrafen zu bezeichnen widerspricht daher der offiziellen Lesart.

Maßregeln der Besserung und Sicherung als Vorausstrafen

Vorausstrafen sind bei uns spätestens seit der Einführung der Sicherungsverwahrung und anderer Maßregeln der Besserung und Sicherung vorhanden (1933). Wegen einer vorausgesagten künftigen "Gefährlichkeit", können ambulante oder auch freiheitsentziehende Maßregeln verhängt werden. Zu den freiheitsentziehenden Maßregeln gehört die strafrechtliche Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus, eine Entziehungsanstalt oder in die Sicherungsverwahrung.

Beispiel Sicherungsverwahrung

Die Sicherungsverwahrung setzt stets die Verurteilung wegen einer Straftat voraus. Zusätzlich zur Freiheitsstrafe wird vom Gericht die Einweisung in die Sicherungsverwahrung verfügt, deren Vollstreckung sich an die Verbüßung der Freiheitsstrafe anschließt, solange die angenommene Gefährlichkeit fortbesteht. Im Jahre 2004 ermöglichte der deutsche Gesetzgeber auch eine nachträgliche Festsetzung der Sicherungsverwahrung, für den Fall, dass sich erst im Vollzug Anhaltspunkte für eine künftige Gefährlichkeit ergeben. In dieser Regelung sah der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 7 EMRK), weil diese Maßregel sich in ihrer praktischen Durchführung (in Strafanstalten) kaum von einer Freiheitsstrafe unterscheide und sogar, wegen ihrer unbestimmten Dauer härter sei als jene. Zur Erhaltung der Institution Sicherungsverwahrung wird jetzt versucht, den Abstand zwischen ihr und dem Strafvollzug zu verdeutlichen (durch bessere Ausstattung; mehr therapeutische Angebote etc.). Zum anderen ist im Koalitionsvertrag der schwarz/roten Koalition (Dezember 2013) geplant, anstelle der nachträglichen Sicherungsverwahrung eine "nachträgliche Therapieunterbringung" einzuführen, die sich dann auf Art. 5 Abs. 1 e EMRK stützen soll, wonach "persons of unsound mind" auch ohne strafrechtliche Verurteilung festgehalten werden können.

Kritik an Vorausstrafen

Inkeri Antilla, Kriminologin und Justizministerin von Finnland, hat schon 1975 die Sicherungsverwahrung als eine "Bestrafung für noch nicht begangene Delikte" bezeichnet und sich für deren Abschaffung ausgesprochen. Ganz allgemein kann man (mit Zedner 2011, 202) zwei rechtspolitische Reaktionen auf Vorausstrafen unterscheiden:

1. die Einordnung in das Strafrechtssystem, mit der Konsequenz, dass die üblichen strafrechtlichen Garantien und Prinzipien auch hier gelten (keine Strafe ohne Delikt; ordentliches Strafverfahren mit allen Schutzrechten; keine rückwirkende Bestrafung; keine Doppelbestrafung etc.). Der EGMR ist ein Stück weit in diese Richtung gegangen.

2. Die Entwicklung neuer, der gesellschaftlichen Entwicklung angemessener, Prinzipien. Als Beispiel hat Zedner eine Ungefährlichkeitsvermutung vorgeschlagen, die dem Staat eine hohe Beweislast aufbürdet, bevor er zu Vorausstrafen schreiten darf.

Literatur

  • Antilla, Inkeri: Incarceration for Crimes never Committed, Helsinki 1975.
  • Dick, Philip K.: Minority Report. London 2002, 1-43 (deutsch: Der Minderheiten-Bericht. In: Sämtliche 118 SF-Geschichten, Zweitausendeins-Verlag, Frankfurt 2008, ISBN 978-3861508038).
  • Feest, Johannes: Abolition in the times of pre-crime. In: Thomas Mathiesen (ed.) The Politics of Abolition, 2.Auflage, London 2014.
  • McCulloch, Jude/Pickering, Sharon: "Pre-Crime and Counter-Terrorism. Imagining Future Crime in the ‘War on Terror’". In: British Journal of Criminology, 49/5 (2009), 628-645.
  • Zedner, Lucia (2014), Preventive Detention of the Dangerous. In: Andrew Ashworth/Luica Zedner/Patrick Tomlin (Hrsg.) Prevention and the limits of the Criminal Law. Oxford University Press, 144-170.
  • Zedner, Lucia (2011) Preventive Justice or Pre-Punishment? The Case of Control Orders. unveröffentlichtes Manuskript Oxford 2011.
  • Zedner, Lucia (1010), "Pre-Crime and pre-punishment: a health warning". In: Criminal Justice Matters, 81: 1, 24-25.
  • Zedner, Lucia (2009), Security. London, 72 ff.
  • Zedner, Lucia (2007), Pre-crime and post-criminology?. In: Theoretical Criminology, vol. 11, no. 2, 261-281.

Externe Links