Prävention: Unterschied zwischen den Versionen

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==== Etymologie ====
==== Etymologie ====
 
Das deutsche Wort, das Prävention bezeichnet, ist Vorbeugung.  ''Vor'':  Das gemeingerm. Wort (Adverb, Präposition) mhd. vor, ahd. Fora, got. Faúr[a], aengl. For, schwed. För[e] beruht mit verwandten Wörtern in anderen idg. Sprachen auf der Wurzel per- „über etwas hinaus“ und ist z.B. eng verwandt mit griech. pará „an etwas entlang, über etwas hinaus“.  Im Dt. wird ‚vor‘ seit alters in räumlichem und zeitlichem Sinn gebraucht (über das Verhältnis zu ‚für‘ s.d.). Gegenwörter sind ‚hinter‘ und ‚nach‘.<br>
Das deutsche Wort, das Prävention bezeichnet, ist Vorbeugung.  ''Vor'':  Das gemeingerm. Wort (Adverb, Präposition) mhd. vor, ahd. Fora, got. Faúr[a], aengl. For, schwed. För[e] beruht mit verwandten Wörtern in anderen idg. Sprachen auf der Wurzel per- „über etwas hinaus“ und ist z.B. eng verwandt mit griech. pará „an etwas entlang, über etwas hinaus“.  Im Dt. wird ‚vor‘ seit alters in räumlichem und zeitlichem Sinn gebraucht (über das Verhältnis zu ‚für‘ s.d.). Gegenwörter sind ‚hinter‘ und ‚nach‘.<br>
''Beugen'':  Das altgerm. Verb mhd. böugen, ahd. bougen, mniederl. bögen, aengl. biegan, schwed, böja ist das Veranlassungswort zu dem Verb biegen und bedeutet demnach eigentlich „biegen machen“.  Es ist im dt. Sprachgebrauch von ‚biegen‘ nicht klar geschieden und hat meist die Bed. „herunterbiegen“, reflexiv „sich unterwerfen“.  In der Grammatik verdeutscht es seit dem 17. Jh. das Fremdwort ‚flektieren‘ (wie ‚Beugung‘ das Fremdwort ‚Flexion‘).
''Beugen'':  Das altgerm. Verb mhd. böugen, ahd. bougen, mniederl. bögen, aengl. biegan, schwed, böja ist das Veranlassungswort zu dem Verb biegen und bedeutet demnach eigentlich „biegen machen“.  Es ist im dt. Sprachgebrauch von ‚biegen‘ nicht klar geschieden und hat meist die Bed. „herunterbiegen“, reflexiv „sich unterwerfen“.  In der Grammatik verdeutscht es seit dem 17. Jh. das Fremdwort ‚flektieren‘ (wie ‚Beugung‘ das Fremdwort ‚Flexion‘).
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==== Definition ====
==== Definition ====


#Als allgemeine Begriff definiert Bröckling: „Prävention bezeichnet in der grundlegenden Bedeutung des Begriffs ein Handlungsprinzip:  ‚Prävenire‘ heißt zuvorkommen.  Etwas wird getan, bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand entritt, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird oder ihre Folgen begrenzt werden.  Indem ihren Interventionen notwendig das Wissen, die Werturteile und die Machtkonstellationen der Gegenwart zugrunde liegen, projiziert Prävention die Gegenwart normativ auf die Zukunft.  Sie ist konservativ, selbst wenn sie das Leben von Individuen, Gruppen oder ganzen Populationen nachhaltig verändert.  Der Gegenstandsbereich vorbeugenden Handelns ist offen und nimmt erst im vorbeugenden Zugriff selbst Gestalt an.  Indem Prävention, um überhaupt gezielt intervenieren zu können, einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit herauslöst und Zusammenhänge zwischen gegenwärtigen Phänomenen und künftigen Ereignissen oder Zuständen postuliert, konstruiert sie ihr eigenes Aktionsfeld.  Und da es nichts gibt, was nicht als Bedrohung wahrgenommen oder zur Bedrohung deklariert werden könnte, gibt es auch nichts, was nicht zur Zielscheibe präventiver Anstrengungen werden kann.“ (Bröckling, 39/40).
#Als allgemeinen Begriff definiert Bröckling: „Prävention bezeichnet in der grundlegenden Bedeutung des Begriffs ein Handlungsprinzip:  ‚Prävenire‘ heißt zuvorkommen.  Etwas wird getan, bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand entritt, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird oder ihre Folgen begrenzt werden.  Indem ihren Interventionen notwendig das Wissen, die Werturteile und die Machtkonstellationen der Gegenwart zugrunde liegen, projiziert Prävention die Gegenwart normativ auf die Zukunft.  Sie ist konservativ, selbst wenn sie das Leben von Individuen, Gruppen oder ganzen Populationen nachhaltig verändert.  Der Gegenstandsbereich vorbeugenden Handelns ist offen und nimmt erst im vorbeugenden Zugriff selbst Gestalt an.  Indem Prävention, um überhaupt gezielt intervenieren zu können, einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit herauslöst und Zusammenhänge zwischen gegenwärtigen Phänomenen und künftigen Ereignissen oder Zuständen postuliert, konstruiert sie ihr eigenes Aktionsfeld.  Und da es nichts gibt, was nicht als Bedrohung wahrgenommen oder zur Bedrohung deklariert werden könnte, gibt es auch nichts, was nicht zur Zielscheibe präventiver Anstrengungen werden kann.“ (Bröckling, 39/40).
#Vobruba stellt das Begriff etwas anders dar: „Prävention bedeutet ihrem allgemeinsten Sinn nach, die Entstehung sozialpolitischer Probleme zu verhindern.  Den beiden Anknüpfungspunkten System und Subjekt entsprechend, lassen sich zwei Typen von Prävention –idealtypisch- unterscheiden.  Diese beiden Typen werden in der Regel als primäre und sekundäre bzw. als institutionelle und personelle Prävention bezeichnet.  Primäre Prävention richtet sich auf den systemischen Anteil an der Entstehung sozialpolitischer Probleme.  Ihre Maßnahmen laufen auf institutionelle Änderungen hinaus.  Diese stellen sich aus der Sicht der Subjekte als gewandelte Lebenschancen dar.  Sie eröffnen den Subjekten die Chance, nicht in solche Handlungskontexte zu geraten, in denen sie in Kauf nehmen müssen, zu Trägern sozialpolitischer Probleme zu werden.  Insofern läuft primäre (institutionelle) Prävention auf Entlastungen der Subjekte von Systemzwängen hinaus.  Sekundäre Prävention richtet sich auf den subjektbezogenen Anteil sozialpolitischer Problementstehung.  Sie legt den Subjekten Arrangements mit institutionellen Zwängen nahe, die sich aus systemischen Erfordernissen ergeben.  Sekundäre Prävention läuft somit auf flexible, problemabsorbierende Anpassung hinaus.  Aus der Ambivalenz von Prävention folgt die Mehrdeutigkeit des Präventionsbegriffs.  Dies erklärt den Gleichklang von gesellschaftspolitisch sehr unterschiedlich motivierten Ausführungen zur präventiven Sozialpolitik.“ (Vobruba, 29/30).<br>Der Begriff Prävention wird auch spezifischer in verschiedenen wissenschaftlichen Rahmen benutzt. Die drei bedeutsameren Gebiete sind: Medizin, öffentliches Gesundheitswesen und Strafrecht/Kriminologie.
#Vobruba stellt den Begriff etwas anders dar: „Prävention bedeutet ihrem allgemeinsten Sinn nach, die Entstehung sozialpolitischer Probleme zu verhindern.  Den beiden Anknüpfungspunkten System und Subjekt entsprechend, lassen sich zwei Typen von Prävention –idealtypisch- unterscheiden.  Diese beiden Typen werden in der Regel als primäre und sekundäre bzw. als institutionelle und personelle Prävention bezeichnet.  Primäre Prävention richtet sich auf den systemischen Anteil an der Entstehung sozialpolitischer Probleme.  Ihre Maßnahmen laufen auf institutionelle Änderungen hinaus.  Diese stellen sich aus der Sicht der Subjekte als gewandelte Lebenschancen dar.  Sie eröffnen den Subjekten die Chance, nicht in solche Handlungskontexte zu geraten, in denen sie in Kauf nehmen müssen, zu Trägern sozialpolitischer Probleme zu werden.  Insofern läuft primäre (institutionelle) Prävention auf Entlastungen der Subjekte von Systemzwängen hinaus.  Sekundäre Prävention richtet sich auf den subjektbezogenen Anteil sozialpolitischer Problementstehung.  Sie legt den Subjekten Arrangements mit institutionellen Zwängen nahe, die sich aus systemischen Erfordernissen ergeben.  Sekundäre Prävention läuft somit auf flexible, problemabsorbierende Anpassung hinaus.  Aus der Ambivalenz von Prävention folgt die Mehrdeutigkeit des Präventionsbegriffs.  Dies erklärt den Gleichklang von gesellschaftspolitisch sehr unterschiedlich motivierten Ausführungen zur präventiven Sozialpolitik.“ (Vobruba, 29/30).<br>Der Begriff Prävention wird auch spezifischer in verschiedenen wissenschaftlichen Rahmen benutzt. Die drei bedeutsameren Gebiete sind: Medizin, öffentliches Gesundheitswesen und Strafrecht/Kriminologie.


*In der ''Medizin'' bezeichnet man Maßnahmen als prophylaktisch oder präventiv, die das Auftreten bestimmter Krankheiten verhindern oder unwahrscheinlicher machen sollen.  Man differenziert und definiert diese Maßnahmen gemäss ihrer verschiedenen Zielebenen.  ''Primäre Prävention'' will den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und Unfälle oder die Entstehung von Krankheiten vermeiden.  ''Sekundäre Prävention'' bezieht sich auf Krankheitsfrüherkennung und Behandlung in einem möglichst frühen Stadium (z.B. Krebsvorsorge). Zur ''tertiären Prävention'' zählen Maßnahmen, die Krankheitsrückfällen vorbeugen, die Verschlimmerung von chronischen Erkrankungen verlangsamen oder Folgestörungen bei bestehenden Krankheiten verhindern.
*In der ''Medizin'' bezeichnet man Maßnahmen als prophylaktisch oder präventiv, die das Auftreten bestimmter Krankheiten verhindern oder unwahrscheinlicher machen sollen.  Man differenziert und definiert diese Maßnahmen gemäss ihrer verschiedenen Zielebenen.  ''Primäre Prävention'' will den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und Unfälle oder die Entstehung von Krankheiten vermeiden.  ''Sekundäre Prävention'' bezieht sich auf Krankheitsfrüherkennung und Behandlung in einem möglichst frühen Stadium (z.B. Krebsvorsorge). Zur ''tertiären Prävention'' zählen Maßnahmen, die Krankheitsrückfällen vorbeugen, die Verschlimmerung von chronischen Erkrankungen verlangsamen oder Folgestörungen bei bestehenden Krankheiten verhindern.
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==== Historische Benutzung ====
==== Historische Benutzung ====


*Schülein fasst die historische Benutzung und Entwicklung des Begriffs zusammen: „Der Brockhaus von 1890 kennt zwar auch schon die Präventiv-Medizin, aber im Vordergrund steht eine juristische und kirchenrechtliche Bestimmung.  Prävention ist danach ein Vorgang, bei dem `jemand eine rechtliche Handlung früher vornimmt als ein anderer Berechtiger, und dadurch das ausschließliche Recht zur Fortsetzung der Sache erlangt‘.  Kirchenrechtlich verstand sich Prävention als Recht des höheren Geistlichen, ‚in Befugnisse des Untergebenen einzugreifen`. Dagegen fehlt das Stichwort ‚Präventivkrieg‘... Das lässt auf einen Bedeutungswandel schließen –nicht nur insofern, als sich die Militärtechnologie offenkundig weiterentwickelt hat, sondern auch in bezug auf den psychosozialen Gehalt des Begriffs. Während im 19. Jahrhunder Prävention stärker konkurrenzhaltig war, ist sie gegenwärtig eher von Angst und Misstrauen geprägt.  Prävention soll der Verhinderung von möglichen Übeln dienen“ (Schülein, 13).
*Schülein fasst die historische Benutzung und Entwicklung des Begriffs zusammen: „Der Brockhaus von 1890 kennt zwar auch schon die Präventiv-Medizin, aber im Vordergrund steht eine juristische und kirchenrechtliche Bestimmung.  Prävention ist danach ein Vorgang, bei dem `jemand eine rechtliche Handlung früher vornimmt als ein anderer Berechtiger, und dadurch das ausschließliche Recht zur Fortsetzung der Sache erlangt‘.  Kirchenrechtlich verstand sich Prävention als Recht des höheren Geistlichen, ‚in Befugnisse des Untergebenen einzugreifen`. Dagegen fehlt das Stichwort ‚Präventivkrieg‘... Das lässt auf einen Bedeutungswandel schließen –nicht nur insofern, als sich die Militärtechnologie offenkundig weiterentwickelt hat, sondern auch in bezug auf den psychosozialen Gehalt des Begriffs. Während im 19. Jahrhunder Prävention stärker konkurrenzhaltig war, ist sie gegenwärtig eher von Angst und Misstrauen geprägt.  Prävention soll der Verhinderung von möglichen Übeln dienen“ (Schülein, 13).<br>Schülein analysiert die Evolution von Prävention und stellt dar, dass es in den vorindustriellen Gesellschaften sehr wenig Raum für Prävention gab.  In den traditionsgeleiteten Gesellschaften sind die Mitgliederzahlen meist niedrig und der Lebensstandard auch relativ niedrig.  Die Produktion basiert sich in relativ einfachen Techniken, die das Rhytmus der Natur nicht überspringen sondern antizipieren möchten und deshalb ein begrenztes Präventionspotenzial besitzen.  Diese Gesellschaften „ produzieren keinen oder wenig Surplus, so dass auch wenig Möglichkeit der Investition in eine (alternative) Zukunft besteht“ (Schülein, 22).  Es ist dann klar, dass diese Gesellschaften, in denen die Veränderungen als Echo des Wandels der Lebensbedingungen und weniger aus der Eigendynamik der Gesellschaften selbst entstehen, einen statischen Charakter haben und keine besonderen vorbeugenden Erwartungen brauchen.<br>Die beanspruchlose Prävention der vorindustriellen Gesellschaft ändert sich im Übergang zur Industriegesellschaft grundsätzlich.  Sowohl neue Produktionstechniken als auch neue soziale Strukturen bilden zweckrationale Interaktionsabläufe und –systeme, die eine hohe Eigendynamik besitzen, die aber auch vielfältige Subjektivitäten und eigene Erwartungen und Alternativen erlauben.  Ein erheblich höherer Präventionsbedarf ist mit dieser Vergrößerung des sozialen und subjektiven Möglichkeitshorizont verbunden.  „Mit der Entwicklung der Produktivkräfte in der und durch die Industriegesellschaft ist auch eine erhebliche Steigerung der Präventionsmöglichkeiten verbunden.  Der Wandel von der traditionsgeleiteten zur zweckrational spezialisierten Interaktion bringt große Mengen von Informationen über natürliche wie soziale Prozesse mit sich.  Damit ist Prävention auf eine neue Basis gestellt und kann die Grenzen traditioneller art überschreiten.  Andererseits wächst aber auch der Präventionsbedarf explosiv, und Prävention als Prozess wird komplexer.  Denn ''mit der Reichweite der instrumentellen und sozialen Kompetenzen und der Ausweitung des Horizonts von Möglichkeiten nimmt auch die Notwendigkeit der Steuerung in Richtung auf hochspezifische Zukunftskonstellationen exponentiell zu. [...] '' Institutionen sind im Grunde nichts anders als Negativ-Präventionen, indem sie einen großen Teil von potentiellen Entwicklungen ausgrenzen.  Aus diesem Grund lässt sich erkennen, dass komplexe Industriegesellschaften dazu tendieren, den selbstgeschaffenen Interaktionsspielraum sekundär durch Institutionalisierungen wieder zu beschränken.“ (Schülein, 24/25).<br>Der Entwicklungsprozess der kapitalistischen Industriegesellschaften bringt mit sich neben der massiven Tendenz zur ungleichgewichtigen Verteilung von Chancen ein starkes Anomiepotential.  „Sowohl die teilweise Privatisierung gesellschaftlicher Macht als auch die desintegrative Wirkung individualistischer Organisation der Lebenswelt tragen dazu bei.  Aus genau diesen Gründen hat sich dagegen die Präventionskompetenz subjektiv wie gesellschaftlich nicht entsprechend entwickeln können.  Denn in den Zentren privater Macht wurde und wird Prävention vor allem für private Interessen betrieben und die individualistischer Organisation der Lebensbereiche führt ebenfalls dazu, dass Strategien der persönlichen Bedürfnisbefriedigung stets Vorrang vor den (Abstrakten) Erfordernissen kollektiver Prävention haben.“ (Schülein, 26).
Schülein analysiert die Evolution von Prävention und stellt dar, dass es in den vorindustriellen Gesellschaften sehr wenig Raum für Prävention gab.  In den traditionsgeleiteten Gesellschaften sind die Mitgliederzahlen meist niedrig und der Lebensstandard auch relativ niedrig.  Die Produktion basiert sich in relativ einfachen Techniken, die das Rhytmus der Natur nicht überspringen sondern antizipieren möchten und deshalb ein begrenztes Präventionspotenzial besitzen.  Diese Gesellschaften „ produzieren keinen oder wenig Surplus, so dass auch wenig Möglichkeit der Investition in eine (alternative) Zukunft besteht“ (Schülein, 22).  Es ist dann klar, dass diese Gesellschaften, in denen die Veränderungen als Echo des Wandels der Lebensbedingungen und weniger aus der Eigendynamik der Gesellschaften selbst entstehen, einen statischen Charakter haben und keine besonderen vorbeugenden Erwartungen brauchen.<br>
Die beanspruchlose Prävention der vorindustriellen Gesellschaft ändert sich im Übergang zur Industriegesellschaft grundsätzlich.  Sowohl neue Produktionstechniken als auch neue soziale Strukturen bilden zweckrationale Interaktionsabläufe und –systeme, die eine hohe Eigendynamik besitzen, die aber auch vielfältige Subjektivitäten und eigene Erwartungen und Alternativen erlauben.  Ein erheblich höherer Präventionsbedarf ist mit dieser Vergrößerung des sozialen und subjektiven Möglichkeitshorizont verbunden.  „Mit der Entwicklung der Produktivkräfte in der und durch die Industriegesellschaft ist auch eine erhebliche Steigerung der Präventionsmöglichkeiten verbunden.  Der Wandel von der traditionsgeleiteten zur zweckrational spezialisierten Interaktion bringt große Mengen von Informationen über natürliche wie soziale Prozesse mit sich.  Damit ist Prävention auf eine neue Basis gestellt und kann die Grenzen traditioneller art überschreiten.  Andererseits wächst aber auch der Präventionsbedarf explosiv, und Prävention als Prozess wird komplexer.  Denn ''mit der Reichweite der instrumentellen und sozialen Kompetenzen und der Ausweitung des Horizonts von Möglichkeiten nimmt auch die Notwendigkeit der Steuerung in Richtung auf hochspezifische Zukunftskonstellationen exponentiell zu. [...] '' Institutionen sind im Grunde nichts anders als Negativ-Präventionen, indem sie einen großen Teil von potentiellen Entwicklungen ausgrenzen.  Aus diesem Grund lässt sich erkennen, dass komplexe Industriegesellschaften dazu tendieren, den selbstgeschaffenen Interaktionsspielraum sekundär durch Institutionalisierungen wieder zu beschränken.“ (Schülein, 24/25).
Der Entwicklungsprozess der kapitalistischen Industriegesellschaften bringt mit sich neben der massiven Tendenz zur ungleichgewichtigen Verteilung von Chancen ein starkes Anomiepotential.  „Sowohl die teilweise Privatisierung gesellschaftlicher Macht als auch die desintegrative Wirkung individualistischer Organisation der Lebenswelt tragen dazu bei.  Aus genau diesen Gründen hat sich dagegen die Präventionskompetenz subjektiv wie gesellschaftlich nicht entsprechend entwickeln können.  Denn in den Zentren privater Macht wurde und wird Prävention vor allem für private Interessen betrieben und die individualistischer Organisation der Lebensbereiche führt ebenfalls dazu, dass Strategien der persönlichen Bedürfnisbefriedigung stets Vorrang vor den (Abstrakten) Erfordernissen kollektiver Prävention haben.“ (Schülein, 26).
*Einen merkwürdigen und historischen Blickwinkel bieten die Verbrechensverhütungsmaßnahmen, die während der nationalsozialistischen Regierung von den Akademikern analysiert und gelehrt wurden:  Deportation nach Siberien, Vernichtung lebensunwerten Lebens, Vorbeugungshaft, etc.. (Schneickert)
*Einen merkwürdigen und historischen Blickwinkel bieten die Verbrechensverhütungsmaßnahmen, die während der nationalsozialistischen Regierung von den Akademikern analysiert und gelehrt wurden:  Deportation nach Siberien, Vernichtung lebensunwerten Lebens, Vorbeugungshaft, etc.. (Schneickert)


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Alle diese Taktiken werden täglich mehr oder weniger benutzt.  Die Ideen und Grundtheorien, die als Basis liegen, verlieren oft ihre Inhalt wegen der Schwierigkeiten und Zweckmäßigkeiten ihrer Anwendung.
Alle diese Taktiken werden täglich mehr oder weniger benutzt.  Die Ideen und Grundtheorien, die als Basis liegen, verlieren oft ihre Inhalt wegen der Schwierigkeiten und Zweckmäßigkeiten ihrer Anwendung.
[[Kriminalprävention bei Jugendlichen]]


====Kriminologische Relevanz====
====Kriminologische Relevanz====
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  <td> Positivism II (Chicago School, 1920s, 1930s) <td> Social intervention, “if communities were disorganised, they needed organisation.  This meant providing white middle-class surrogate informal social control.”
  <td> Positivism II (Chicago School, 1920s, 1930s) <td> Social intervention, “if communities were disorganised, they needed organisation.  This meant providing white middle-class surrogate informal social control.”
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  <td> Anomie Approach (Merton, 1938) <td> Providing more opportunities for those who aspired to the American Dream; orTo expose the Dream as a myth, and make it more realistic.
  <td> Anomie Approach (Merton, 1938) <td> Providing more opportunities for those who aspired to the American Dream; or to expose the Dream as a [[Myth | myth]], and make it more realistic.
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  <td> Control theory (Hirschi, 1967) <td> 1. Deterrence, either of a general or situational nature; or<br> 2. To strengthen the bonds to significant others through home, school, work andso forth through a range of social policy-type interventions (essentially Chicagoan liberal solution).
  <td> Control theory (Hirschi, 1967) <td> 1. Deterrence, either of a general or situational nature; or<br> 2. To strengthen the bonds to significant others through home, school, work andso forth through a range of social policy-type interventions (essentially Chicagoan liberal solution).
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  <td> Labelling Approach (Lemert, Becker, 1960s) <td> Non-intervention.  Decriminalisation.  Decarceration.
  <td> [[Labeling|Labelling Approach]] (Lemert, Becker, 1960s) <td> Non-intervention.  Decriminalisation.  Decarceration.
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  <td> “City-planning” (Jacobs, 1961) <td> People outside of the criminal justice system were bringing to bear on the crime problem.
  <td> “City-planning” (Jacobs, 1961) <td> People outside of the criminal justice system were bringing to bear on the crime problem.
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  <td> Defensible space (Newman, 1973) <td> Utilising mechanical means of target hardening, and corrective means of mobilising natural social processes of territoriality and surveillance.
  <td> Defensible space (Newman, 1973) <td> Utilising mechanical means of target hardening, and corrective means of mobilising natural social processes of territoriality and surveillance.
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  <td> Routine activity theorie (Felson, 1979) <td> Measures that might be anticipated to change the distribution of routine activities.
  <td> [[Routine activity theory|Routine activity theorie]] (Felson, 1979) <td> Measures that might be anticipated to change the distribution of routine activities.
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  <td> Rational choice theory (Clarke, 1980s) <td> Preventive methodology of seeking to influence the costs and benefits.
  <td> Rational choice theory (Clarke, 1980s) <td> Preventive methodology of seeking to influence the costs and benefits.
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====Literatur====
====Literatur====
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*''Gilling'', Daniel 1997, ''Theories of Crime Prävention'', (???)
*''Gilling'', Daniel 1997, ''Theories of Crime Prävention'', (???)
*''Kaiser'', Günther: „''Verbrechenskontrolle und Verbrechensvorbeugung''“, in Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/ Sack, Fritz/ Schellhoss, Hartmut (Hg.) 1993:  ''Kleines Kriminologisches Wörterbuch'', 3. Völlig neubearb. U. erw. Aufl., Heidelberg, 571-577.
*''Kaiser'', Günther: „''Verbrechenskontrolle und Verbrechensvorbeugung''“, in Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/ Sack, Fritz/ Schellhoss, Hartmut (Hg.) 1993:  ''Kleines Kriminologisches Wörterbuch'', 3. Völlig neubearb. U. erw. Aufl., Heidelberg, 571-577.
*''Lehne'', Werner 2000 „''Aktuelle Präventionskonzepte im Spiegel der kriminologischen Debatte''“.(???)
*''Lehne'', Werner 2002 „''Aktuelle Präventionskonzepte im Spiegel der kriminologischen Debatte''“, in Anhorn, Roland/ Bettinger, Frank (Hrsg.), Kritische Kriminologie und soziale Arbeit, Juventa Verlag, Weinheim und München
*''Popitz'', Heinrich 1968  „''Über die Präventivwirkung des Nichtwissens.  Dunkelziffern, Norm und Strafe''“, J.C.B. Mohr, Tübingen.
*''Popitz'', Heinrich 1968  „''Über die Präventivwirkung des Nichtwissens.  Dunkelziffern, Norm und Strafe''“, J.C.B. Mohr, Tübingen.
*''Schneickert'', Hans 1935  „''Einführung in die Kriminalsoziologie und Verbrechensverhütung''“, Verlag von Gustav Fischer, Jena.
*''Schneickert'', Hans 1935  „''Einführung in die Kriminalsoziologie und Verbrechensverhütung''“, Verlag von Gustav Fischer, Jena.
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*''Vobruba'', Georg 1983 „''Prävention durch Selbskontrolle''“, in: Wambach, Manfred Max (Hrsg.) Der Mensch als Risiko, suhrkamp, Frankfurt a.M., 29-47.
*''Vobruba'', Georg 1983 „''Prävention durch Selbskontrolle''“, in: Wambach, Manfred Max (Hrsg.) Der Mensch als Risiko, suhrkamp, Frankfurt a.M., 29-47.
*''Völker'', Wolfgang 1987 „''Immer lustig und vergnügt.  Einwände gegen den Präventiven Blick''“, in: Widersprüche 25, 7-14.
*''Völker'', Wolfgang 1987 „''Immer lustig und vergnügt.  Einwände gegen den Präventiven Blick''“, in: Widersprüche 25, 7-14.
Weitere Informationen zum Stichwort Kommunale Kriminalprävention finden Sie im Kriminologie-Lexikon ONLINE unter [http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=K&KL_ID=99 Kommunale Kriminalprävention].
[[Kategorie:Grundbegriffe der Kriminologie]]
Anonymer Benutzer