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Nils Christie (*24.02.1928 in Oslo/ Norwegen) ist erimitierter Professor für Kriminologie an der juristischen Fakultät der Universität Oslo in Norwegen. Er gehört zu den frühen Denkern der Kritischen Kriminologie und gilt neben dem norwegischem Rechtssoziologen Thomas Mathiesen und dem Niederländer Louk Hulsman (Professor für Strafrecht und Kriminologie) als einer der bedeutendsten Theoretiker des kriminalsoziologischen Abolitionismus.


Leben

Nils Christie wurde am 24.02.1928 in Oslo/ Norwegen geboren. Bereits in jungen Jahren erfuhr er die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche Norwegens durch die Besetzung der Nazis und deren Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Christie machte die Erfahrung, dass Wertebilder und Wahrnehmungsmuster von Handlungen keine universale Gültigkeit besitzen, sondern sich mit dem Wechsel von Bezugssystemen ebenfalls verändern.

Im Kontext der Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse und der Verurteilung von Kollaborateuren, wurde der junge Student Christie von dem damals regierungsnah denkenden Johs. Andenaes, Professor für Strafrecht, und Andreas Aulie, Generalstaatsanwalt, um eine fachliche Stellungnahme gebeten. Gespräche mit ehemaligen Aufsehern der nord- norwegischen Konzentrationslager führten ihn zu der Feststellung ihrer Gewöhnlichkeit, und nicht ihrer Abnormalität. Er begann aus einer gesellschaftsanalytischen Perspektive die Mechanismen zu untersuchen, in denen die Misshandlungen und Tötungen der KZ- Häftlinge, begründet waren. – eine Untersuchung, die seine Perspektive auf das Kriminalitätskonzept auch noch später beeinflusst.

Nach seinem Soziologiestudium an der Universität Oslo ging Nils Christie als Research Fellow mit einem Rockefeller-Stipendium nach Harvard und Berkeley, hielt später auf fast allen Kontinenten Vorlesungen und Vorträge und verfasste zahlreiche Schriften insbesondere zum Umgang mit abweichendem Verhalten. Unter anderen kehrte er als Professor der Kriminologie nach Berkeley zurück, um dort selbst zu unterrichten.

Seit den 60er Jahren unterhält Nils Christie einen engen Kontakt zu den Camphill- Gemeinschaften in Norwegen, insbesondere zu Vidarasen. Die Erfahrungen seiner Aufenthalte in Vidarasen werden wiederholt Bestandteil seiner Schriften und Vorträge, auch in Vidarasen selbst. Die soziale Organisation u.a. in diesen Gemeinschaften dient ihm als Vorbild im Umgang mit abweichendem Verhalten.

Nils Christie erhielt Ehrendoktortitel an den Universitäten Kopenhagen/ Dänemark, Stockholm/ Schweden und Sheffield/ England. Zuletzt unterrichtet er an der juristischen Fakultät der Universität Oslo.

Derzeit beschäftigt er sich mit der Fertigstellung seines nächsten Buches und setzt sich für den Abzug der Norweger aus Albanien ein.

Werk

Christies Position in seinem Buch "Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft?" ist nicht die einer vollständigen Abschaffung des Strafrechts (Abolitionismus), sondern ein Minimalismus, der "horizontale Gerechtigkeit" im Sinne der Streitschlichtung unter Gleichberechtigten vorzieht und die "vertikale Gerechtigkeit" der Strafe nur im Notfall vorsieht. Vorrang vor der Strafe sollen auf jeden Fall auch folgende fünf Maximen haben:

  • Freundlichkeit
  • Tötungsverbot
  • Folterverbot
  • Schadenzufügungsverbot
  • Vergebungsgebot.

Wie allen radikalen Strafrechtskritiken wird auch Nils Christie der Vorwurf der Realitätsferne gemacht.

Christie betont eine unbedingte Abkehr von herkömmlichen Bestrafungsritualen und Bestrafungsinstitutionen, wie sie auch in Industrienationen üblich sind, und stellt dieser –fast klingt´s wie eine Parallele zur vormals lebhaft diskutierten gemeindenahen Psychiatrie- Beobachtungen gegenüber, die er aus seiner Kenntnis des sozialen Lebens in nordeuropäischen Ländern schöpft. Christie selbst ist Norweger und wenn man Skandinavien etwas kennt, hat man einen Eindruck von der Sicht der Skandinavier auf die Welt: Wäre sie nur so gut in intakt wie in Skandinavien, wäre vieles besser.

Vor dem Hintergrund seines Vergleichs der Inhaftierungsquoten ausgewählter Länder auf allen Kontinenten entwirft Christie sein Bild vom Strafvollzug als dem Herrschaftsinstrument des Staates schlechthin. Strafvollzug sieht er in der fortgesetzten Tradition von kolonialen und/oder von Entrechtung geprägten Regimes. Vor diesem historischen Hintergrund erläutert Christie, weshalb die nordeuropäischen Länder signifikant weniger Menschen einsperren als z. B. die USA, Russland oder lateinamerikanische und südeuropäische Staaten.

Sein Bild von gemeindenahen, kleinen Einrichtungen, die mit engmaschiger sozialer Einbindung Resozialisierung sicherstellen, wirkt für ländlich geprägte Räume in Norwegen passend. Für hochverdichtete Industriestaaten Mitteleuropas lesen sich solche Konzepte eher gewöhnungsbedürftig, wirken fremd und passen nicht in unser Bild von Strafvollzugs- oder Maßregelvollzugseinrichtungen. Fremd bleibt seine Terminologie: Schwere Straftaten, die anderen Menschen schweren Schaden zufügen, heißen bei ihm „unangemessenes Verhalten“, Terrorakte sind „nicht hinnehmbares Verhalten“ usw. Strafe möchte Christie darauf begrenzen, den Täter ausdrücklich zu beschämen, ihn sodann aber sogleich wieder in die Gemeinschaft aufnehmen; Gefängnisaufenthalte sollten kurz sein und danach sollte der Verurteilte vor dem Gefängnistor am besten mit einem Blasorchester empfangen werden, um ihm zu zeigen, dass er nunmehr wieder vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist, die sich darauf freut, ihn wieder zu in ihren Reihen aufzunehmen.

Bestrafung hat lt. Christie eine gesellschaftliche und zugleich eine politische Funktion; Bestrafung geht einher mit Ausgrenzung, die anschließend überwunden werden muss, sollen ihre Konsequenzen geheilt werden; etablierte Formen von Bestrafung sind in diesem Lichte zu überdenken.

Literatur

  • Christie, Nils (2005) Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft? München: C. H. Beck.
  • Christie, Nils (1995) Kriminalitätskontrolle als Industrie. Auf dem Weg zu Gulags westlicher Art. (Forschungen zur Kriminalpolitik, Band 10, hrsg. v. Johannes Feest und Karl F. Schumann) Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft
  • Kiesow, Rainer Maria (2005) Verbrechen gibt es nicht. Nils Christie heilt die Welt mit Freundlichkeit. Süddeutsche Zeitung v. 29. Juli

Weblinks