Nils Christie (*1928) ist ein norwegischer Kriminologe, der als Professor an der juristischen Fakultät der Universität Oslo lehrte und zusammen mit Thomas Mathiesen und Louk Hulsman zu den bedeutendsten Vertretern des Abolitionismus gezählt wird. In seinen Veröffentlichungen kritisiert er die Institutionen der Strafrechtspflege (Strafe, Strafrecht, Strafprozess, Strafvollzug) und plädiert für alternative Formen der Konfliktregelung.

Christies Position in seinem Buch "Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft?" ist nicht die einer vollständigen Abschaffung des Strafrechts (Abolitionismus), sondern ein Minimalismus, der "horizontale Gerechtigkeit" im Sinne der Streitschlichtung unter Gleichberechtigten vorzieht und die "vertikale Gerechtigkeit" der Strafe nur im Notfall vorsieht. Vorrang vor der Strafe sollen auf jeden Fall auch folgende fünf Maximen haben:

  • Freundlichkeit
  • Tötungsverbot
  • Folterverbot
  • Schadenzufügungsverbot
  • Vergebungsgebot.

Wie allen radikalen Strafrechtskritiken wird auch Nils Christie der Vorwurf der Realitätsferne gemacht.

Christie betont eine unbedingte Abkehr von herkömmlichen Bestrafungsritualen und Bestrafungsinstitutionen, wie sie auch in Industrienationen üblich sind, und stellt dieser –fast klingt´s wie eine Parallele zur vormals lebhaft diskutierten gemeindenahen Psychiatrie- Beobachtungen gegenüber, die er aus seiner Kenntnis des sozialen Lebens in nordeuropäischen Ländern schöpft. Christie selbst ist Norweger und wenn man Skandinavien etwas kennt, hat man einen Eindruck von der Sicht der Skandinavier auf die Welt: Wäre sie nur so gut in intakt wie in Skandinavien, wäre vieles besser.

Vor dem Hintergrund seines Vergleichs der Inhaftierungsquoten ausgewählter Länder auf allen Kontinenten entwirft Christie sein Bild vom Strafvollzug als dem Herrschaftsinstrument des Staates schlechthin. Strafvollzug sieht er in der fortgesetzten Tradition von kolonialen und/oder von Entrechtung geprägten Regimes. Vor diesem historischen Hintergrund erläutert Christie, weshalb die nordeuropäischen Länder signifikant weniger Menschen einsperren als z. B. die USA, Russland oder lateinamerikanische und südeuropäische Staaten.

Sein Bild von gemeindenahen, kleinen Einrichtungen, die mit engmaschiger sozialer Einbindung Resozialisierung sicherstellen, wirkt für ländlich geprägte Räume in Norwegen passend. Für hochverdichtete Industriestaaten Mitteleuropas lesen sich solche Konzepte eher gewöhnungsbedürftig, wirken fremd und passen nicht in unser Bild von Strafvollzugs- oder Maßregelvollzugseinrichtungen. Fremd bleibt seine Terminologie: Schwere Straftaten, die anderen Menschen schweren Schaden zufügen, heißen bei ihm „unangemessenes Verhalten“, Terrorakte sind „nicht hinnehmbares Verhalten“ usw. Strafe möchte Christie darauf begrenzen, den Täter ausdrücklich zu beschämen, ihn sodann aber sogleich wieder in die Gemeinschaft aufnehmen; Gefängnisaufenthalte sollten kurz sein und danach sollte der Verurteilte vor dem Gefängnistor am besten mit einem Blasorchester empfangen werden, um ihm zu zeigen, dass er nunmehr wieder vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist, die sich darauf freut, ihn wieder zu in ihren Reihen aufzunehmen.

Bestrafung hat lt. Christie eine gesellschaftliche und zugleich eine politische Funktion; Bestrafung geht einher mit Ausgrenzung, die anschließend überwunden werden muss, sollen ihre Konsequenzen geheilt werden; etablierte Formen von Bestrafung sind in diesem Lichte zu überdenken.


Literatur

  • Christie, Nils (2005) Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft? München: C.H.Beck.
  • Kiesow, Rainer Maria (2005) Verbrechen gibt es nicht. Nils Christie heilt die Welt mit Freundlichkeit. Süddeutsche Zeitung v. 29. Juli

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